Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Auf den ersten Blick ist Jesu Gleichnis von den bösen Weingärtnern eine harte Strafgeschichte. Der Herr des Weinbergs ist Gott, der Weinberg ist sein Reich und die bösen Weingärtner sind die Führungspersonen des Volkes Israel. Die Pharisäer und die Mitglieder des Hohen Rats, denen Jesus diese Geschichte ursprünglich erzählte, merkten ganz genau, dass die Botschaft auf sie gemünzt war. Das Gleichnis macht deutlich: Gott lässt sich nicht zum Narren halten. Wer Gottes Propheten und schließlich sogar seinen eingeborenen Sohn verachtet und misshandelt, den wird Gottes Zorngericht am Ende hart treffen. Aber die führenden Juden ließen sich durch diese Geschichte nicht warnen oder umstimmen, im Gegenteil: Jesu Worte bestärkten sie in der Meinung, dass Jesus möglichst geräuschlos verschwinden muss.
Auf den zweiten Blick ist dieses Gleichnis aber noch etwas anderes: Sie ist Gottes Liebeserklärung an alle, die auf ihn hören. Diese versteckte Liebeserklärung kommt zum Vorschein, wenn wir die Geschichte rückwärtes betrachten. Das kann man mit Jesu Gleichnissen durchaus tun, und hier empfiehlt es sich sogar. Lasst uns also das Gleichnis von den bösen Weingärtnern von seinem Ende her betrachten, uns dann bis zum Anfang vorarbeiten und dabei staunen, wie groß Gottes Liebe ist.
Es wäre nur zu verständlich, wenn der Herr des Weinbergs nach seinen enttäuschenden Erfahrungen die Pflanzung aufgibt und sich anderen Projekten zuwendet. Das tut er aber nicht. Am Ende heißt es: „Er wird seinen Weinberg andern Weingärtnern verpachten, die ihm die Früchte zur rechten Zeit geben.“ Damit sind Menschen aus anderen Völkern gemeint, die nicht von Israel abstammen. Gottes Enttäuschung über sein auserwähltes Volk hat ihn also nicht verbittert, sondern sie hat dazu geführt, dass er sein Reich für Nicht-Israeliten öffnete, für die sogenannten Heidenvölker. Er tat es in der Absicht, auf diese Weise auch wieder seine alte Liebe, das Volk Israel, zurückzugewinnen. Der Apostel Paulus hat es im Römerbrief so ausgedrückt: „Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden“ (Römer 11,25‑26). Gott straft nicht gern und verwirft auch nicht gern im Zorn, sondern er möchte, dass viele Menschen, sowohl Juden als auch Nicht-Juden, für sein Reich gewonnen werden. Gott will nicht, dass sein Weinberg verwaist und verwildert, sondern er will, dass viele Weingärtner darin friedlich und glücklich leben – das ist die rechte Frucht, darüber freut er sich. Seht, darauf zielt das Gleichnis von den bösen Weingärtner letztlich ab; es ist in der Tat eine Liebeserklärung Gottes an uns Menschen.
Wir gehen nun einen Schritt zurück und kommen dazu, dass der Herr des Weinbergs seinen einzigen Sohn schickte, um seinen Anteil an Frucht einzufordern. Natürlich meinte Jesus mit diesem Sohn sich selbst. Die bösen Weingärtner haben den Sohn und seine Forderungen nicht respektiert, sondern sie haben ihn aus dem Weinberg hinausgejagt und ihn draußen totgeschlagen. Sie dachten in ihrer Verblendung: Wenn wir den Erben des Weinbergs ausschalten, wird der Weinberg am Ende uns gehören, und wir können dann damit machen, was wir wollen. Aber da irrten sie sich gewaltig. Wer den Sohn verwirft, der verwirft den Vater, wer aber den Vater verwirft, der verwirft damit sein eigenes Leben. Mit einem anderen Bild hat Jesus diesen Zusammenhang vertieft. Er sagte: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen, und ist ein Wunder vor unsern Augen… Wer auf diesen Stein fällt, der wird wird zerschellen; auf wen aber er fällt, den wird er zermalmen.“ An Jesus, Gottes eingeborenem Sohn, scheiden sich die Geister. Wer ihn verachtet, der wird an ihm zugrunde gehen; wer aber an ihn glaubt, für den wird er zum Eckstein, also zum wichtigsten Stein für das gesamte Lebensgebäude. Ein Lebenshaus, das auf dem Eckstein Jesus Christus gegründet ist, wird niemals zusammenbrechen, in Ewigkeit nicht. Das Besondere ist nun aber, dass dieser Stein gerade durch sein Verworfensein zum Eckstein wurde. Oder um es mit dem Gleichnis zu sagen: Gerade weil der Sohn des Weinbergbesitzers sich den Misshandlunden der bösen Weingärtner aussetzte und töten ließ, scheiden sich an ihm die Geister. Hinfort darf nur derjenige ein Weingärtner in Gottes Reich sein, der den Sohn respektiert und seinen Tod als Opfer für alle Sünden annimmt. Hier erkennen wir Gottes Liebeserklärung in ihrer größten Tiefe: Der himmlische Vater hat seinen einzigen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn zu den bösen Weingärtnern geschickt, um ihnen eine letzte Chance zu geben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Glauben wir an den Sohn und an sein Erlösungswerk, dann dürfen wir in Gottes Weinberg beziehungsweise in Gottes Reich leben – trotz allem, was wir falsch gemacht haben.
