Vom Schwören

Predigt über Matthäus 5,33-37 zum 8. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn alle Menschen die Wahrheit sagten, wäre das Leben leicht. Sie könnten sich dann aufeinander verlassen. Gerichts­verfahren würden sich nicht endlos in die Länge ziehen. Behörden könnten darauf verzichten, sich alles schriftlich belegen und beglaubigen zu lassen. Wer einen Fehler macht, würde das offen zugeben. Der Begriff „fake news“ wäre ein Fremdwort. Wenn alle Menschen die Wahrheit sagten, dann lägen die Tatsachen gut sichtbar vor uns wie im hellen Sonnen­schein, wie am helllichten Tag. Alles lässt sich eindeutig erkennen, alle Farben lassen sich klar voneinander unter­scheiden. In der Nacht ist das anders, bei wenig Licht: Da erscheint alles grau in grau; man kann einen Fuchs kaum von einer Katze unter­scheiden. Leider herrscht wahrheits­mäßig nur ein schwaches Dämmerlicht auf Erden. Denn überall wird gelogen, dass die Balken biegen. Höchste Politiker lügen ebenso wie Kinder. Und es gibt kaum einen Spielfilm, dessen Reiz nicht gerade darin besteht, dass die Figuren unehrlich sind.

Da ist zum Beispiel der kleine Fritz. Er ist heimlich in die Speisekammer ein­gedrungen, obwohl die Mutter ihm das verboten hat. Dabei geht ein Glas mit Mirabellen­kompott zu Bruch. Bald findet die Mutter das zerbrochene Glas. Der kleine Fritz spielt verdächtig artig in seinem Zimmer. Die Mutter fragt: „Hast du das Glas runter­geschmis­sen?“ Fritz lügt: „Nein, ich war’s nicht.“ Damit macht er seiner Mutter und sich selbst das Leben schwer. Zwischen beiden liegt nun noch mehr Zerbrochenes als das kaputte Mirabellen­glas, nämlich ein zerbrochenes Vertrauens­verhältnis. Fritz hat nach der Lüge ein noch schwereres Herz als vorher, das schlechte Gewissen plagt ihn noch mehr. Die Mutter aber muss einen um­ständlichen Prozess der Wahrheits­findung in Gang setzen. Am Ende wird Fritz natürlich als Täter überführt. Streng fragt sie ihn dann: „Versprichst du mir, dass du in Zukunft nicht mehr in die Speisekammer gehst?“ Der kleine Fritz sagt kleinlaut: „Ja.“ Ob er wohl diesmal die Wahrheit sagt?

Wenn alle Menschen die Wahrheit sagten, wäre das Leben leicht. Aber sie tun es nicht. Deshalb gibt es mehr zerbrochene Vertrauens­verhältnisse als zerbrochene Gläser. Mit Recht meint der Volksmund: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“ Allerdings haben die Lügner ein Mittel gefunden, von dem sie hoffen, dass es sie wieder glaubwürdig macht: Sie bekräftigen ihre Aussagen mit Beteuerungs­formeln. Sie sagen künftig nicht nur „ja“ und „nein“, sondern „kannste glauben!“ und „ungelogen!“ und „ehrlich!“ und „Ich schwör!“. Damit sind wir beim Thema Schwören angelangt, dem Thema unseres Predigt­textes aus Jesu Bergpredigt. Wir wollen es mit zwei Fragen betrachten. Erstens: Was ist Schwören? Und zweitens: Warum sollen wir nicht schwören?

Ja, was ist Schwören überhaupt?

Zunächst ist es einfach eine feierliche Aussage vor Zeugen. Je vornehmer die Zeugen sind und je mehr Macht sie haben, desto wichtiger ist es, bei der Wahrheit zu bleiben, sonst könnten sie einen streng bestrafen. Die allergrößte Macht hat Gott, darum wurde schon in ältester Zeit bei Gottes Namen geschworen. Gott wurde für die Richtigkeit einer Aussage als Zeuge angerufen, und Gottes Strafgericht drohte dem, der dabei log. So kam es zu Gottes Mahnung im Gesetz des Mose, auf die Jesus in der Bergpredigt Bezug genommen hat. Vollständig lautet sie: „Ihr sollt nicht falsch schwören bei meinem Namen und den Namen eures Gottes nicht entheiligen; ich bin der Herr“ (3. Mose 19,12).

