Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Die Zehn Gebote bestehen aus 103 Wörtern. Eine EU-Verordnung über den Import von Karamellerzeugnissen besteht aus 26.911 Wörtern. Was sehen wir daran? Wir sehen: Gott hat uns Menschen mit wenigen klaren und wichtigen Worten den rechten Lebensweg gewiesen. Wir Menschen dagegen neigen dazu, selbst für nebensächliche Dinge wortreiche und spitzfindige Ausführungsbestimmungen zu erstellen. Dabei wird auch vor Gottes Wort nicht Halt gemacht: Immer wieder haben Menschen versucht, durch umfangreiche Menschengebote Gottes Gesetz in den Griff zu bekommen und auf diese Weise gottgefälliges Leben bis in die Einzelheiten hinein zu ordnen.
So war es schon bei den Juden vor der Zeitenwende. Sie begnügten sich nicht mit dem, was Gott ihnen durch Mose kundgetan hatte, sondern stellten spitzfindige Satzungen für das religiöse Leben auf. Zum Beispiel die Satzung, dass man jedesmal vor dem Essen die Hände waschen muss. Dabei ging es den Juden nicht um Hygiene oder Tischmanieren. Vielmehr meinten sie, mit ungewaschenen Händen zu essen sei eine große Sünde. Diese Satzung hielten die Pharisäer Jesus und seinen Jünger anklagend vor, wie wir eben gehört haben. Jesus ging in seiner Antwort auf ein weiteres Menschengebot der Juden ein. Es besagte: Wer sein Geld als Opfergabe für den Tempel weiht, darf es zu nichts anderem mehr verwenden, auch wenn seine alten Eltern deswegen Not leiden müssen.
Die Kirche im Mittelalter hatte ebenfalls ihre besonderen Menschensatzungen und eigentümlichen Ausführungsbestimmungen zu Gottes Geboten. Ein paar Beispiele: In der Fastenzeit, also in den Wochen vor Ostern, durfte niemand Fleisch oder Butter essen. Und den Mönchen und Nonnen wurde bis ins Kleinste der Tagesablauf vorgeschrieben. Man befahl ihnen, was sie wann zu beten hatten; auch, wann sie schweigen mussten und wann sie reden durften.
Sogar in der lutherischen Kirche gab es früher spitzfindige Ausführungsbestimmungen zu Gottes Geboten, auch in den lutherischen Freikirchen. Da hieß es zum Beispiel: Ein Christ darf nicht Karten spielen, nicht tanzen und nicht ins Kino gehen. Und es ist noch gar nicht so lange her, da meinte man, mit der Würde des Heiligen Abendmahls vertrage sich nur schwarze Kleidung.
Und wie sieht es in der Gegenwart aus? Es scheint so, als seien wir heute toleranter. Die Menschengebote von damals erscheinen uns recht fremdartig, vielleicht sogar lächerlich. Mündiges Christsein ist heute gefragt, wo jeder seine Lebensweise in eigener Regie gestaltet. Ja, heute neigt man eher dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Da werden nicht nur Menschensatzungen zurückgewiesen, sondern sogar die göttlichen Gebote selbst in Frage gestellt. Wie steht es denn zum Beispiel heute mit dem 4. Gebot, das Jesus in unserem Abschnitt nennt? Sind wir einhellig der Meinung, dass Kinder ihren Eltern immer gehorchen sollen, und zwar ohne Widerrede? Ist es uns ein wichtiges Anliegen, dass erwachsene Kinder mit Ehrerbietung von ihren alten Eltern reden und mit Liebe für sie sorgen? Lasst uns aufpassen, dass unser Freiheitsdrang nicht dazu führt, dass wir uns an Gottes heiligen Geboten vergreifen!
Ich sagte: Es scheint so, als seien wir heute toleranter. In Wirklichkeit gibt es immer noch das Verlangen nach genauen Ausführungsbestimmungen für gottgefälliges Leben. Da wenden sich Gemeindeglieder an ihren Seelsorger und bitten: Sie müssen praktisch predigen und sagen, wie man als Christ im Alltag leben soll! Mancher Christ ist unzufrieden, wenn er in der Predigt immer wieder nur von der Sünde und von Gottes Gerechtigkeit hört. Er will Ausführungsbestimmungen zu Gottes Geboten haben und genau wissen, wie er sich in dieser oder jener Situation zu verhalten hat. Die Gefahr ist groß für uns Prediger, dass wir dann doch wieder irgendwelche Menschensatzungen als Gottes Gebote ausgeben, wie es die Pharisäer damals taten. Zum Beispiel ist die Versuchung groß zu sagen: Wer bei uns Gemeindeglied sein will und ein eigenes Einkommen hat, der muss mindestens fünf Prozent von seinem Nettoverdienst an die Kirche zahlen.
Es steckt in uns Menschen drin, dass wir uns nach genauen Ausführungsbestimmungen für das Leben sehnen und allgemeinverbindliche Menschengebote aufstellen wollen. Wir sehnen uns nach einem Geländer, an dem wir uns in allen Lebenslagen festhalten können mit der Gewissheit: Wenn ich jetzt dies oder jenes tue, dann ist das richtig. Wenn wir in die Situation X kommen, würden wir am liebsten die passende Schublade aufziehen und das Patentrezept Y herausnehmen; und wenn wir meinen, solche Patentrezepte gefunden zu haben, dann wollen wir sie anderen aufdrängen.
