Gottes Gesetz braucht keine Ausführungs­bestimmungen

Predigt über Matthäus 15,1‑9 zum 21. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Die Zehn Gebote bestehen aus 103 Wörtern. Eine EU-Verordnung über den Import von Karamell­erzeugnissen besteht aus 26.911 Wörtern. Was sehen wir daran? Wir sehen: Gott hat uns Menschen mit wenigen klaren und wichtigen Worten den rechten Lebensweg gewiesen. Wir Menschen dagegen neigen dazu, selbst für neben­sächliche Dinge wortreiche und spitz­findige Ausführungs­bestimmungen zu erstellen. Dabei wird auch vor Gottes Wort nicht Halt gemacht: Immer wieder haben Menschen versucht, durch umfang­reiche Menschen­gebote Gottes Gesetz in den Griff zu bekommen und auf diese Weise gott­gefälliges Leben bis in die Einzel­heiten hinein zu ordnen.

So war es schon bei den Juden vor der Zeiten­wende. Sie begnügten sich nicht mit dem, was Gott ihnen durch Mose kundgetan hatte, sondern stellten spitz­findige Satzungen für das religiöse Leben auf. Zum Beispiel die Satzung, dass man jedesmal vor dem Essen die Hände waschen muss. Dabei ging es den Juden nicht um Hygiene oder Tisch­manieren. Vielmehr meinten sie, mit un­gewaschenen Händen zu essen sei eine große Sünde. Diese Satzung hielten die Pharisäer Jesus und seinen Jünger anklagend vor, wie wir eben gehört haben. Jesus ging in seiner Antwort auf ein weiteres Menschen­gebot der Juden ein. Es besagte: Wer sein Geld als Opfergabe für den Tempel weiht, darf es zu nichts anderem mehr verwenden, auch wenn seine alten Eltern deswegen Not leiden müssen.

Die Kirche im Mittelalter hatte ebenfalls ihre besonderen Menschen­satzungen und eigen­tümlichen Ausführungs­bestimmungen zu Gottes Geboten. Ein paar Beispiele: In der Fastenzeit, also in den Wochen vor Ostern, durfte niemand Fleisch oder Butter essen. Und den Mönchen und Nonnen wurde bis ins Kleinste der Tagesablauf vor­geschrieben. Man befahl ihnen, was sie wann zu beten hatten; auch, wann sie schweigen mussten und wann sie reden durften.

Sogar in der luthe­rischen Kirche gab es früher spitz­findige Ausführungs­bestimmungen zu Gottes Geboten, auch in den luthe­rischen Frei­kirchen. Da hieß es zum Beispiel: Ein Christ darf nicht Karten spielen, nicht tanzen und nicht ins Kino gehen. Und es ist noch gar nicht so lange her, da meinte man, mit der Würde des Heiligen Abendmahls vertrage sich nur schwarze Kleidung.

Und wie sieht es in der Gegenwart aus? Es scheint so, als seien wir heute toleranter. Die Menschen­gebote von damals erscheinen uns recht fremdartig, vielleicht sogar lächerlich. Mündiges Christsein ist heute gefragt, wo jeder seine Lebensweise in eigener Regie gestaltet. Ja, heute neigt man eher dazu, das Kind mit dem Bade aus­zuschütten: Da werden nicht nur Menschen­satzungen zurück­gewiesen, sondern sogar die göttlichen Gebote selbst in Frage gestellt. Wie steht es denn zum Beispiel heute mit dem 4. Gebot, das Jesus in unserem Abschnitt nennt? Sind wir einhellig der Meinung, dass Kinder ihren Eltern immer gehorchen sollen, und zwar ohne Widerrede? Ist es uns ein wichtiges Anliegen, dass erwachsene Kinder mit Ehr­erbietung von ihren alten Eltern reden und mit Liebe für sie sorgen? Lasst uns aufpassen, dass unser Freiheits­drang nicht dazu führt, dass wir uns an Gottes heiligen Geboten vergreifen!

