Wenn Menschen Jesus auf die Anklagebank setzen

Predigt über Matthäus 21,23-27 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein Amerikaner war in ein un­gesichertes Loch in einer Straße gefallen und hatte sich verletzt. Daraufhin verklagte er die christlichen Gemeinden seiner Stadt auf Schmerzens­geld. Seine Begründung: Das Loch war nach heftigen Regenfällen durch Unterspülung entstanden, und für Regen sei Gott ver­antwort­lich; darum sollen Gottes Vertreter auf Erden auch für den Schaden aufkommen. Man weiß nicht, ob man über diesen Mann lachen oder weinen soll, ob er gerissen oder einfach nur naiv ist. Jedenfalls zeigt sein Verhalten eine Einstellung, die man bei vielen Menschen antrifft: Sie wollen Gott auf die Anklagebank setzen und schwingen sich zum Richter über ihn auf. Auch der Gottessohn Jesus Christus hat das in seinen Erdentagen zu spüren bekommen; das gehörte zu seinen vielfältigen Leiden dazu.

Wir wollen im Zusammenhang damit heute über zwei Dinge nachdenken: erstens, wie Menschen Jesus auf die Anklagebank setzen, und zweitens, wie Jesus darauf reagiert.

Wie setzen Menschen Jesus auf die Anklagebank? Wir erfahren es ganz direkt in der Passions­geschichte: Die Führungs­personen des jüdischen Volks, nämlich der Hohepriester und sein Leitungs­kollegium, lassen Jesus festnehmen und verhören ihn vor dem Hohen Rat. Sie klagen ihn des größten Verbrechens an, das man damals kannte: Gottes­lästerung. Es ist ein unfairer Prozess, denn das Urteil steht in ihrem Herzen schon fest, und sie versuchen nur noch, es irgendwie zu begründen. Schon lange vorher ist Jesus von Nazareth ihnen ein Dorn im Auge gewesen, denn er passt nicht in ihr religiöses Schema. Außerdem sind sie eifersüchtig auf ihn, denn er erfreut sich höchster Beliebtheit beim Volk. Aber nicht erst in der Nacht seiner Kreuzigung setzen die führenden Juden Jesus auf die Anklagebank, sie haben es schon vorher immer wieder getan, wenigstens indirekt. Ein Beispiel dafür ist das Gespräch mit Jesus, das wir eben als Predigttext gehört haben. Eigentlich ist es eher ein Verhör als ein Gespräch. Als Jesus öffentlich im Tempel predigt, treten sie an ihn heran und fragen ihn: „Aus welcher Vollmacht tust du das, und wer hat dir die Vollmacht gegeben?“ Darfst du das überhaupt – hier im Tempel predigen? Hat dir das jemand erlaubt? Und wenn ja, wer? Der Hohepriester und seine Berater fühlen sich als Herren des Tempels, und sie haben Jesus keine Predigt­lizenz gegeben. Wenn er aber behauptet, dass er direkt aus göttlicher Vollmacht handelt, dann muss er ihnen beweisen, dass er ein Prophet ist – vielleicht mit einem Wunder­zeichen. Schon früher hatten sie ihn auf­gefordert, sich mit einem Wunder zu legiti­mieren, aber das hatte er abgelehnt. Was maßen sie sich an! Was schwingen sie sich zu Kontrol­leuren und Richtern über Jesus auf! Was setzen sie ihn auf die Anklagebank! Hat Jesus denn nich immer wieder durch Heilungen und andere Wunder unter Beweis gestellt, dass er von Gott kommt? Haben die Hörer seiner Predigten nicht immer wieder fest­gestellt, dass er direkt aus göttlicher Vollmacht redet, nicht aus abgeleiteter Vollmacht wie die Schrift­gelehrten? Und kennen der Hohepriester und die Theologen in seinem Umfeld die heiligen Schriften nicht gut genug um fest­zustellen, dass auf ihn alle geweissagten Merkmale des Messias zutreffen? Aber sie bleiben in ihren Vorurteilen gefangen; sie demütigen und beleidigen den Herrn mit ihrer Forderung nach einem Vollmachts­beweis.

Liebe Brüder und Schwestern, uns liegt es fern, den Gottessohn auf die Anklagebank zu setzen; jedenfalls bewusst tun wir das nicht. Und doch kann es geschehen, dass wir ihm unbewusst ähnliches Leid zufügen wie das hohe­priester­liche Gremium damals. Immer wenn wir Gottes Willen nicht verstehen und „Warum?“ fragen, fordern wir eigentlich eine Begründung von ihm, eine Erklärung, eine Recht­fertigung für sein Tun. Es ist tatsächlich nicht viel anders, als würden wir ihn fragen: „Aus welcher Vollmacht tust du das?“ Dasselbe geschieht, wenn wir mit Dingen unzufrieden sind, auf die wir selbst und andere Menschen keinen Einfluss haben – zum Beispiel, wenn wir über das Wetter klagen. Auch damit setzen wir unbewusst Gott auf die Anklagebank und beleidigen ihn damit. Aus menschlicher Sicht mögen solche Gedanken unerheblich sein, weil sie keinen direkten Einfluss auf unser Verhalten haben, aber in Gottes Augen wiegen sie schwer: Sie zeugen von mangelnder Gottes­furcht. Auch für solche Sünden ist Jesus seinen schweren Weg gegangen; auch diese Sündenschuld hat er am Kreuz auf sich genommen. So dürfen wir ihn um Vergebung bitten und dabei gewiss sein, dass er uns erhört. Und wir können ihn bitten, dass wir von ganzem Herzen demütig beten lernen: Dein Wille geschehe.