Besonders wichtig war das für die Wahrheits­findung vor Gericht. Bis heute kennen wir die Tradition, dass Zeugen vereidigt werden. Wenn sie dann die Unwahrheit sagen, werden sie streng bestraft. Wer einen sogenannten Meineid leistet, macht sich schuldig nicht nur vor dem Richter, sondern auch vor dem ganzen Volk und vor Gott. Der kleine Fritz würde angesichts der Trümmer des Mirabellen­glases bestimmt nicht sagen: „Ich war’s nicht“, wenn er das vor der gesamten Verwandt­schaft und vor allen Schul­freunden und vor Gott mit einem feierlichen Eid bekräftigen müsste.

Aber das Schwören betrifft nicht nur Aussagen über Vergangenes, sondern auch Aussagen über Zukünftiges. Wir erinnern uns: Fritz muss am Ende versprechen, die Speisekammer nicht mehr eigenmächtig zu betreten. Ein Eid in Verbindung mit so einer Absichts­erklärung heißt Gelübde. Auch darauf nimmt Jesus in der Bergpredigt Bezug und zitiert in Kurzfassung folgende Weisung aus dem Alten Testament: „Wenn jemand dem Herrn ein Gelübde oder einen Eid schwört, dass er sich zu etwas verpflichten will, so soll er sein Wort nicht brechen, sondern alles tun, wie es über seine Lippen gegangen ist“ (4. Mose 30,3). Bis heute kennen wir den Amtseid, den Regierende und Beamte ablegen: Sie verpflichten sich öffentlich vor vielen Zeugen, Schaden vom Volk abzuwenden und die Verfassung zu respek­tieren. Manche rufen bei diesem Amtsgelübde auch Gott zum Zeugen an und sagen: „So wahr mir Gott helfe.“

Nun kommt es freilich nur selten vor, dass man ein Amtsgelübde ablegen oder vor Gericht als Zeuge aussagen muss. Trotzdem haben Schwüre und andere Beteuerungen Einzug ins Alltagsleben gehalten. Wenn ich zum Beispiel ein Haus kaufen will, dann reicht es nicht, dass ich das mit einem Handschlag besiegele, dann muss ich das feierlich mit meiner Unterschrift beim Notar bestätigen. Und wenn jemand es mit der Wahrheit nicht immer ganz genau nimmt, dann neigt er in seinen Alltags­gesprächen dazu, seiner Glaub­würdigkeit mit allerlei Eiden und Beteuerungs­formeln Nachdruck zu verleihen. Das ist nicht erst heute so, das war schon zu biblischen Zeiten so. Allerdings scheuten sich viele Juden, bei Alltags­gesprächen den Namen Gottes in den Mund zu nehmen. Wenn man Gott zum Zeugen anruft und etwas verspricht, was man dann doch nicht hält, sitzt man nämlich ganz schön in der Tinte. Mit Gott ist bekanntlich nicht zu spaßen. So wurde man erfinderisch und erdachte sich allerlei Schwüre, die man für weniger gefährlich hielt: Man schwor zum Beispiel beim Himmel oder bei der Stadt Jerusalem oder beim Gold des Tempels oder bei seinem eigenen Kopf. Mancher dachte dabei: Wenn der Eid nicht ganz so feierlich ist, dann muss man es mit der Wahrheit auch nicht ganz so genau nehmen. Es gab damals eine regelrechte Inflation der Eide.

Solch inflatio­näres Schwören hat Jesus in der Bergpredigt kritisiert und dagegen gesetzt: „Ihr sollt überhaupt nicht schwören… Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“ Das führt uns zur zweiten Frage: Warum sollen wir nicht schwören?

Zunächst macht Jesus klar, dass die selbst ausgedachten Eide Unsinn sind. Wer beim Himmel schwört, der schwört natürlich bei Gott selbst. Und wer bei Jerusalem schwört oder beim Jerusalemer Tempel, der ruft damit ebenfalls den zum Zeugen an, der der Hausherr im Tempel ist: nämlich Gott, den „großen König“ über alle Könige. Und wer bei seinem eigenen Kopf schwört, sollte sich klarmachen, dass er ein Geschöpf Gottes ist und sein Leben ganz in Gottes Hand steht. Gott schenkt jedem Menschen das Leben, lässt ihn älter werden, weiße Haare kriegen und schließlich sterben. Keiner hat sein Leben selbst in der Hand, keiner kann sich jung oder alt machen, keiner kann auch nur ein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Egal, wobei jemand schwört, er schwört letztlich immer bei dem heiligen und allmächtigen Gott. Es gibt keine weniger feierlichen oder verbind­lichen Eide.