Nun gehen wir einen weiteren Schritt zurück im Gleichnis. Da begegnen uns die vielen Boten des Weinbergbesitzers, die alle den fälligen Anteil an Frucht einfordern. Jesus meinte damit die Propheten des Alten Testaments. Sie haben Gottes Volk immer wieder ermahnt und gewarnt. Viele von ihnen sind tatsächlich verfolgt worden; einige wurden sogar ermordet. Allgemein können wir sagen: Diese Boten stehen für Gottes Wort, das immer wieder zu uns Menschen kommt und dabei auch immer wieder verachtet wird. Nun gilt zwar: Wer an den Sohn Gottes glaubt, der hat das ewige Leben; und das gilt ohne jede Einschränkung. Aber für ein gutes Leben in Gottes Weinberg ist es auch wichtig, auf seine Weisungen zu achten und ihm mit unserm ganzen Lebenswandel die Ehre zu geben. Ein solcher Lebenswandel entspricht im Gleichnis dem Anteil an Frucht, der dem Herrn gebührt. Diese Frucht heißt Liebe: Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen ist letztlich das Entscheidende, was Gott von uns erwartet in seinem Reich. Sein Wort mahnt uns immer wieder zu solcher Liebe. Wir tun gut daran, diese Mahnungen nicht zu überhören. Die Geschichte der Menschheit lehrt, dass alles schief geht, wenn Menschen den Weinberg ihres Lebens eigenmächtig bewirtschaften wollen, ohne Gott den fälligen Anteil zu geben. Die Kraft und Fähigkeit zum rechten Bewirtschaften kommt freilich nicht aus uns selbst, sondern sie kommt durch Gottes Wort zu uns, sie kommt durch seine Boten. Ja, auch das gehört zu Gottes Liebeserklärung: dass er uns mahnt und anleitet, nach seinem Willen zu leben, und dass er uns durch sein Evangelium die Kraft dazu gibt. Wenn uns das klar ist, können wir gar nicht anders als sein Wort und seine Boten willkommen heißen, sie mit Freuden bei uns aufnehmen und alles daran setzen, die Anweisungen des Weinbergbesitzers, die sie uns bringen, umzusetzen.
Nun kommen wir schließlich an den Anfang des Gleichnisses. Bevor die Boten kamen und Gottes Anteil verlangten, hatte Gott selbst seinen Weinberg angelegt. So wie Jesus es beschrieben hat, tat er es mit viel Mühe und Sachverstand: Sorgfältig pflanzte er die Reben, schützte die Anlage durch einen Zaun vor Räubern und vor wilden Tieren, stellte zur Sicherheit auch noch einen Wachturm darin auf und hieb ein Kelterbecken in den felsigen Untergrund, wo die frischen Weintrauben an Ort und Stelle zu köstlichem Wein weiterverarbeitet werden können. Dieses Tun leuchtete den Menschen damals auf Anhieb ein; sie wussten aus eigener Erfahrung: viel Mühe und Planung stecken in einem guten Weinberg drin. Wir können das als Gleichnis für die ganze Welt ansehen: Gott hat sie wunderbar geschaffen – siehe, sie war „sehr gut“, heißt es im ersten Buch der Bibel (1. Mose 1,31). Gott ist sodann das Risiko eingegangen, dass er seinen Weinberg Pächtern überließ – also Personen, die selbstständig wirtschaften dürfen, die ihm aber für dieses Wirtschaften Rechenschaft geben müssen. Das war die Situation des Menschen im Garten Eden, und das ist bis heute die Situation des Menschen in Gottes Schöpfung: Der Mensch hat Freiheit, in Gottes Schöpfung zu wirtschaften und zu gestalten, ist dabei aber in all seinem Tun Gott verantwortlich. Auch diese Freiheit, die Gott uns gewährt, ist Ausdruck seiner Liebe; auch hier lässt uns das Gleichnis seine Liebeserklärung erkennen. Daran ändert sich grundsätzlich nichts, wenn wir gegen Gottes Hausherrenschaft aufbegehren, die Rechenschaft verweigern und ihm die fälligen Früchte der Liebe vorenthalten. Gott meint es nach wie vor gut mit uns. Und durch seinen eingeborenen Sohn wird auch alles gut mit uns: Sein Kommen in Gottes Weinberg und sein Opfer machen, dass wir trotz allem seine Weingärtner sein und bleiben dürfen. Für diese große Liebe und unverdiente Gnade können wir ihm nicht genug danken. Amen.
PREDIGTKASTEN |