Zwei Gebote zum Aufhängen

Predigt über Matthäus 22,34-40 zum 8. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es gibt zwei Gruppen von Fragen: Schüler­fragen und Lehrer­fragen. Schüler stellen Fragen, wenn sie etwas nicht verstehen. Kluge und verständnis­volle Lehrer werden solche Fragen klar und einfach beantworten. Sie werden dabei den Wissensstand und das Alter der Schüler berück­sichtigen und deswegen manches nur vereinfacht und bildhaft erklären. Lehrer ihrerseits stellen Fragen, wenn sie die Schüler prüfen oder zum Nachdenken heraus­zufordern wollen.

Viele Menschen stellen auch Fragen an Gott. Das dürfen wir tun – wenn wir diese Fragen denn mit der richtigen Haltung stellen. Bei Gott sind nämlich nur Schüler­fragen angemessen, keine Lehrer­fragen. Gott ist unser Herr und Schöpfer, er ist allwissend und allmächtig, unser Wissen dagegen ist klein und bruchstück­haft. Nehmen wir zum Beispiel die oft gestellte Frage: Warum lässt Gott Leid zu? Wir dürfen diese Frage ruhig stellen, und wir werden Antworten dazu in der Bibel finden – wenn auch keine endgültigen, alles erklärenden Antwort, sondern vereinfachte und bildhafte Antworten – eben nur soviel, wie wir mit unserem begrenzten Verstand fassen können. Aber leider stellen viele Menschen diese Frage nicht wie eine Schüler­frage, sondern wie eine Lehrerfrage. Sie wollen Gott damit auf die Probe stellen oder gar anklagen. Manche wollen mit dieser Frage auch die Gläubigen in Verlegenheit bringen und feststellen: Seht her, ein Gott, der Leid zulässt, kann die Menschen nicht wirklich lieben, oder er ist nicht allmächtig.

Unser Predigttext berichtet davon, wie ein phari­säischer Theologe Jesus so eine Lehrer‑ beziehungs­weise Prüfungs­frage stellte. Es heißt da: „Er versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz?“ Der Pharisäer nannte Jesus heuchlerisch „Meister“, also Rabbi oder Lehrer, aber in Wirklichkeit stellte er selbst eine Lehrerfrage, um Jesus auf die Probe zu stellen, ja, um ihn möglicher­weise sogar aufs Glatteis zu führen. Denn was auch immer Jesus antworten würde, er müsste einen Unterschied machen zwischen wichtigen und weniger wichtigen Geboten. Damit würde er sich aber zum Richter über Gottes Wort aufschwingen und bestreiten, dass man alle göttlichen Gebote gleich ernst nehmen muss. Genau das aber fordert die Bibel selbst: Das Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“ zum Beispiel müssen wir ebenso ernst nehmen wie das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“, und das Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“ ebenso ernst wie „Du sollst nicht stehlen“.

Jesus hätte die Frage des Pharisäers mit gutem Recht zurückweisen können – zum einen, weil es sich um eine hinterliste Versuchungs­frage handelte, und zum andern, weil er damit ein göttliches Gebot dem andern vorziehen müsste. Aber Jesus lässt sich auf diese Frage ein. Er gibt eine Antwort, die zu seinen bekanntesten Worten gehört: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Gott lieben und den Nächsten lieben – dieses sogenannte Doppelgebot der Liebe ist das höchste und wichtigste Gebot.

Schauen wir uns die erste Hälfte genauer an! Da wird gefordert, dass Gott uns wichtiger sein soll als alles andere – wichtiger als unsere Hobbies, wichtiger als Geld, wichtiger als alle Mitmenschen, wichtiger als unsere Gesundheit, wichtiger sogar als unser Leben. Von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt sollen wir ihn lieben. Bei anderer Gelegenheit lehrte Jesus seine Jünger: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes“ (Matth. 6,33). Dieses Gebot entspricht dem ersten der Zehn Gebote, wo Gott fordert: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Denn damit meint das erste Gebot nicht nur die heidnischen Religionen mit ihrem Götzenkult, sondern damit ist alles gemeint, was einem Menschen wichtiger ist als Gott.

