Wer kennt Jesus?

Predigt über Matthäus 26,57 – 27,10 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Die meisten Menschen kennen Jesus. Sie haben diesen Namen wenigstens schon mal gehört. Und wohl kaum einer von ihnen wird bestreiten, dass Jesus von Nazareth wirklich gelebt hat. Das bedeutet aber nicht, dass die meisten Jesus wirklich kennen – im biblischen Sinne kennen. Das biblische Wort „kennen“ hat nämlich bereits vom Alten Testament her eine viel tiefere Bedeutung als dasselbe Wort im Deutschen. „Kennen“ sowie auch „erkennen“ im biblischen Sinn beschreibt eine weit­reichende Überein­stimmung und Einheit, wie sie etwa zwischen Eheleuten besteht, wenn sie sich lieben. In dieser Weise taucht das Wort im Neuen Testament für die Beziehung der Gläubigen zu Jesus auf. „Erkenntnis der Wahrheit“ ist ein anderer neu­testament­licher Begriff für den christ­lichen Glauben. Wer in diesem Sinn Jesus kennt, der weiß nicht bloß, dass es ihn gibt, sondern der vertraut ihm auch. Und er weiß sich mit dem Herrn verbunden in der Gemein­schaft der Kirche, die deswegen „Leib Christi“ genannt wird.

In dem Abschnitt der Passions­geschichte, den wir eben gehört haben, begegnen uns Personen, die in verschiedener Beziehung zu Jesus stehen. Sie alle kennen ihn im heutigen Sinne des Wortes; aber was das Kennen im biblischen Sinn anbetrifft, da scheiden sich die Geister. Der Hohe­priester Kaiphas will nicht wahrhaben, wer Jesus wirklich ist; die Eingreif­truppe des Hohen­priesters hat keine Ahnung, mit wem sie es zu tun haben; Petrus leugnet, ihn zu kennen, obwohl er ihn sehr gut kennt; und Judas hat heuchle­risch so getan, als ob er ihn kennt, kennt ihn aber eigentlich nicht.

Kaiphas und seine Mitstreiter im Hohen Rat halten an ihrem Voruteil fest, dass Jesus ein Schwindler ist, ein religiöser Hoch­stapler, ein Gottes­lästerer. Um diesem Vorurteil einen Anstrich von Glaub­würdig­keit zu geben, haben sie vor der Gerichts­verhandlung ein paar Leute überreden können, gegen Jesus Zeugnis abzulegen. Aber die Sache entwickelt sich nicht zu ihrer Zufrieden­heit: Die Zeugen sagen Wider­sprüchli­ches über Jesus und offenbaren damit, dass sie lügen. Jesus schweigt zu allem. Still und demütig wie ein Lamm, das zum Schlachter geführt wird, verzichtet er auf jeden Widerstand. So hört Kaiphas weder aus dem Mund seiner Zeugen noch aus dem Mund von Jesus etwas, das einen hin­reichenden Grund zur Ver­urteilung böte. Darum greift der Hohe­priester zum letzten Mittel und verlangt eine eides­stattliche Erklärung von Jesus. Er sagt: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes.“ Da tut der Herr seinen Mund auf und antwortet: „Du sagst es.“ Und dann fügt er diese Prophe­zeiung an: „Von nun an werdet ihr sehen den Menschen­sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels.“

