Wider das Leistungsprinzip

Predigt über Matthäus 20,1‑16 zum Sonntag Septuagesimä

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Überall fragt man heute nach dem Preis-Leistungs-Verhältnis, denn niemand will beim Einkaufen zuviel bezahlen. Auch beim Verkaufen von Arbeits­kraft herrscht das Leistungs­prinzip: Gute Arbeit verdient guten Lohn, aber „wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“, wie es in der Bibel heißt (2. Thess. 3,10). Das Leistungs­prinzip ist etwas ganz Normales. Bei den Kindern fängt es an: Viele können sich mit häuslichen Arbeiten ihr Taschengeld aufbessern, und wo Geschwister sind, da achten sie gegenseitig peinlich genau auf das Preis-Leistungs-Verhältnis. In der Schule gibt es gute Zensuren für gute Leistungen, jedenfalls sollte das so sein. Im Arbeits­leben und in der Wirtschaft ist das Leistungs­prinzip sowieso der wichtigste Grundsatz. So darf es uns nicht verwundern, wenn auch der Jünger Petrus seinen Herrn und Meister einmal nach dem Preis-Leistungs-Verhältnis der Jünger­schaft fragte: „Wir haben alles verlassen und sind dir nach­gefolgt; was wird uns dafür gegeben?“ Im Verlauf seiner Antwort erzählt Jesus das Geichnis, das wir heute als Evangeliums­lesung gehört haben, das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.

„Also mit dem Himmelreich ist das so ähnlich wie mit einem Gutsherrn, der sich morgens auf den Weg machte, um Tagelöhner für seinen Weinberg ein­zustellen“, beginnt Jesus. Und dann folgt die Geschichte, die jedem Gewerkschafts­funktionär die Zornesröte ins Gesicht treiben muss. Der Gutsherr findet kurz nach Sonnen­aufgang auf dem Marktplatz einige arbeits­willige Männer. Nach kurzer Tarif­verhandlung einigt er sich mit ihnen auf einen Silber­groschen Tages­verdienst, wobei die Arbeitszeit selbst­verständ­lich bis Sonnen­untergang läuft, bis etwa sechs Uhr abends. Dem guten Mann fehlen aber immer noch Arbeiter, und so stellt er weiter Tagelöhner vom Marktplatz an, die er da jeweils um neun Uhr, um zwölf Uhr um 15 Uhr und um 17 Uhr findet. Mit ihnen verhandelt er nicht über den Lohn, sondern sagt ihnen einfach: „Ich will euch geben, was recht ist.“ Die Männer nehmen das Angebot an, sind sie doch froh, überhaupt noch Arbeit gefunden zu haben an diesem Tag. Bei der Abrechnung um 18 Uhr gibt es dann die große Über­raschung: Die Letzten, die nur eine Stunde gearbeitet haben, bekommen den vollen Tageslohn, einen ganzen Silber­groschen! Aber die anderen bekommen nicht mehr. Verständ­lich, dass die ersten murren. Wie würde sich heute ein An­gestellter verhalten, wenn der Chef einem anderen für nur zehn Prozent der Arbeitszeit denselben Lohn geben würde? Wenn der eine fünf Euro Stundenlohn bekäme und der andere, der dasselbe leistet, 50 Euro?

„Mit dem Himmelreich ist das so ähnlich wie mit diesem Gutsherrn“, beginnt das Gleichnis – so ähnlich wie mit diesem Gutsherrn, der das Leistungs­prinzip völlig über den Haufen wirft. Wer bereits bei diesem Anfang gut zuhört, der hört heraus, was das Ent­scheidende bei der Geschichte ist: Gott selbst! Es geht ums Himmel­reich, um das Reich Gottes, also um Gottes Art und Weise zu herrschen. Der Guts­besitzer im Gleichnis, das ist niemand anderes als Gott. Das Gleichnis sagt also kurz und bündig: Wo Gott herrscht, da wird das Leistungs­prinzip über den Haufen geworfen, da sind Preis-Leistungs-Betrach­tungen fehl am Platz. Auch die Überlegung des Petrus, was denn die Jesus-Nachfolge einbringt, hat da nichts zu suchen. Im Reich Gottes geht es allein darum, auf Gott zu schauen und auf sein wunderbares Tun. Das ist auch das Wichtigste, wenn wir das Gleichnis richtig deuten wollen. Am wichtigsten ist die Frage: Was tut Gott?

