„Ich aber sage euch…“

Predigt über Matthäus 5,38‑48 zum 21. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn heutzutage jemand eine völlig neue und abwegige Idee in der Öffentlich­keit äußert, dann erregt er damit meistens Aufsehen. Viele werden ihn sogar bewundern, denn Ideen­reichtum und Abweichung vom Üblichen sind heute gefragt. Zur Zeit Jesu war das anders. Nur der, der sich an alt­hergebrachte Lehren und Gedanken hielt und der seine eigenen Ideen danach aus­richtete, galt etwas. Wenn die Schrift­gelehrten damals über Gott redeten, dann ging das meistens so: Rabbi Sowieso hat zu diesem Schriftwort jenes gesagt, und daraus folgt, dass wir dies und das tun müssen. Jesus selbst hielt sich jedoch nicht an diese Gewohnheit. Wenn Jesus lehrte, bemühte er nicht die Autorität der Älteren, sondern sprach aus eigener Vollmacht. Mehr als einmal wird in den Evangelien berichtet: Die Leute entsetzten sich über Jesu Lehre, weil er mit Vollmacht lehrte und nicht wie die Schrift­gelehrten. In kaum zu über­bietender Schärfe tat Jesus das in der Berg­predigt, in den sogenannten Antithesen, von denen wir eben zwei gehört haben. Da besaß Jesus nach der Meinung der Damaligen die Frechheit zu sagen: „Das ist bisher gesagt worden… Ich aber sage euch…“

Liebe Brüder und Schwestern, wir wissen, dass Jesus sich das erlauben konnte. Als Gottes Sohn besaß er die volle Autorität, geistliche Lehren neu zu formulieren und den Menschen völlig neue Weisungen kund zu tun. Allerdings hat er das nur scheinbar getan; in Wahrheit forderte er nichts anderes, als was Gott von Anbeginn forderte: nämlich dass wir Menschen uns unter­einander lieb haben sollen. Aufsehen-erregend war jedoch, wie radikal diese Liebe sein soll. Jesus sagte: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel… Liebet eure Feinde… Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Hörst du es, der du ein Jünger Jesu sein willst? So solltest du sein! So möchte Jesus dich haben: Bedingungs­los liebend, auf den eigenen Vorteil ver­zichtend, selbst deinen Feinden in herzlicher Liebe zugetan! Von unserem gesunden Menschen­verstand her regt sich da Widerstand. Ja, wir müssen vor diesem Anspruch unseres Herrn kapitu­lieren. Wir sind geneigt zu sagen: Lieber Herr Jesus, was du da sagst, das geht nicht; und außerdem kann ich es nicht. Es scheint wirklich nicht zu gehen: Wenn die Mehrzahl der Menschen so handeln würde, wie Jesus es hier sagt, dann würden bald die bösen und gewissen­losen Leute alles in der Hand haben; dann würde sich die Bosheit ungehindert ausbreiten. Die Bösen würden dann gern noch einmal zuschlagen, wenn ihnen die andere Backe hingehalten wird. Die Diebe würden gern kräftig zugreifen, wenn man es ihnen so leicht macht. Nein, es geht wirklich nicht, man kann mit der Bergpredigt keine Gesell­schaft zum Besseren erziehen. Alle, die das bisher versucht haben, mussten bitter erfahren, dass das eine Utopie ist. Nein, Herr Jesus, es geht nicht, und auch wenn es ginge: Ich kann es nicht. Wenn mich jemand maßlos geärgert hat, dann kann ich ihn nicht lieben, sondern dann habe ich eine Wut im Bauch und dann möchte ich ihm am liebsten eins auswischen. Natürlich werde ich ihn nicht brutal zusammen­schlagen, dazu bin ich zu gut erzogen – aber ihn lieb haben und ihn gewähren lassen, zu meinem per­sönlichen Nachteil? Nein, da kann ich nicht über meinen Schatten springen.

Liebe Brüder und Schwestern, wir kapitu­lieren vor diesen Worten Jesu. Wir sagen: Das geht nicht und das kann ich nicht. Dabei erkennen wir: Wir leben als Sünder in einer Welt, die von der Sünde gezeichnet ist. „Vollkommen sein wie der Vater im Himmel“, das liegt uns un­erreichbar fern. Wir sind so ganz anders als Gott selbst und auch so ganz anders, als Gott uns haben will. Wir sind so unheilig, so lieblos, so selbst­süchtig. Wir haben keinen Anspruch auf Lohn im Himmel, wenn die Feindes­liebe das ist, was im Himmel belohnt wird. Unsere Kapitu­lation vor diesen Worten Jesu ist letztlich die Kapitu­lation des Sünders vor Gottes Gesetz.

Das heißt nun aber nicht, dass wir diese Worte achtlos beiseite lassen sollten. Wir sollten aber sehr genau auf den sehen, der sie sagt. Das ist ja der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Heiligen Schrift: dass wir auf Jesus sehen. Denn der es sagte, der so Schweres von seinen Jüngern forderte, der hat es selber getan! Er hat es getan und dabei das Kreuz erfahren. Er hat es an unserer Statt getan und so für uns den himmlischen Lohn erworben, der uns nach diesen Worten so un­erreichbar zu sein scheint. Er hat es getan: Er hat sich nicht gewehrt, als man ihn anfeindete, schlug und folterte. Er hat sich von niemanden abgewandt, der ihn bat. Er hat auch seine Feinde geliebt und für sie gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34). Er war in seinen Erdentagen vollkommen, wie sein Vater im Himmel vollkommen ist. Ja, Jesus hat für uns das alles erfüllt, was er selbst forderte. Und so öffnet uns dieses harte Gesetzes­wort die Augen für das Evangelium: Da ist der, der die unselige Ver­strickung der Sünde durch­brochen hat! Da ist der, bei dem die Liebe vollkommen ist! Da ist der, der unsere Sünden­strafe getragen hat! Da ist der, der uns den Lohn des ewigen Lebens erworben hat! Da ist der, der uns zu Jüngern und Kindern Gottes gemacht hat! Noch einmal: Er hat es selber getan, was er forderte, er hat es für uns getan, und er hat dabei das Kreuz erfahren.