Ich sagte: Es scheint so, als seien wir heute toleranter. In Wirklich­keit gibt es immer noch das Verlangen nach genauen Ausführungs­bestimmungen für gott­gefälliges Leben. Da wenden sich Gemeinde­glieder an ihren Seelsorger und bitten: Sie müssen praktisch predigen und sagen, wie man als Christ im Alltag leben soll! Mancher Christ ist un­zufrieden, wenn er in der Predigt immer wieder nur von der Sünde und von Gottes Gerechtig­keit hört. Er will Ausführungs­bestimmungen zu Gottes Geboten haben und genau wissen, wie er sich in dieser oder jener Situation zu verhalten hat. Die Gefahr ist groß für uns Prediger, dass wir dann doch wieder irgend­welche Menschen­satzungen als Gottes Gebote ausgeben, wie es die Pharisäer damals taten. Zum Beispiel ist die Versuchung groß zu sagen: Wer bei uns Gemeinde­glied sein will und ein eigenes Einkommen hat, der muss mindestens fünf Prozent von seinem Netto­verdienst an die Kirche zahlen.

Es steckt in uns Menschen drin, dass wir uns nach genauen Ausführungs­bestimmungen für das Leben sehnen und allgemein­verbindliche Menschen­gebote aufstellen wollen. Wir sehnen uns nach einem Geländer, an dem wir uns in allen Lebenslagen festhalten können mit der Gewissheit: Wenn ich jetzt dies oder jenes tue, dann ist das richtig. Wenn wir in die Situation X kommen, würden wir am liebsten die passende Schublade aufziehen und das Patent­rezept Y heraus­nehmen; und wenn wir meinen, solche Patent­rezepte gefunden zu haben, dann wollen wir sie anderen aufdrängen.

Aber Gottes Gebot braucht keine Ausführungs­bestimmun­gen. Wer meint, Christsein ließe sich mit solchem Schema-F-Verhalten be­schreiben, der hat nichts von Gottes Wort begriffen. Jesus zeigt mit seinen Worten an die Pharisäer, dass man gott­gefälliges Leben nicht mit Menschen­geboten in den Griff bekommen kann. „Heuchler“ nennt er die, die solche Satzungen lehren. Sie maßen sich an, Gottes Wort zu lehren, und verkündigen doch letztlich nur sich selbst. Sie brüsten sich damit, eine Fülle von Einzel­vorschriften peinlich genau ein­zuhalten, aber ihr Herz ist fern von Gott. Sie meinen, den Sinn der Gebote mit ihren tausend Ausführungs­bestimmungen erfasst zu haben, und übertreten gerade um ihrer Satzungen willen Gottes Gebot in seinem eigent­lichen Sinn.