Aber Gottes Gebot braucht keine Ausführungsbestimmungen. Wer meint, Christsein ließe sich mit solchem Schema-F-Verhalten beschreiben, der hat nichts von Gottes Wort begriffen. Jesus zeigt mit seinen Worten an die Pharisäer, dass man gottgefälliges Leben nicht mit Menschengeboten in den Griff bekommen kann. „Heuchler“ nennt er die, die solche Satzungen lehren. Sie maßen sich an, Gottes Wort zu lehren, und verkündigen doch letztlich nur sich selbst. Sie brüsten sich damit, eine Fülle von Einzelvorschriften peinlich genau einzuhalten, aber ihr Herz ist fern von Gott. Sie meinen, den Sinn der Gebote mit ihren tausend Ausführungsbestimmungen erfasst zu haben, und übertreten gerade um ihrer Satzungen willen Gottes Gebot in seinem eigentlichen Sinn.
Ja, liebe Gemeinde, das ist die Gefahr der Menschensatzungen. Wir wollen diese Gefahr erkennen und meiden, damit wir durch Gottes Kraft ein wirklich gutes Leben führen können – als mündige und verantwortliche Christen, die sich allein dem göttlichen Gebot unterworfen wissen. Die Mönche und Nonnen im Mittelalter meinten, durch ihren genau geregelten Tageslauf und durch endlose Gottesdienste ein besonders heiliges Leben zu führen. Martin Luther hat durchschaut, dass sie sich damit letztlich nur vor Gottes Geboten drückten – vor Gottes Erwartung nämlich, in der Welt mit all ihren Sorgen und Herausforderungen voller Liebe zu Gott und den Nächsten seinen Mann zu stehen. Und was ist mit den Satzungen in der Vergangenheit unserer lutherischen Freikirchen – das Verbot Karten zu spielen, das Verbot zu tanzen, das Verbot ins Kino zu gehen oder die Anweisung, beim Abendmahl schwarz gekleidet zu sein? Wenn jemand das freiwillig für sich getan hat, ist ja nichts dagegen zu sagen. Vielleicht konnte er auf diese Weise manche Versuchungssituation vermeiden, und vielleicht waren ihm diese Dinge äußerliche Hilfen, sein Leben ganz in die Jesus-Nachfolge zu stellen. Aber diese Menschensatzungen für Gottes Gebot ausgeben und von allen Christen ein entsprechendes Verhalten zu erwarten, das war Unrecht. Mag sein, dass mancher gerade um dieser Satzungen willen Gottes eigentliches Gebot gebrochen hat, dass er zum Beispiel im Herzen diejenigen verachtete, die diese Dinge mit größerer Freiheit handhabten. Die größte Gefahr aber bestand darin, dass jemand meinte, mit solchen Satzungen genug getan zu haben für sein Christenleben, oder dass jemand meinte, christliches Leben sei einfach nur die Befolgung einer Reihe von Regeln. Der Teufel lässt sich mit seiner Versuchung nicht durch Menschensatzungen austricksen; wir müssen stets vor ihm auf der Hut sein. Es hilft ja überhaupt nichts, schwarz gekleidet zum Heiligen Abendmahl zu gehen, wenn das Herz nicht in rechter Demut, Buße, Ehrfurcht und Andacht das Sakrament empfängt. Auf's Herz kommt es doch an, sagte Jesus, nicht auf ein andressiertes Verhalten oder ein bloßes Lippenbekenntnis.
Deshalb kann es auch bei Gegenwartsfragen keine festen Gesetze geben. Nehmen wir das Beispiel mit dem Kirchenbeitrag! Wieviel ein Gemeinde glied zahlen soll, das sollte man nicht starr per Menschensatzung regeln. Dem einen legt Gott vielleicht anderswo wichtige Aufgabenbereiche vor die Füße, wo er viel Geld hineinstecken muss, und er kann dann nur noch wenig der Gemeinde geben. Der andere verdient vielleicht viel mehr, als er braucht, und fünf Prozent wären für ihn gar kein richtiges Opfer. Letzterem würde die Fünf-Prozent-Regel zu unrecht ein gutes Gewissen machen, denn Gott hat ihm viel anvertraut und erwartet umso mehr von ihm. Mit Leichtigkeit könnte er zehn Prozent oder fünfzehn Prozent oder noch mehr geben. Wie gesagt, letztlich kommt es auf sein Herz an, ob es bereit ist, freudig zu opfern.
Liebe Gemeinde, lasst mich zusammenfassen, was wir aus diesem Abschnitt der Heiligen Schrift mit nach Hause nehmen können.
Erstens: Gottes Gebote brauchen keine Ausführungsbestimmungen. Lasst uns Gottes Gebote selbst ganz ernst nehmen und mit großem Ernst befolgen. Menschensatzungen dürfen niemals dieselbe Verbindlichkeit haben.
Zweitens: Hüten wir uns davor, anderen gegenüber unsere Meinung als verbindliche Ordnung Gottes auszugeben, so als wüssten wir genau und allgemeingültig, wie man sich als Christ in jeder Situation zu verhalten hat.
Drittens: Hüten wir uns davor, mit bestimmten Verhaltensregeln unser eigenes Christenleben in den Griff bekommen zu wollen. Wir werden immer wieder damit zu ringen haben, dass wir mit reinem Herzen als Christen leben, und wir werden dabei oft genug Schiffbruch erleiden, da helfen uns alle Satzungen und Regeln nichts. Darum wollen wir uns nichts vormachen und nicht meinen, es sei ja alles in Ordnung bei uns. Es sollte uns leicht fallen, unser Versagen ehrlich einzugestehen, denn wir kennen ja die große Chance, die darin liegt, ohne Regel-Geländer vor Gottes Gebot zu kapitulieren: Es ist die Chance zur Buße. Es ist die Chance, aus der Kraft der Sündenvergebung heraus neu anzufangen mit dem Christenleben – jeden Tag neu! Amen.
PREDIGTKASTEN |