Jerusalem und das Kreuz

Predigt über Matthäus 24,15-26 zum Sonntag Estomihi

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Für Menschen, die stolz auf ihr Narrentum sind, beginnen mit dem heutigen Sonntag drei ausgelassene Tage. Es ist der Höhepunkt des Karnevals. Aber das evangelische Kirchenjahr hält eine Alternative bereit: Da schlägt der letzte Sonntag vor der Fastenzeit bereits ernste Töne an. Der Sonntag Estomihi richtet unseren Blick voraus auf den schweren Weg von Jesu Passion. Wir singen mit dem Wochenlied: „Lasset uns mit Jesus ziehen! Lasset uns mit Jesus leiden! Lasset uns mit Jesus sterben!“ Und wir hören als Wochenspruch das Wort unsers Herrn: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschen­sohn“ (Lukas 18,31). Wir merken: Jerusalem ist nicht nur das Sinnbild der zukünftigen Freude im Himmel, also am Ziel unseres Glaubens­lebens, sondern Jerusalem ist zugleich ein Sinnbild des Leidens. Jesus zog „hinauf nach Jerusalem“ im vollen Bewusstsein, dass dort das Kreuz auf ihn wartet. Seine Jünger zogen mit ihm.

Auch in dem pro­phetischen Wort Christi, das wir eben als Predigttext gehört haben, ist Jerusalem ein Sinnbild des Leids – sogar außer­ordentlich großen Leids. Der Abschnitt gehört zur sogenannten Endzeitrede des Herrn. Diese Rede ist nicht leicht zu verstehen, und über manche Einzelheiten kann man nur Vermutungen anstellen. Wer die Geschichte des jüdischen Volkes kennt, wird merken, dass Jesus hier von der Eroberung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. spricht. Die Römer belagerten die Stadt zunächst ein halbes Jahr lang und richteten dann ein ungeheures Blutbad an; auch zerstörten sie den Tempel und viele andere Gebäude. Jerusalem muss danach so ähnlich ausgesehen haben wie gegenwärtig viele syrische Städte nach den Bomben­angriffen, und die Zivil­bevölkerung muss ähnlich gelitten haben. Jesus hat das alles voraus­gesehen und die Christen der Urgemeinde gewarnt. Und er hat ihnen ein Zeichen genannt, wann es Zeit sein würde, zu fliehen – ein Zeichen, das sich bereits im Buch Daniel findet: Da heißt es, dass es im Tempel zu einem „Gräuel der Verwüstung“ kommen wird. Tatsächlich hatten jüdische Rebellen kurz vor der römischen Belagerung die Priester im Tempel angegriffen, viele von ihnen getötet und schlimme Verwüstungen angerichtet.

Jesus prophezeite das viele Jahre vorher. Dabei mahnte er seine Anhänger, schleunigst aus Jerusalem zu fliehen, wenn dieser „Gräuel der Verwüstung“ auftritt. Über die erforder­liche Eile redete er dabei sehr ausführlich und anschaulich. Er sagte: Wer sich dann gerade auf dem Flachdach seines Hauses befindet, soll sich nicht damit aufhalten hinunter­zusteigen und irgendwelche Wert­gegenstände aus dem Haus zu holen, sondern er soll direkt über die Dächer der Nachbar­häuser fliehen. Und wer gerade auf den Feldern vor Jerusalem arbeitet, soll nicht in die Stadt zurück­kehren, um sich noch schnell einen warmen Mantel zu holen. Die Frauen, die schwanger sind oder einen Säugling versorgen, werden es bei dieser eiligen Flucht besonders schwer haben; auch dieses Problem kennen wir von den Fliehenden unserer Tage. In der Erwartung der dramatischen Flucht sollen die Christen vorab darum beten, dass das alles nicht im Winter geschieht, in der nasskalten Regenzeit; und auch ein Sabbat sollte es lieber nicht sein, weil da das Reisen verboten ist. Wie Jesus es angekündigt hatte, so ist es dann auch gekommen: Als das grausame Gemetzel im Tempel stattfand, erinnerten sich die Christen an Jesu Worte und flohen aus Jerusalem – gerade noch rechtzeitig, bevor die Römer mit der Belagerung begannen. So überlebte die Jerusalemer Urgemeinde.

