Nicht töten

Predigt über Matthäus 5,21-26 zum 4. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn man wahllos Leute bitten würde, eines der Zehn Gebote zu nennen, dann würden die meisten spontan antworten: „Du sollst nicht töten!“ Das 5. Gebot ist ohne Zweifel das bekannteste und für nicht wenige wohl auch das einzige, das sie kennen.

„Du sollst nicht töten!“ – um dieses Gebot soll es in der heutigen Predigt gehen. Da könnte man viele wichtige Themen diskutieren. Wir könnten etwa fragen: Hat ein moderner Staat das Recht, die Todesstrafe zu verhängen? Oder: Kann man durch Töten im Krieg Schlimmeres verhindern? Oder: Tragen die Produzenten und Lieferanten von Kriegswaffen eine Mitschuld am Morden und am Terror in der Welt? Oder: Gibt es Gründe, die das Töten ungeborener Kinder im Mutterleib recht­fertigen? Oder: Sind Leichtsinn im Straßen­verkehr und Raubbau an der eigenen Gesundheit nicht auch eine Art von Töten?

Jesus hat das 5. Gebot in dem Abschnitt der Bergpredigt besprochen, den wir eben als Predigttext gehört haben. Interes­santer­weise sagte er darin zu all diesen Fragen nichts. Stattdessen hat er das Gebot „Du sollst nicht töten“ in einer Weise gedeutet, die uns verblüfft.

Jesus machte seinen Jünger Folgendes klar: Wenn jemand einen Mord begeht, dann wird er an der menschlichen Gemeinschaft schuldig und muss entsprechend bestraft werden; das leuchtet jedem Kind ein, und so verfügt es auch das Gesetz. Aber bereits wenn jemand seinen Mitmenschen verachtet und ihn beschimpft, wird er vor den Menschen und vor Gott am 5. Gebot schuldig. Die Gründe für solchen Groll können ganz verschieden sein; Jesus lässt das offen. Vielleicht haben sich zwei gestritten, vielleicht hat der eine den anderen schwer enttäuscht, vielleicht sind sie sich von Anfang an un­sympathisch gewesen oder vielleicht haben sie sich nur miss­verstanden. Was auch immer es ist: Ein Jünger Jesu sollte seinen Groll überwinden und möglichst schnell ein gutes Einvernehmen mit seinem Widersacher herstellen. Das ist Gott ganz wichtig – wichtiger noch als Gottesdienst und Dankopfer. Darum: Wenn jemand ein Loblied singt oder Geld spendet, und ihm wird dabei bewusst, dass er mit jemandem Streit hat, sollte er lieber erst einmal versuchen, das in Ordnung zu bringen. Schon die alt­testament­lichen Propheten haben gesagt: Wenn jemand mit lieblosen Gedanken im Herzen Opfer zum Tempel bringt, dann hat Gott keinen Gefallen daran. Ein Jünger Jesu sollte auch alles daran setzen, Gerichts­prozesse mit seinen Mitmenschen zu vermeiden, sonst könnte es übel für ihn ausgehen. Wenn er die Chance hat, noch auf dem Weg zur Verhandlung mit seinem Gegner Frieden zu schließen, dann sollte er sie nutzen.

Es wäre nun falsch, wenn wir diese Anweisungen Jesu schematisch verstünden. Jesus wollte nie schematisch verstanden werden, und er hat das schematische Gesetzes­verständnis der Pharisäer ausdrücklich kritisiert. Es wäre zum Beispiel falsch, wenn man aus Jesu Worten lediglich die Regel herausliest: Wer mit jemandem Streit hat, darf nicht am Heiligen Abendmahl teilnehmen. In der Vergangen­heit haben manche Christen ja versucht, die Worte Jesu auf diese einfach Formel zu bringen. Aber Jesus möchte nicht einfach, dass zerstrittene Menschen dem Altar­sakrament fernbleiben, denn dadurch wird nichts besser. Jesus möchte vielmehr, dass sie sich möglichst schnell versöhnen, um dann auch wieder mit ganzem Herzen den Gottesdienst mitfeiern zu können. Ebenso falsch wäre es, wenn man aus Jesu Worten ein grund­sätzliches Verbot von Zivil­prozessen herauslesen wollte. Es gibt durchaus Situationen, wo es auch für Christen gut und hilfreich ist, Streitfälle vor Gericht klären zu lassen. Aber das sollte nicht mit Groll im Herzen gegen den Prozess­gegner geschehen, sondern mit Respekt und Fairness.

Jesus macht mit seinen Worten einfach deutlich, wie wichtig es Gott ist, dass wir Menschen unter­einander Frieden haben. Wir sollen uns nicht nur davor hüten, tatsächlich Totschläger zu sein, sondern auch mündlich und gedanklich. Hüten wir uns davor, jemandem im Zorn hinterher­zurufen: „Ich bringe dich um!“, und hüten wir uns davor, so etwas auch nur zu denken! Stattdessen sollen wir unseren Mitmenschen verzeihen, wenn sie uns weh getan haben, und das nötigenfalls auch siebenmal siebzigmal. Wir sollen unsern Schuldigern vergeben, wie Gott uns vergibt, und wir sollen uns mit unseren Feinden versöhnen. Wenn wir uns über irgendwelche Leute geärgert haben, dann sollen wir ihre Fehler nicht herum­tratschen und uns vor anderen darüber empören, sondern wir sollen sie ent­schuldigen, Gutes von ihnen reden und alles zum Besten kehren. Das ist eine ganz wichtige und dringliche Aufgabe, wichtiger noch als Loblieder singen und Dankopfer bringen.