Ja, liebe Gemeinde, das ist die Gefahr der Menschen­satzungen. Wir wollen diese Gefahr erkennen und meiden, damit wir durch Gottes Kraft ein wirklich gutes Leben führen können – als mündige und ver­antwortliche Christen, die sich allein dem göttlichen Gebot unterworfen wissen. Die Mönche und Nonnen im Mittelalter meinten, durch ihren genau geregelten Tageslauf und durch endlose Gottes­dienste ein besonders heiliges Leben zu führen. Martin Luther hat durch­schaut, dass sie sich damit letztlich nur vor Gottes Geboten drückten – vor Gottes Erwartung nämlich, in der Welt mit all ihren Sorgen und Heraus­forderungen voller Liebe zu Gott und den Nächsten seinen Mann zu stehen. Und was ist mit den Satzungen in der Vergangen­heit unserer luthe­rischen Freikirchen – das Verbot Karten zu spielen, das Verbot zu tanzen, das Verbot ins Kino zu gehen oder die Anweisung, beim Abendmahl schwarz gekleidet zu sein? Wenn jemand das freiwillig für sich getan hat, ist ja nichts dagegen zu sagen. Vielleicht konnte er auf diese Weise manche Ver­suchungs­situation vermeiden, und vielleicht waren ihm diese Dinge äußerliche Hilfen, sein Leben ganz in die Jesus-Nachfolge zu stellen. Aber diese Menschen­satzungen für Gottes Gebot ausgeben und von allen Christen ein ent­sprechendes Verhalten zu erwarten, das war Unrecht. Mag sein, dass mancher gerade um dieser Satzungen willen Gottes eigent­liches Gebot gebrochen hat, dass er zum Beispiel im Herzen diejenigen verachtete, die diese Dinge mit größerer Freiheit handhabten. Die größte Gefahr aber bestand darin, dass jemand meinte, mit solchen Satzungen genug getan zu haben für sein Christen­leben, oder dass jemand meinte, christ­liches Leben sei einfach nur die Befolgung einer Reihe von Regeln. Der Teufel lässt sich mit seiner Versuchung nicht durch Menschen­satzungen aus­tricksen; wir müssen stets vor ihm auf der Hut sein. Es hilft ja überhaupt nichts, schwarz gekleidet zum Heiligen Abendmahl zu gehen, wenn das Herz nicht in rechter Demut, Buße, Ehrfurcht und Andacht das Sakrament empfängt. Auf's Herz kommt es doch an, sagte Jesus, nicht auf ein an­dressiertes Verhalten oder ein bloßes Lippen­bekenntnis.

Deshalb kann es auch bei Gegenwarts­fragen keine festen Gesetze geben. Nehmen wir das Beispiel mit dem Kirchen­beitrag! Wieviel ein Gemeinde glied zahlen soll, das sollte man nicht starr per Menschen­satzung regeln. Dem einen legt Gott vielleicht anderswo wichtige Aufgaben­bereiche vor die Füße, wo er viel Geld hinein­stecken muss, und er kann dann nur noch wenig der Gemeinde geben. Der andere verdient vielleicht viel mehr, als er braucht, und fünf Prozent wären für ihn gar kein richtiges Opfer. Letzterem würde die Fünf-Prozent-Regel zu unrecht ein gutes Gewissen machen, denn Gott hat ihm viel anvertraut und erwartet umso mehr von ihm. Mit Leichtig­keit könnte er zehn Prozent oder fünfzehn Prozent oder noch mehr geben. Wie gesagt, letztlich kommt es auf sein Herz an, ob es bereit ist, freudig zu opfern.

Liebe Gemeinde, lasst mich zusammen­fassen, was wir aus diesem Abschnitt der Heiligen Schrift mit nach Hause nehmen können.

Erstens: Gottes Gebote brauchen keine Ausführungs­bestimmun­gen. Lasst uns Gottes Gebote selbst ganz ernst nehmen und mit großem Ernst befolgen. Menschen­satzungen dürfen niemals dieselbe Verbindlich­keit haben.

Zweitens: Hüten wir uns davor, anderen gegenüber unsere Meinung als ver­bindliche Ordnung Gottes auszugeben, so als wüssten wir genau und allgemein­gültig, wie man sich als Christ in jeder Situation zu verhalten hat.

Drittens: Hüten wir uns davor, mit bestimmten Verhaltens­regeln unser eigenes Christen­leben in den Griff bekommen zu wollen. Wir werden immer wieder damit zu ringen haben, dass wir mit reinem Herzen als Christen leben, und wir werden dabei oft genug Schiffbruch erleiden, da helfen uns alle Satzungen und Regeln nichts. Darum wollen wir uns nichts vormachen und nicht meinen, es sei ja alles in Ordnung bei uns. Es sollte uns leicht fallen, unser Versagen ehrlich ein­zugestehen, denn wir kennen ja die große Chance, die darin liegt, ohne Regel-Geländer vor Gottes Gebot zu kapitu­lieren: Es ist die Chance zur Buße. Es ist die Chance, aus der Kraft der Sünden­vergebung heraus neu anzufangen mit dem Christen­leben – jeden Tag neu! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1988.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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