Jesu Worte haben eine Bedeutung über das bestimmte geschicht­liche Ereignis hinaus für den gesamten letzten Teil der Welt­geschichte – und damit auch für unsere Zeit. Wie Jesus die Christen im ersten Jahrhundert vor der „großen Bedrängnis“ in Jerusalem warnte und sie daraus errettete, so will er auch uns im 21. Jahrhundert bewahren und erretten. In manchen Ländern sind die Christen durch Kriege an Leib und Leben bedroht, sowie auch durch direkte Verfolgung. Wenn zum Beispiel ein Iraner oder eine Iranerin zum Glauben an Jesus Christus findet, dann tut er oder sie gut daran, schleunigst zu fliehen, denn im Iran steht die Todesstrafe auf den Übertritt vom Islam zum Christentum. In Deutschland können wir uns glücklich preisen, dass wir unsern Glauben öffentlich und ungehindert leben dürfen; darum ist es selbst­verständ­lich, dass wir verfolgte Christen aus anderen Ländern bei uns aufnehmen und ihnen helfen.

Aber auch da, wo äußerlich Friede herrscht, lauern die Gefahren und Leiden der „großen Bedrängnis“ in der Endphase der Welt­geschichte. Jesus hat voraus­gesagt, dass vor seinem Wiederkommen allerlei Verführer in Erscheinung treten werden. Sie werden die Menschen schwer beeindrucken und wahre Wunder wirken. Jesus nannte sie „falsche Christusse“ und „falsche Propheten“. Auch Christen werden von ihnen beeindruckt sein; die Macht und die Erfolge dieser selbst­ernannten Erlöser werden nach außen hin weitaus mehr glänzen als das Evangelium vom Mann am Kreuz, auch mehr als seine Auf­forderung, das Kreuz der Nachfolge auf sich zu nehmen. Da gibt es zum Beispiel politische Heils­apostel: Sie versprechen eine goldene Zukunft, wenn man sie nur machen lasse. Da gibt es Welt­anschauungs­gurus: Wie Köche bereiten sie aus allen möglichen und unmöglichen Religionen und Philosophien einen Eintopf zu und versprechen damit das große Lebensglück. „Scientology“ nennen einige ihren Eintopf, andere „Yoga“, andere „Ökumene der Religionen“. Da gibt es Fanatiker, die vor allem junge Leute an sich binden. Sie verüben schreckliche Gräueltaten im Namen eines Gottes, den sie Allah nennen, und stiften andere dazu an, ihnen nach­zueifern. Und da gibt es schließlich auch ganz normale, nette und freundliche Glaubens­mörder: Mit ihren scheinbar sehr vernünftigen Argumenten töten sie Stück für Stück den Glauben solcher Leute, die noch kindlich-fröhlich dem Heiland Jesus Christus und dem himmlischen Vater vertrauen. In geistlicher Hinsicht tun sie nichts anderes, als wenn jemand Kinder von ihren Eltern trennt. Jesus warnte vor all solchen Verführern und sagte: „Glaubt ihnen nicht!“ Auf diese Weise mahnt er uns zur geistlichen Flucht vor denen, die seine Kirche belagern und erobern wollen.

Jesus sprach vom „Gräuel der Verwüstung“, von eiliger Flucht, von Bedräng­nissen und von Ver­führungen. Da fragen wir: Wo bleibt das Positive, das Mutmachende, das Erfreuliche? Es will uns nicht gefallen, dass die Bibel die letzte Zeit der Welt­geschichte in so düsteren Farben malt. Wir begreifen nicht, warum Jerusalem auch ein Sinnbild für Kreuz und Leid ist, nicht nur ein Sinnbild für Erlösung und Freude. Etwas sollten wir allerdings begreifen: Das Leid dieser Welt hat nicht seine Ursache im zornigen Handeln eines launischen Gottes, sondern es ist ein Spiegel für die menschliche Sünde. Denn alles Schreckliche zeigt denjenigen, die es begreifen wollen: Seht her, das ist die Ernte eurer Entfremdung von Gott und eurer kläglichen Versuche, euch selbst zu erlösen. Ja, das können wir begreifen; die Frage ist nur, ob wir es auch begreifen wollen. Viele Menschen wollen lieber das begreifen, was sie nicht begreifen können, anstatt das andere anzunehmen, was sie sehr wohl begreifen können, was ihnen aber nicht behagt.