Was hat das aber nun mit dem 5. Gebot zu tun: „Du sollst nicht töten“? Gott möchte, dass wir keine Totschläger sind. Dabei geht es ihm nicht nur darum, dass wir keine tödlichen Waffe anrühren und gefährlichen Hand­greiflich­keiten aus dem Weg gehen. Es geht Gott vielmehr darum, dass wir von innen heraus keine Totschläger sind, durch und durch, mit Gedanken, Worten und Werken. Um es mit einem modernen Wort zu beschreiben: Gott möchte, dass wir das 5. Gebot nachhaltig befolgen. Ich will das mal gleichnis­haft an einer politischen Frage deutlich machen, und zwar an der aktuellen Flüchtlings­problematik: Wenn Menschen aus Ländern fliehen, in denen menschen­unwürdige Lebens­umstände herrschen oder in denen sogar unmittelbar ihr Leben bedroht ist, dann müssen wir ihnen Asyl gewähren; das gebieten nicht nur die Menschen­rechte und das Grundgesetz, sondern das gebietet auch die Nächsten­liebe. Freilich ist allen bewusst, dass das eine Menge Probleme mit sich bringt und dass wir in Deutschland keineswegs alle Menschen aufnehmen können, die hier auf ein besseres Leben hoffen. Deswegen sind sich die Politiker ausnahms­weise einig in dem Urteil: Die Lebens­bedingungen in den Herkunfts­ländern müssen besser werden, damit die Leute es nicht mehr nötig haben zu fliehen. Mit anderen Worten: Man muss die Flucht-Ursachen beseitigen; man muss das Problem an seiner Wurzel bekämpfen. Genau darum geht es Jesus, und darum geht es Gott im 5. Gebot: Wenn man möchte, dass Menschen sich nicht mehr wehtun und umbringen, dann müssen sie in ihrem Herzen friedlicher werden. Sie sollen lernen, ihren inneren Groll und alle feindliche Gedanken zu bekämpfen. Und sie sollen aufhören, ihre Mitmenschen zu beschimpfen beziehungs­weise über sie zu schimpfen; stattdessen sollen sie freundlich und liebevoll reden. Am besten, jeder fängt damit in seinem eigenen Herzen an. Denn das menschliche Herz ist das „Herkunfts­land“ von Zwietracht oder Eintracht, von Krieg oder Frieden. Wenn Jesus das 5. Gebot auslegt, dann sagt er im Grunde genommen dies: Seht zu, dass euer Herz ein sicheres Herkunfts­land wird, sodass niemand sich fürchten muss vor dem, was da gedacht und geplant wird.

Ja, so hat Jesus es damals seinen Jüngern gepredigt, und so predigt er es auch uns, seinen heutigen Jüngern. Er rührt damit an eine wunde Stelle. Denn auch wenn wir Christen es sonst schaffen, einigermaßen anständig zu leben, in dieser Hinsicht sind wir oft ganz schwach. Es kann schnell geschehen, dass unser Herz voller Groll ist, dass wir hässliche Gedanken über bestimmte Mitmenschen haben, dass wir sie verachten, dass wir lieblos über sie reden, dass wir sie beschimpfen oder dass wir ihnen eins auswischen wollen. Diese bittere Wurzel steckt tief drin in unserer menschlichen Natur; da merken wir etwas von unserer Erbsünde. So werden wir schuldig am 5. Gebot, denn, wie gesagt: Das Töten beginnt mit Groll im Herzen. Vor menschlichen Gesetzen reicht es aus, dass wir uns unter Kontrolle behalten und unser Groll sich nicht in brutaler Gewalt entlädt. Die Schrift­gelehrten und Pharisäer zu Jesu Zeiten meinten, dass solche Selbst­disziplin und solches äußere Befolgen von Vorschriften sie auch vor Gott gerecht mache. Jesus aber hat in der Bergpredigt gesagt: „Wenn eure Gerechtig­keit nicht besser ist als die der Schrift­gelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Matth. 5,20). Vor Gott ist nämlich bereits der Groll im Herzen eine Sünde gegen das 5. Gebot.

Nun merken wir allerdings: Wir schaffen diese „bessere Gerechtig­keit“ nicht. Wir müssen immer wieder feststellen, dass wir keine reine Liebe zu allen Menschen in uns tragen, egal, wie symphathisch sie uns sind und was sie uns angetan haben mögen. Um selig zu werden, brauchen wir darum eine noch bessere Gerechtig­keit. Diese noch bessere Gerechtig­keit können wir nicht durch Selbst­disziplin und auch nicht durch eigene Arbeit an unseren bösen Herzen erlangen, diese noch bessere Gerechtig­keit können wir uns nur schenken lassen. Der, der uns hier so wunderbar das 5. Gebot ausgelegt hat, ist zugleich der, der uns diese noch bessere Gerechtig­keit schenkt und alle Sünde vergibt. „Christi Blut und Gerechtig­keit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid; damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd eingehn.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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