Die Familie der Heiligen

Predigt über Matthäus 12,46-50 zum Gedenktag der Heiligen

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Manche Christen haben ein so intensives Familien­leben, dass sie darüber ihre Gemeinde ver­nachlässi­gen. Sie unternehmen viele Ausflüge und lassen keine Geburtstags­feier bei Verwandten aus, darum sieht man sie sonntags nur selten im Gottes­dienst. Auch zu Weihnachten und zu Ostern hat bei ihnen die Familie Vorrang. Umgekehrt gibt es Christen, die sind so stark in der Kirche engagiert, dass sie darüber ihre Familie ver­nachlässi­gen. Manchmal wird ihnen die Gemeinde sogar gänzlich zur Ersatz­familie. Das ist durchaus nach­vollziehbar: Gott ist ja unser Vater im Himmel, und wir sind seine Kinder. Aus diesem Grund nennen wir uns nach Jesu Willlen „Brüder und Schwestern“; ich tue das ja auch in jeder Predigt. In der Kirche sind wir sozusagen die Familie der Heiligen, geheiligt durch das Blut Jesu Christi und durch das Wasser der Taufe. Aber kann man diese Familie der Heiligen gegen die natürliche Familie ausspielen?

Wenn wir auf den heutigen Predigttext schauen und auf manches andere, was Jesus gesagt und getan hat, dann kann man diesen Eindruck gewinnen. Schon im Alter von zwölf Jahren war es Jesus wichtiger gewesen, sich im Tempel, also im Haus seines himmlischen Vaters, aufzuhalten, als brav mit seinen Eltern nach Hause zu gehen. Nicht mit Maria und Josef wollte er eine heilige Familie sein, sondern mit Gott und den Schrift­gelehrten im Tempel. Das war zu damaliger Zeit noch unerhörter, als es heute ist, denn die natürliche Familie galt damals als Mittelpunkt des gemeinschaft­lichen Lebens: Erziehung, Bildung, Wirtschaft, Sozial­fürsorge, zivile Recht­sprechung und sogar Verteidigung waren in erster Linie Sache der Familie – alles Dinge, die heute mehr oder weniger an den Staat delegiert worden sind. Jesus aber schien die natürliche Familie unwichtig zu sein. Nach seiner Taufe hatte er den Beruf des Zimmermanns an den Nagel gehängt, seine Heimatstadt verlassen und eine Tätigkeit als heilender Wander­prediger aufgenommen. Viele hielten ihn deswegen für verrückt, sogar seine nächsten Angehörigen. Im Markus­evangelium lesen wir: „Sie machten sich auf den Weg, ihn zu ergreifen, denn sie waren der Meinung: Er hat den Verstand verloren“ (Markus 3,21). Dann schließt sich die Begebenheit an, von der auch Matthäus in unserem Predigttext berichtet. Jesus predigt gerade in einem vollen Haus vor seinen Jüngern und vor vielen Neugierigen. Da unterbricht ihn einer und sagt: „Draußen ist deine Mutter mit deinen Brüdern, die wollen dich sprechen.“ Jesus fragt in die Runde: „Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?“ Und dann macht er eine Handbewegung in Richtung der Jünger, die immer treu mit ihm mitziehen, und ruft aus: „Seht her, das ist meine Mutter, das sind meine Brüder!“ Das ist meine Familie! Und zur Erklärung fügt er an: „Wer nämlich den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ Der gehört zu meiner Familie!

Waren Jesus seine natürlichen Angehörigen so egal, dass er sie einfach draußen stehen ließ? Ließ er sie gehen, ohne wenigstens ein paar Worte mit ihnen gewechselt zu haben? Ich denke nicht, ich kann mir das nicht vorstellen, und so steht es auch nicht in der Bibel. Der Bericht bricht hier ab, weil mit dem letzten Satz Jesu das Ent­scheidende gesagt ist. Aber das schließt nicht aus, dass Jesus danach erst mal eine Pause einlegte und mit seiner Mutter redete sowie mit seinen vier jüngeren Brüdern. Auch als Zwölf­jähriger im Tempel war er ja schließlich ohne Murren mit seinen Eltern wieder nach Hause gewandert; es heißt da aus­drücklich: „Er war ihnen untertan“ (Lukas 2,51). Jesus hat das Gebot „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ immer sehr ernst genommen. Noch unter Todesqualen am Kreuz sorgte er dafür, dass der Jünger Johannes seine Mutter zu sich aufnimmt. Jesus hat die geistliche Familie seiner Jünger keineswegs gegen seine leibliche Familie ausgespielt, sondern er hat beide Familien wert­geschätzt – jeweils in der Weise, wie ihnen Wert­schätzung gebührt. Dabei hat er allerdings keinen Zweifel daran gelassen, dass der heiligen Familie unter dem himmlischen Vater mehr Wert­schätzung gebührt als der natürlichen Familie. Jedem Jünger Jesu muss klar sein: Meine Beziehung zu Jesus und zum himmlischen Vater ist stärker und dauerhafter, als es die engste familiäre Bindung in den Strukturen dieser Welt sein kann. Im Idealfall trifft aber beides zusammen: Die natürlichen Angehörigen folgen ebenfalls Jesus nach; die Familie der Verwandten und die Familie der Heiligen fallen zusammen. So ist es ja dann nach Jesu Auferstehung mit seiner natürlichen Familie auch gewesen: Seine Mutter Maria wurde zu einem respek­tierten Glied der Jerusalemer Urgemeinde, und sein Bruder Jakobus wurde ein Pastor; er ist der Verfasser des Jakobus­briefs, der uns im Neuen Testament überliefert ist.