Zweitens: Wie reagiert Jesus darauf, dass Menschen ihn auf die Anklagebank setzen? Wie hätte er denn reagieren können, als die führenden Juden ihn im Tempel nach seiner Vollmacht fragten? Er hätte sich einfach von ihnen abwenden können bei so einem unerhörten Ansinnen. Oder er hätte es ihnen mal so richtig zeigen können, hätte ein Wunder tun können, dass ihnen der Atem stockt. Oder er hätte sie ausschimpfen können wegen dieser Anmaßung. Aber er lässt sich demütig auf ihre Frage ein und spricht geduldig mit ihnen – wie er es so oft schon getan hat. „Passion“ heißt nicht einfach „Leiden“, sondern es heißt eigentlich „Erdulden“; daher kommt auch unser Fremdwort „Patient“. Jesus erduldet es, dass man ihn auf die Anklagebank setzen will, er erträgt es und redet geduldig mit denen, die ihn so plagen. Jedoch unterwirft er sich ihnen dabei nicht, sondern macht deutlich, wer denn eigentlich der Herr und Richter ist. Er tut es in diesem Gespräch auf sehr verblüffende Weise: Er bittet die Gruppe, zunächst ihm eine Frage zu beantworten. Er fragt sie: Hat Johannes der Täufer aus göttlicher Vollmacht oder eigenmächtig gewirkt? Das hohe­priester­liche Gremium weiß keine Antwort und zieht sich zur Beratung zurück. Dabei stellt sich heraus, dass sie eine wichtige Voraus­setzung nicht erfüllen, um andere nach ihrer Legitimation zu fragen. Es geht ihnen nämlich nicht wirklich um die Frage, wer in göttlicher Vollmacht auftritt und wer nicht, sondern es geht ihnen nur darum, mit mehr oder weniger diplo­matischem Geschick Unruhe im Volk zu vermeiden und die eigene Macht zu erhalten. Wenn sie erkannt hätten, dass Johannes wirklich ein Prophet ist, dann hätten sie auf ihn hören müssen, und sie hätten sich auch schützend vor ihn stellen müssen, als König Herodes ihn wegen seiner Bußpredigt ins Gefängnis werfen ließ. Wenn sie andererseits davon überzeugt gewesen wären, dass er ein falscher Prophet ist, dann hätten sie das Volk vor ihm warnen müssen – und dann hätten sie eine ganze Menge Gegenwind vom Volk bekommen. Diese Beratung führt die ganze Wankel­mütigkeit und Lauheit des Gremiums vor Augen. Wenigstens sind sie Jesus gegenüber so ehrlich zuzugeben: „Wir wissen’s nicht.“ So hat Jesus ihnen in aller Liebe, aber auch in aller Wahrhaftig­keit deutlich gemacht, dass er ihnen keine Rechenschaft schuldig ist und ihnen keine Vollmacht vorweisen muss.

Liebe Brüder und Schwestern, so geht Jesus mit allen Menschen um, auch mit uns: Er handelt mit uns in Liebe und Wahrhaftig­keit. Er wendet sich nicht von uns ab, wenn wir ihn betrübt haben, und er lässt auch kein zorniges Gericht über uns hernieder­gehen. Vielmehr redet er mit uns, wirbt um uns und führt uns zu der Erkenntnis, wie wir wirklich vor ihm und dem himmlischen Vater dastehen: als arme Sünder; als Leute, die wenig wissen und wenig verstehen; als Leute, die aus eigen­süchtigen Interessen oder auch aus Angst halbherzig hin‑ und her‑eiern, wenn ein klares Urteil und Bekenntnis nötig wäre. Wie oft haben auch wir hinhaltend taktiert, als wir uns klar zu unserm Herrn Jesus Christus und zu Gottes Reich hätten bekennen sollen! Wie oft haben wir ver­schwiegen, dass wir die Bibel als Gottes unfehlbares Wort hochhalten – trotz all der sogenannten „Vernunft­gründe“, die heute dagegen ins Feld geführt werden. Aber auch für dieses Fehl­verhalten hat unser Herr gelitten, auch das hat er am Kreuz auf sich genommen. So dürfen wir ihn um Vergebung bitten und dabei gewiss sein, dass er uns erhört. Und wir können ihn um Mut bitten, dass wir uns künftig ent­schiedener zu ihm als unsern Herrn bekennen – ohne uns dabei zu sorgen, was das für Folgen haben könnte. Und dann lasst uns lernen, ebenso geduldig, liebevoll und wahrhaftig zu leben, wie er es uns vorgelebt hat! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2017.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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