Jesus sagte das nicht nur für den Hohen­priester und den Hohen Rat. Jesus sagte das vor allem für die Menschen, die ihn kennen wollen – die innige Gemein­schaft mit ihm suchen und die durch ihn Gott erkennen wollen. Mit anderen Worten: Jesus sagte das auch für uns. Wenn wir Jesus wirklich kennen und im Glauben an ihn gefestigt werden wollen, dann müssen wir vor allem auf diese Worte achthaben. Denn da steckt alles drin, was von Jesus wichtig ist. Mit dem kurzen Satz „Du sagst es“ bestätigte der Herr, was der Hohe­priester ihn fragte: Ja, er ist der Christus, der Messias, der ver­sprochene Erlöser. Und ja, er ist der König, der kommt, um sein Volk zu erretten und es für immer zu regieren. Und ja, er ist der Sohn Gottes, wahrer Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren. Mit seiner Verheißung aber weist er auf das Ziel aller Geschichte hin: Einst wird er sichtbar aus dem Himmel wieder­kommen. Dann werden alle Menschen erfahren, dass er mit dem Vater die absolute Regierungs­macht innehat. Er ist der Herr über alles, in alle Ewigkeit. Er ist derjenige, den der Prophet Daniel „Menschen­sohn“ genannt und von dem er diese Dinge prophezeit hat. Für uns hat Jesus das gesagt, damit wir ihn besser erkennen und die Gewissheit bekommen, dass wir auch in Zukunft ganz eins sein werden mit ihm – nach unserem Erdenleben und nach der Zeit dieser Welt.

Für die Ohren des Kaiphas ist das allerdings alles nur Gottes­lästerung, denn sein Vorurteil erlaubt ihm nicht, in Jesus den wahren Messias und den wahren Gottessohn zu erkennen. Empört fragt er nach der Meinung der anderen Rats­mitglieder. Sie alle halten Jesus des Todes schuldig, denn sie alle haben ihn nicht erkannt. Dann wird Jesus von den Wachleuten angespuckt und geschlagen. Dabei spielen sie ein grausames „Kennst-du-mich? „-Spiel mit ihm: Einer haut ihm die Faust ins Gesicht und und fragt dann lachend: Na, kennst du mich, du Prophet? Weißt du, wer dich geschlagen hat? Die Armen! Natürlich kennt er sie ganz genau, die ihn da schlagen; kennt sie bis in die Tiefe ihres Herzens; kennt sie besser, als sie sich selbst kennen. Aber sie hätten es nötig, ihn zu erkennen.

Als Jesus aus Gethsemane abgeführt wurde, war Petrus mit großem Sicherheits­abstand hinter ihm hergegangen – bis hin zur Ver­sammlungs­halle des Hohen Rates beim Haus des Hohen­priesters. Im Hof setzt sich Petrus zum Dienst­personal und fragt sich, wie es nun weitergeht mit seinem Herrn. Da sagt plötzlich eine Dienerin zu ihm: „Du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa.“ Petrus spürt, wie ihm heiß wird und der Angst­schweiß den Rücken herunter­läuft. Wenn jetzt heraus­kommt, dass er zu den engsten Vertrauten von Jesus gehört und dass er ihn sogar mit Waffen­gewalt verteidigen wollte, dann ist er geliefert. Petrus versucht, möglichst gelassen zu antworten: „Ich weiß nicht, was du sagst.“ Dann entfernt er sich eilig aus dieser un­angenehmen Situation und sucht Zuflucht im Eingangs­bereich der Halle. Dort sind einige Knechte und Mägde in ein Gespräch vertieft. Da streift ein Seitenblick einer Magd den Petrus, und er hört, wie sie in das Gespräch einwirft: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth.“ Nun verliert Petrus endgültig die Fassung. Er mischt sich ein und bezeugt, ja schwört sogar: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“ Was für ein erbärm­liches Anti-Bekenntnis zu Jesus! Aber es nützt ihm nichts. Die Gruppe hört aus seinen wenigen Worten einen fremden Dialekt heraus, den Dialekt der Galiläer. Was sollte ein Galiläer mitten in der Nacht im Hof des Hohen­priesters zu suchen haben, wenn er nicht in irgendeiner Beziehung zum Angeklagten steht, der ja ebenfalls aus Galiläa stammt? Darum sagen die Dienstleute des Hohen­priesters zu Petrus: „Wahr­haftig, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich.“ Petrus schwört noch einmal: „Ich kenne den Menschen nicht.“ Dabei kennt er doch seinen Meister so gut. Dabei weiß er doch, dass er nicht nur ein Mensch ist, sondern zugleich der wahre Gott. Dabei wollte er doch zu ihm stehen, komme was wolle, bis in den Tod. Er wollte Jesus so kennen, wie man im biblischen Sinne jemand kennt: in völliger Überein­stimmung und Einheit, die nichts und niemand auseinander­bringt. Stattdessen hört er sich sagen: „Ich kenne ihn nicht.“ Aus Angst, aus Feigheit.