Besonders groß ist die Gefahr, dass der Mensch sich selbst vergöttert. Schon immer haben sich Machthaber so aufgespielt, als ob sie die Größten wären und ihnen alles gelingen würde. In der Antike haben sich Kaiser und Pharaonen göttlich verehren lassen. Hitler träumte in seinem Größenwahn davon, die ganze Welt zu regieren. Nun ist ja der Hitlerwahn Gott sei Dank lange vorbei. Aber auch wenn sich heute fast alle von den Verirrungen des National­sozialismus distan­zieren, so distanzieren sich viele immer noch nicht von der Selbst­vergötterung des Menschen. Da glaubt man Wissen­schaftlern mehr als der Bibel. Da verehrt man die Stars aus Sport und Kultur mehr als den lebendigen Gott. Und da predigt man überall unverdrossen das Selbst­erlösungs-Evangelium, dass ein Mensch nur an sich glauben müsse, dann würde ihm auch gelingen, was er sich vornimmt. Aber Gottes Wort sagt klar und deutlich: Wer von sich selbst oder von anderen Menschen mehr erwartet als von Gott, der wird am höchsten Gebot schuldig.

Das andere Gebot, sagt Jesus, ist ihm gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Da sind wir nun bei der zweiten Hälfte des Doppelgebots der Liebe: Auf die Liebe zu Gott folgt die Liebe zum „Nächsten“, zum Mitmenschen. Wir müssen genau darauf achten, wie Jesus diese beiden Hälften zueinander in Beziehung setzt. Er hat nicht gesagt: Die Liebe zum Mitmenschen soll ebenso groß sein wie die Liebe zu Gott, sondern er hat gesagt: Das Gebot der Nächsten­liebe gleicht dem Gebot der Gottesliebe an Wichtigkeit. Denn Gott sollen wir ja mehr als alles andere lieben, also auch mehr als uns selbst, unsere Mitmenschen aber sollen wir nicht mehr lieben als uns selbst, sondern nur wie uns selbst. Das bedeutet: In dem Maß, wie wir uns selbst Gutes gönnen, sollen wir auch unseren Mitmenschen Gutes gönnen. In der Bergpredigt hat Jesus es so formuliert: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ (Matth. 7,12) Wenn du selbst täglich satt werden willst, dann hilf mit, dass auch deine Mitmenschen satt werden. Wenn du selbst freundlich behandelt werden willst, dann behandle auch die anderen freundlich. Wenn du selbst in Frieden leben willst, dann fange keinen Streit an. Und das nicht nur im Blick auf deine Freunde und Verwandten, sondern auf alle Leute, die Gott dir als Mitmenschen über den Weg schickt. Das können manchmal ganz unerwartete Begegnungen sein mit fremden Menschen. Denken wir nur daran, dass Jesus mit der Geschichte vom Barmherzigen Samariter die Frage beantwortet hat, wer denn mein Nächster ist.

Gott über alle Dinge lieben und den Nächsten wie sich selbst lieben, diese beiden Gebote sind „gleich“, sagt Jesus. Sie sind gleich­rangig, und sie gehören außerdem un­zertrennbar zusammen. Denn wer Gott über alle Dinge liebt, der wird auch all die lieben, die Gott liebt – also alle Menschen, die Gott geschaffen hat. Wer aber seinem Nächsten etwas Gutes tut und ihm hilft, der tut diesen Liebesdienst letztlich auch an Gott. Jesus hat gesagt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Matth. 25,40). Das Doppelgebot der Liebe beschreibt eine grund­sätzliche Lebens­einstellung, die wir nach Gottes Willen haben sollen: Wir sollen Gott und den Menschen in Liebe zugewandt sein, wobei Gott an erster Stelle steht und der Mitmensch nicht aus egoistischen Gründen benach­teiligt werden soll.