Wir kehren zurück zu dem letzten und ent­scheidenden Satz unseres Predigt­textes. Jesus verkündete: „Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ – der ist meine Familie, die Familie der Heiligen. Da fragen wir uns: Gehören wir denn überhaupt dazu? Sind wir denn wirklich heilige Brüder und Schwestern – Geschwister Jesu und Kinder des himmlischen Vaters? Tun wir denn seinen Willen? Denn das ist doch die ent­scheidende Aussage in Jesu Predigt: „Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel…“

Wenn wir auf Gottes Gebote schauen, dann können wir nur traurig nein sagen. Wir tun nicht den Willen des Vaters im Himmel – jedenfalls nicht vollständig, nicht so, wie er es von uns erwartet. Wir lieben ihn nicht über alles, und wir lieben unsere Mitmenschen nicht genauso wie uns selbst, sondern meistens weniger als uns selbst, und das auch noch mit Abstufungen, je nachdem, wie sympathisch sie uns sind. Nein, wir schaffen das nicht und haben von daher kein Recht, uns zur Familie der Heiligen zu rechnen.

Aber nun ist Jesus ja gerade deswegen Mensch geworden, damit wir in den Schoß von Gottes Familie zurückkehren können. Und er ist deswegen ans Kreuz gegangen, damit uns unsere Sündenschuld nicht mehr von Gottes Familie ausschließt. Ich wiederhole noch einmal, was ich zu Anfang gesagt habe: Wir sind die Familie der Heiligen, weil wir geheiligt sind durch das Blut Jesu und durch das Wasser der Taufe. „Den Willen Gottes tun“ bedeutet deswegen nun etwas anderes, als alle Gebote fehlerlos zu halten. Jesus selbst hat es in einer anderen Predigt so definiert: „Das ist der Wille meines Vaters, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe“ (Joh. 6,40). Den Willen Gottes tun bedeutet, seinen eingeborenen Sohn anzuerkennen und ihm vertrauens­voll zu folgen. Volker Stolle, ein Theologie­professor unserer Kirche im Ruhestand, hat in einem Bibel­kommentar darauf hingewiesen, dass Jesus seinerseits solches Vertrauen hinsichtlich seines himmlischen Vaters vorgelebt hat. Im Garten Gethsemane lieferte er sich ganz dem Willen des Vaters aus und war bereit, den Leidenskelch zu trinken. Und seinen Jüngern zum Vorbild betete er auch schon vorher: „Vater, dein Wille geschehe.“ Volker Stolle beschreibt das Tun von Gottes Willen dem­entsprechend als „auf­merksames Achthaben auf Jesus in seiner Nachfolge“.

Wir müssen uns also von unserer ziemlich deutschen Vorstellung ver­abschieden, „den Willen Gottes tun“ bedeute, sich von morgens bis abends abzurackern und aufzuopfern im Dienst an der Kirche sowie im Dienst der Nächsten­liebe. Den Willen Gottes tun bedeutet einfach, unserm Vater im Himmel und unserm Bruder Jesus vertrauen. Vetrauen aber beginnt mit Zuhören. Darum deutete Jesus mit seiner Hand auf die aufmerksam zuhörenden Jünger, als er sagte: „Seht her, das sind meine Brüder!“ Die tun gerade den Willen Gottes, indem sie hören, was Jesus ihnen vom Kommen des Gottes­reiches sagt. Und sie hören nicht nur aus Neugierde oder gar skeptisch wie so mancher in der Volksmenge, sondern sie hören mit der Bereit­schaft, es sich persönlich gesagt sein zu lassen. Sie hören so, wie die Angehörigen einer antiken Familie auf die Stimme ihres Hausvaters hörten beziehungs­weise hören sollten.

Liebe Brüder und Schwestern, lasst es uns den ersten Jüngern nachtun. Lasst uns vertrauens­voll auf die Stimme von Jesus hören und damit auf die Stimme des himmlischen Vaters, denn damit tun wir Gottes Willen. Lasst uns nicht müde werden, die Gottes­dienste zu besuchen und auch im Alltag die Bibel zu lesen. Wir stehen dabei nicht in der Gefahr, dass wir dadurch unsere natürlichen Familien oder andere wichtige Dinge ver­nachlässi­gen. Denken wir nur mal darüber nach, wieviel Zeit wir oft mit unnützen Dingen vertrödeln, dann werden wir neben unserer natürlichen Familie bestimmt genug Zeit für unsern himmlischen Vater und für die Familie der Heiligen finden. Denn sie ist letztlich wichtiger als alles andere. Und sie ist die einzige, die ewig bleibt. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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