Aber nun geht Jesus ja noch weiter und sagt: „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“, also auch nicht direkt bei Gott. Der Apostel Jakobus hat das in seinem Brief aufgegriffen und dick unter­strichen. Da heißt es: „Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwört nicht, weder bei dem Himmel noch bei der Erde noch mit einem anderen Eid“ (Jak. 5,12). Obwohl im Alten Testament von Zeugeneiden und Gelübden die Rede ist, sollen Jesu Jünger zur Zeit des neuen Bundes überhaupt nicht mehr schwören. Um das zu verstehen, müssen wir noch genauer erfassen, was Schwören eigentlich ist. Dabei kann uns die englische Sprache helfen. Im Englischen heißt schwören „to swear“. Man kann dieses Wort aber auch mit „fluchen“ übersetzen. Wir sehen: Ein Eid ist eigentlich ein Fluch, oder genauer: eine bedingte Selbst­verfluchung. Fluchen bedeutet, jemandem etwas Böses wünschen, Gottes Strafe herbei­wünschen. Wer schwört, der sagt damit: Mir möge etwas Böses zustoßen und Gott möge mich strafen, wenn ich jetzt nicht die Wahrheit sage oder wenn ich mein Gelübde brechen sollte. Genau das aber sollte kein Christ sagen. Denn weil Christus die Sündenstrafe bereits getragen hat, ist sie für immer erledigt. Sich selbst zu verfluchen oder zu schwören würde bedeuten, dass der Schwörende Christi Opfer nicht gelten lässt und wieder selbst seine Sündenstrafe auf sich nehmen will, um sie für seine Wahrhaftig­keit zu verpfänden. Damit würde er das Evangelium von der Glaubens­gerechtig­keit verleugnen und sich unter das System der Werk­gerechtig­keit begeben – ein System, an dem er scheitern müsste und in dem er schließlich zugrunde ginge.

Seht, das ist der tiefe Sinn, warum ein Christ überhaupt nicht schwören soll. Martin Luther hat es in seiner Erklärung zum 2. Gebot ausdrücklich bestätigt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir bei seinem Namen nicht fluchen, schwören, zaubern, lügen oder trügen…“ Trotzdem darf man sich als Zeuge vor Gericht vereidigen lassen. Es bedeutet ja nichts anderes, als dass man eine Aussage macht in dem Bewusstsein, dass eine Lüge ernste straf­rechtliche Konsequenzen hat. Gottes Namen würde ich dabei allerdings aus dem Spiel lassen. Und man darf auch feierliche Versprechen ablegen, etwa bei der Konfirmation oder bei der Trauung. Man sollte sie allerdings auch treu und mit allem Ernst halten. Ein solches Gelöbnis ist keine bedingte Selbst­verfluchung, sondern eine Zusage verbunden mit der Bitte um Gottes Hilfe. Ernst nehmen sollten wir das, was wir zusagen, in jedem Fall, egal ob in der Kirche feierlich gelobt oder im Alltag schlicht versprochen. Und wahr sein sollte das, was wir aussagen, in jedem Fall, egal ob wir vor Gericht stehen oder uns einfach mit jemandem unterhalten. Gott ist in jedem Fall Zeuge, gleich ob wir ihn ausdrücklich als solchen anrufen oder nicht. Was er von uns dabei erwartet, hat er im 8. Gebot klar gesagt: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Gott hat das Recht, uns für jede Lüge zu bestrafen, egal ob wir geschworen haben oder nicht. Wenn er es nicht tut, dann nur deshalb, weil sein Sohn die Strafe bereits am Kreuz getragen hat.

„Lebt als Kinder des Lichts“, lautet der aktuelle Wochenspruch (Eph. 5,8). Jesus ist das Licht der Welt, und er ist die Wahrheit in Person. In diesem Licht erkennen wir deutlich die Liebe unseres himmlischen Vaters und alles, was mit dieser Liebe zusammen­hängt. So hell sollen nun auch wir in der Welt leuchten, so wahrhaftig sollen wir als Jesu Jünger sein – jawohl, so wahrhaftig, dass wir keine Eide und Beteuerungs­formeln nötig haben. Wenn wir „ja“ oder „nein“ sagen, dann soll jeder sich stets darauf verlassen können. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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