„In diesen beiden Geboten“, sagt Jesus, „hängt das ganze Gesetz“. Die Zehn Gebote sind nichts weiter als Entfaltungen des Liebes­gebots; wir können sie am Doppelgebot der Liebe sozusagen aufhängen. Auch alle anderen Anweisungen und Ratschläge der Bibel fordern letztlich nichts anderes, als dass wir Gott und unseren Nächsten lieben sollen. Der Apostel Paulus konnte deshalb den kühnen Satz schreiben: „So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (Römer 13,10). Darum gilt: Wer Gott über alles liebt und seinen Nächsten wie sich selbst, der macht nichts verkehrt. Aber auch umgekehrt gilt: Wer es mit Gottes Geboten in der Bibel nicht so genau nimmt, der zeigt damit, dass er Gott und seinen Nächsten nicht richtig lieb hat. Denn wenn wir Gott lieb haben, dann werden wir ihm zuliebe alles tun, was er uns aufgetragen hat. Und wenn wir Gottes Weisheit und Güte ernst nehmen, dann werden wir das Vertrauen haben: Alles, was er uns im Hinblick auf unseren Nächsten aufgetragen hat, ist gut für unseren Nächsten. Wenn wir unsere Eltern achten, wenn wir die lebenslange Ehe achten, wenn wir das Eigentum und das Leben unserer Mitmenschen achten, dann zeigen wir ihnen damit unsere Liebe – so wie Gott es in den Zehn Geboten fordert und wie es tatsächlich auch am besten ist. Wenn wir das verstanden haben, dann merken wir: Das Doppelgebot der Liebe kann man mit Fug und Recht das höchste Gebot nennen, ohne dass die anderen Gebote dadurch herabgestuft werden. Das Doppelgebot der Liebe ist der Aufhänger für alle anderen Gebote.

Aber wer liebt so? Wer liebt Gott „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt“? Und wer liebt seinen Nächsten kein bisschen weniger als sich selbst?

Es kann nicht anders sein bei uns Sündern: Gottes Gesetz klagt uns an. Gottes Gesetz hält uns einen Spiegel vors Gesicht, in dem wir ungefiltert erkennen, wie es um uns steht. Wenn das alles wäre, was die Bibel uns zu sagen hat, dann würde das Doppelgebot der Liebe nicht nur alle anderen Gebote aufhängen, sondern dann würde es uns Sünder aufhängen; es würde uns zum Tod verurteilen. Aber das ist ja nicht alles. Jesus lässt uns nicht allein mit der Anklage vo Gottes Gesetz, er lässt uns nicht im Stich. Gottes Wort ist mehr als das Gesetz. Und darum hat Jesus seiner Antwort an den Pharisäer noch etwas angefügt: „…und die Propheten“, hat er gesagt. „In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“

Wenn Jesus und die Juden damals vom „Gesetz und den Propheten“ sprachen, dann meinten sie damit die heiligen Schriften des Alten Testaments. Wenn Jesus also gesagt hat: „In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“, dann meinte er damit nicht nur: Vom Doppelgebot der Liebe hängen alle anderen Gebote ab, sondern dann meinte er: Am Doppelgebot der Liebe hängt all das, was der himmlische Vater durch das Gesetz des Mose und durch seine Propheten offenbart hat. Und das ist ja nun wirklich mehr als Gottes Forderungen. Wenn das Gesetz uns als Sünder überführt, dann finden wir in der Heiligen Schrift auch das Einzige, das uns da weiterhelfen kann: das Evangelium – also die gute Nachricht, dass Gott den umkehr­bereiten Sünder nicht fallen lässt, sondern ihm die Schuld vergibt und einen Neuanfang schenkt. Von diesem Neuanfang, von diesem neuen Bund und dem kommenden Messias haben bereits die Propheten des Alten Testaments Zeugnis gegeben. Da verhieß zum Beispiel Joel: „Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll errettet werden“ (Joel 3,5). Und da bezeugte Jesaja vom Gottesknecht Christus: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes. 53,5).

Wir merken: Das wichtigste Gebot in der Bibel ist keineswegs die wichtigste Botschaft Gottes, sondern nur der Aufhänger dafür. Natürlich sollen wir das Doppelgebot der Liebe sehr ernst nehmen und mit ganzer Kraft versuchen, entsprechend zu leben. Aber einen gnädigen Gott und das ewige Leben können wir dadurch nicht finden; die finden wir nur durchs Evangelium. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2017.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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