Auch wenn Jesu Worte in dieser Predigt sehr ernst sind, finden wir darin Positives. Das ist zwar zwischen den er­schreckenden Worten versteckt, aber es ist keineswegs klein und unbedeutend, keineswegs nur ein Trost­pfläster­chen. Das Positive ist sogar mächtiger und langlebiger als das Negative, und es wird das Negative einst völlig überwinden.

Da verkündet Jesus mitten in dieser Endzeitrede: „Siehe, ich habe es euch voraus­gesagt.“ Ja, Jesus hat seinen Jüngern alles offenbart, was sie über den letzten Abschnitt der Welt­geschichte wissen müssen. Er hat ihnen keinen Sand in die Augen gestreut und hat ihnen auch nicht den Himmel auf Erden versprochen, wie es viele falsche Christusse und Propheten tun. Indem Jesus seinen Jüngern damals und uns heute diese un­geschminkte Wahrheit zumutet, hat er uns zu seinen Vertrauten gemacht. Wir aber dürfen ihm unsererseits nun desto mehr vertrauen. Wenn uns die Schrecken dieser Zeit und Welt bewusst werden, brauchen wir daran nicht zu verzweifeln, sondern können gewiss sein: Es läuft alles nach Gottes Plan, denn Jesus hat ja alles voraus­gesagt. Diese Gewissheit sollen wir bewusst hochhalten und pflegen. Aus diesem Grund hat der Apostel Matthäus für die späteren christlichen Leser seines Evangeliums eine eigene Zwischen­bemerkung ein­geflochten. Er schrieb: „Wer das liest, der merke auf!“ Aufgepasst also: Nehmt aufmerksam wahr, was um euch herum geschieht, und vergleicht es mit Jesu Vorhersagen, dann werdet ihr merken, dass nichts von seinem Wort dahinfällt, sondern dass sich alles erfüllt.

Noch positiver und tröstlicher ist dieser Satz unsers Herrn: „Wenn diese Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Mensch selig werden; aber um der Auserwählten willen werden diese Tage verkürzt.“ Mit anderen Worten: Der himmlische Vater sorgt dafür, dass die Christenheit in den Schrecken der Endzeit nicht untergehen wird – bis Christus wiederkommt und die Seinen von allem Übel erlöst. Auf derselben Linie liegt die Zusage des Apostels Paulus im 1. Korinther­brief: „Gott ist treu, der euch nicht versuchen lässt über eure Kraft, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt“ (1. Korinther 10,13). Und der große Theologe Fritz Rienecker hat in seinem Kommentar zum Matthäus-Evangelium über Jesu Wort geschrieben: „Das Maß der Versuchung wird die Tragkraft derer, die dem Herrn angehören, nicht über­steigen.“

Das Positivste an der ernsten Predigt des Herrn jedoch liegt direkt unter dem Negativen verborgen: Unser Weg als Christen durch dunkle Zeiten ist ein Zeichen und Abbild von Jesu schwerem Weg nach Jerusalem und ans Kreuz. An diesem Kreuz hat er uns von allem Bösen erlöst und die Seligkeit erworben. So ist das Kreuz nicht nur ein Zeichen von Leid und Tod, sondern vor allem ein Zeichen von Leben und Seligkeit. Und wenn wir als Christen nun durch Kreuz und Leid gehen, dann macht Gott uns damit deutlich: Wir sind auf dem richtigen Weg, nämlich auf dem Weg der Nachfolge – hinter Jesus her! Weil über unserm Leben das Kreuz steht, so steht auch Gottes Liebe über unserm Leben und macht alles heil. Wir können dabei gewiss sein: Wie sich Jesu Pro­phezeiungen über den schweren Weg durch den letzten Abschnitt der Welt­geschichte erfüllen, so werden sich auch seine Pro­phezeiungen über das herrliche Ziel erfüllen. Da wird Gott alle Tränen abwischen von unseren Augen. Lasst uns nicht vergessen: Jesus ging nicht nur nach Jerusalem, um dort zu leiden und sterben, sondern auch, um dort schließlich den Tod zu besiegen und uns an diesem Sieg Anteil zu geben. Darum singen wir fröhlich und getrost auch die letzte Strophe des Wochenlieds: „Lasset uns mit Jesus leben!“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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