Ja, was tut er denn nach diesem Gleichnis?

Erstens stellt Gott an. Er ruft Menschen in seinen Weinberg, in seinen Dienst. Wie der Hausherr zu den Tagelöhnern auf dem Marktplatz sagt: „Kommt und arbeitet in meinem Weinberg“, so sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Kommt und folgt mir nach!“ Auch uns gilt dieser Ruf. Auch uns trifft Gottes Wort, immer wieder: „Tut Buße! Glaubt an das Evangelium! Werdet Jünger Jesu!“ Diesem Ruf zu folgen ist eine Grund­voraus­setzung des Gleich­nisses. Da ist nicht die Rede von Männern, die auf dem Marktplatz fleißig Karten spielen und dem Gutsherrn über die Schulter zurufen: „Tut uns leid, wir haben keine Zeit!“ Da ist nicht die Rede von Männern, die ihm gelangweilt entgegnen: „Im Weinberg arbeiten? Das ist uns viel zu an­strengend; wir wollen hier unser Leben genießen!“ Es ist nur die Rede von Männern, die dem Ruf folgen. Kein Wunder: Es ist ja ein Gleichnis für Jünger, für Menschen also, denen Gottes Wort etwas bedeutet. Wir tun gut daran, diese Grund­voraus­setzung eines Christen­menschen zu erfüllen: nämlich zu hören, wenn der Herr des Weinbergs ruft; wenn er zum Glauben ruft und in sein Reich ruft.

Erstens stellt Gott an, und zweitens teilt er aus. Was teilt er aus? Einen Silber­groschen, für jeden einen ganzen. Wieviel ist das? Es ist die Summe, von der ein Tagelöhner zur damaligen Zeit für einen Tag mit seiner Familie leben konnte. Verstehen wir jetzt, was der Gutsherr meint, als er den ärgerlichen Ersten fragt: „Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin“? Gütig ist der Herr: Er gibt jedem das, was er für diesen Tag braucht, nicht unbedingt das, was er verdient hat. Aus Güte wirft er das Leistungs­prinzip über den Haufen. Er will, dass auch die Letzten noch leben können. Wer wollte ihn um dieser Güte willen angreifen? Dieser Gutsherr ist weniger ein Arbeitgeber als vielmehr ein Sozialamt, noch dazu ein sehr gütiges, freund­liches, das nicht erst endlose Formulare ausfüllen lässt, sondern freigiebig austeit, was not ist. Ja, so ist Gott in seiner großen väterlichen Güte und Barmherzig­keit. An jedem Tag unseres Lebens schenkt er uns das, was wir brauchen. Und wenn unsere Erdentage abgelaufen sind, schenkt er uns die ewige Seligkeit. Er schenkt es allen, die zu seinem Reich gehören, allen, die in seinem Weinberg arbeiten, egal, wieviel sie arbeiten.