Wenn wir Jesus so als unsern Heiland erkennen und seine vollkommene Liebe am eigenen Leibe erfahren, dann werden wir die Worte der Bergpredigt nicht resigniert abtun. Vielmehr werden wir sie in einem neuen Licht sehen. Wenn wir an Jesus glauben, dann sind wir ja seine Jünger und Gottes Kinder, und dann werden wir diese Worte auf uns beziehen wollen. Wir werden es aus Dankbarkeit tun, werden uns gern bemühen. Dabei brauchen wir an diesen hohen Worten nicht mehr zu zerbrechen. Auf der einen Seite sollten wir uns nicht einbilden, mit ein paar ver­nünftigen Lebens­regeln den Willen Gottes erfüllen zu können, wie es die Schrift­gelehrten damals meinten. Die geforderte Vollkommen­heit ist eine Ziel­vorstellung und nicht etwas, das wir schon erreicht hätten. Auf der anderen Seite brauchen wir nicht zu ver­zweifeln, wenn wir uns noch so fern von diesem Ziel sehen. Denn wir brauchen damit nicht mehr Gottes Bedingung für das ewige Leben zu erfüllen; Jesus hat ja alles erfüllt.

Also, liebe Gemeinde: Ganz dankbar und fröhlich dürfen wir nun mit Gottes Hilfe versuchen, in der Liebe zu leben – in der Liebe zu allen Menschen, wie Jesus es hier gesagt hat. Wir brauchen nicht vollkommen zu sein, aber wir dürfen vollkommen sein wollen! So wollen wir nicht nur unsere Freunde und Verwandten lieben, nicht nur unsere Mitgemeindeglieder und wer uns sonst noch nahe steht, sondern bedingungs­los alle! Auch den Migranten, auch den Land­streicher, auch den Hoch­näsigen, auch den Un­freundli­chen, auch den Hinter­hältigen, auch den Hab­gierigen! Und wenn uns das menschlich schwer­fällt, so haben wir in diesem Wort Jesu ja eine Hilfe: Seht auf euren Vater im Himmel, sagt Jesus, der zeigt doch auch seine Schöpfer­güte allen Menschen; nehmt euch ein Beispiel an ihm. Und wenn es euch schwer­fällt, eure Feinde zu lieben: Betet für sie! Ihr werdet sehen, wie sich in der Fürbitte all euer Groll und eure Wut in Luft auflösen, wie ihr sie verstehen und lieben lernt. Und wir wollen auf das Beispiel unseres Herrn Jesus Christus selbst sehen, wie der sich für alle Menschen aufgeopfert hat, wie er verzichtet hat: auf den Gebrauch seiner göttlichen Allmacht, auf Besitz, auf Ehre und auf körperliche Un­versehrt­heit bis hin zum schmach­vollen Tod am Kreuz. Ja, wenn wir das alles bedenken, dann kommen wir dem auf die Spur, was Liebe ist.

Freilich: Auch die Feindes­liebe darf nicht zum Schema werden. Die Feindes­liebe darf nicht gegen die Nächsten­liebe ausgespielt werden. Wenn mir Nächste zum Schutz anbefohlen sind, dann muss ich unter Umständen Feinde mit Gewalt von ihnen fernhalten. Darum muss es auch eine Polizei­gewalt geben und eine richter­liche Gewalt. Man kann mit der Bergpredigt keinen Staat regieren. Aber auch einer, der Staats­gewalt ausübt, kann in seinem Amt die Menschen lieb haben. Oder wer von einem Dieb beraubt wird, den wird die Liebe zur Allgemein­heit wohl dazu drängen, etwas gegen ihn zu unternehmen und ihn anzuzeigen. Als Christ braucht er jedoch deswegen den Dieb nicht zu hassen; ja, er kann ihn später sogar im Gefängnis besuchen und freundlich mit ihm reden, um ihm zu zeigen: Ich habe dich trotzdem lieb.

Allerdings: Wenn wir beginnen, so zu leben, dann müssen wir auf das Kreuz gefasst sein. Wer sich ohne Gegenwehr auf die rechte Backe schlagen lässt, der muss darauf gefasst sein, dass der andere die Gelegenheit nutzt und auch noch auf die andere Backe schlägt. Wir sind als Jünger Jesu nicht nur zur Feindes­liebe aufgerufen, sondern auch zur Kreuzes­nachfolge. Aber wir können diesen Weg fröhlich und getrost gehen. Wir wissen ja, wer ihn voran­gegangen ist. Wir wissen ja, wer uns beisteht und Kraft gibt, um unsere Feinde zu lieben – wenn es sein muss, auch über­menschliche Kraft. Wir haben dabei das Ziel vor Augen, auf das wir zugehen. Wir wissen, welcher Gnadenlohn am Ende auf uns wartet: das Reich, wo alle unter dem einen König nur noch in voll­kommener Liebe leben werden. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1991.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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