Damit ist das Ent­scheidende aus diesem Gleichnis gesagt. Nur eins bereitet mir noch Unbehagen: die Missgunst derer, die von Anfang an gearbeitet haben. Als ich dieses Gleichnis für die Predigt durch­dachte, da stellte sich in meinem Kopf ein Gespräch ein, ein Gespräch zwischen einem heutigen Christen und Gott, und das geht ungefähr so. Der Christ sagt: „Gott, ich habe mal nach­gerechnet, was mir der Glaube wert ist, und ich denke, ich schneide da nicht schlecht ab. Wie es gute christliche Sitte ist, gebe ich zehn Prozent von meinem Einkommen für kirchliche Zwecke. Das sind jährlich über tausend Euro! Bei einer geschätzten Lebens­arbeitszeit von vierzig Jahren macht das immerhin fünfzig­tausend Euro. Auch mein Einsatz an Freizeit ist be­trächtlich. Etwa 60 Gottes­dienst­besuche im Jahr, mit An- und Abfahrt je zwei Stunden, dazu wöchentlich im Schnitt eine Gemeinde­veranstal­tung von zwei Stunden plus eine halbe Stunde tägliche Andachts­zeit macht jährlich insgesamt 400 Stunden, im ganzen Christen­leben wohl 25.000 Stunden, das sind fast drei volle Jahre, un­unterbro­chen! Damit liege ich weit über dem Durch­schnitt der Christen­heit in unserem Land und stelle auch noch die meisten anderen Gemeinde­glieder in den Schatten. Das müsstest du doch eigentlich mit ent­sprechendem irdischen Segen lohnen und mit einem guten, gesicherten Platz im Himmel, oder?“ Gott antwortet: „Lieber Freund, ich gebe dir, was du nötig hast. Aber was soll dieses Vergleichen mit anderen? Was soll dieses Leistungs­prinzip? Du weißt doch: Das hat in meinem Reich nichts zu suchen. Außerdem irrst du gleich doppelt. Du denkst, du gleichst dem Arbeiter, der bereits früh in meinem Weinberg war. Ich will dir einen zeigen, der eher da war: zum Beispiel diesen armen Christen aus dem Sudan. Er hat wirklich des Tages Hitze getragen, die Hitze der Christen­verfolgung nämlich, die dir erspart bleibt. Er hat weite, be­schwer­liche Fußwege zu den Gottes­diensten auf sich genommen; er hat mehr Freizeit drangegeben als du. Seine Gaben für kirchliche Zwecke reichen zwar nicht an deine heran, aber er hatte stets eine offene Hand für die Armen und Not­leidenden unter seinen Lands­leuten, er hat geopfert und seinen eigenen kargen Lebens­unterhalt geteilt, während du von deinem Überfluss abgegeben hast. Müsste es ihm dann nicht viel besser gehen als dir? Hat er nicht den besseren Platz im Himmel verdient? Aber wie gesagt: Es geht nicht ums Leistungs­prinzip. Denn weder du hast den Himmel und meinen Segen verdient noch er. Das kostet viel, viel mehr. Das hat das Blut meines lieben Sohnes gekostet, der gestorben ist für ihn und für dich und für alle, die auch zu meinem Reich gehören, egal, wieviel sie leisten. Das ist meine Liebe und Güte, dass ich euch den Himmel und meinen Segen gebe, ohne dass es auch nur einer verdient hätte. Mein Sohn hat es alles für euch verdient.“

Liebe Gemeinde, merken wir nun, wie gut Gott es mit uns meint? Dass er die Leistung nicht lohnt, ist Liebe! Würde bei Gott das Leistungs­prinzip gelten, so wäre es schlecht um uns bestellt. Darum lasst uns von ihm lernen und in seiner Kirche auch nicht mehr von Leistung reden, vor allem nicht ver­gleichen. Ich kannte einen Pastor, der hat mir ein paarmal von der „Sünde des Vergleichs“ erzählt. Mit diesem Gleichnis verstehe ich, was er meinte. Es darf in der Kirche nicht darum gehen, die Leistungs­fähigkeit oder Frömmigkeit von Gemeinde­gliedern oder Pastoren miteinander zu ver­gleichen. Weg mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis aus der Kirche! Natürlich sollen wir den Bruder oder die Schwester ermahnen, wenn sie nachlässig werden, aber dazu brauchen wir keinen Vergleich und keine Leistungs­norm. Worauf es letztlich allein ankommt, können wir an dem Gleichnis wunderschön ablesen, an dem Wichtigsten im Gleichnis, an Gott, dem Hausherrn: Erstens wollen wir uns von ihm rufen lassen – zur Buße, zum Glauben, zur Arbeit in seinem Weinberg. Wir wollen ihm mit unserem ganzen Leben dienen und zu seiner Ehre leben, nicht nur mit ab­gemessenen Kirch­beiträgen und Freizeit­stunden. Das ganze Leben sei ein Gottes­dienst! Jeder tue es, so gut er kann, mit großer oder mit kleiner Kraft. Zweitens aber wollen wir uns von Gott beschenken lassen mit dem Silber­groschen. Wir haben ihn nicht verdient und können ihn auch nicht verdienen. Aber das ist ja gerade das Wunderbare: Auch der Schwache und Geringe, auch der, der erst spät zum Reich Gottes findet, braucht deswegen nicht traurig zu sein. Gott schenkt ihm ja alles, was er nötig hat: Seinen Segen Tag für Tag, und nach den Erdentagen die ewige Seligkeit. Aus lauter väter­licher, göttlicher Güte und Barmherzig­keit – die in Jesus Christus Fleisch geworden ist. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1991.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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