Ach, wie oft haben wir schon so getan, als ob wir Jesus nicht kennen! Wie oft waren wir im Geheimen froh, dass man uns das Christsein nicht an der Nasenspitze ansieht! Wie oft haben wir ge­schwiegen, wo es nötig gewesen wäre zu bezeugen: Ich kenne ihn und ich halte zu ihm, denn nichts in der Welt ist mir wichtiger als er. Wir sind nicht besser als Petrus: Wir kennen den Herrn, aber haben das verleugnet – vielleicht schon mehr als dreimal. Und wenn wir dann vom Hahnen­schrei hören, der Petrus bewusst macht, was er getan hat, dann gilt dieser Hahnen­schrei auch uns. Wir stehen dann auch betrübt da und wissen: Eigentlich habe ich gar nicht mehr verdient, ein Jünger des Herrn zu sein. Dass wir ihn dennoch weiter kennen dürfen, dass wir dennoch weiter zu ihm gehören und dies gewiss glauben dürfen, das haben wir nur seiner Liebe zu verdanken und der Tatsache, dass er auch diese Schuld mit ans Kreuz genommen hat – die Schuld des Petrus und meine und deine Schuld.

Noch ein anderer Jünger empfindet tiefe Reue in dieser Nacht: Judas Iskariot. Als er vom Todesurteil erfährt, das über Jesus gefällt ist, bringt er den Lohn für seinen Verrat zurück zum hohen­priester­lichen Rat und sagt: „Ich habe Unrecht getan, dass ich un­schuldiges Blut verraten habe.“ Aber anders als bei Petrus mündet die Reue des Judas nicht in der Vergebung, sondern in der Ver­zweiflung. Judas nimmt sich das Leben. Was ist der Grund dafür? Warum hat der Eine zum Heil zurück­gefunden, der Andere nicht? Es liegt daran: Petrus hat Jesus in Wahrheit gekannt, Judas aber hat ihn in Wahrheit nicht gekannt. Petrus hat ihm vertraut und an ihn geglaubt, Judas aber nicht. Denn was war es, das dem Judas so schrecklich leid tat? Es tat ihm nur leid, dass er einen un­schuldigen Menschen seinen Henkern aus­geliefert hatte. Es hätte auch ein anderer als Jesus sein können, dann hätte ihm das ebenso leid getan. Er glaubte nicht, dass Jesus Gottes Sohn ist; er kannte ihn nicht im biblischen Sinn. Er hatte kein Vertrauen, dass Jesus ihm das jemals verzeihen und er wieder mit ihm und Gott ins Reine kommen könnte. So blieb seine Umkehr auf halben Weg stecken: Er hatte nur Reue, aber keinen Glauben an Gottes Vergebung. Das musste in der Ver­zweiflung enden. Petrus dagegen kannte seinen Herrn, hat ihn immer gekannt. Als er sagte, dass er ihn nicht kennt, da log er, und als er das dann auch noch beschwor, das legte er einen Meineid ab. Das ist schlimm, das ist böse. Aber weil Petrus seinen Herrn kannte, wusste er: Der kann auch ganz schlimme und ganz böse Dinge vergeben. So blieb die Reue des Petrus nicht auf halben Weg stecken, sondern führte zur Umkehr, zur Annahme von Gottes Vergebung und zu einem Neuanfang.

So, liebe Brüder und Schwestern, sollen, wollen und können auch wir Jesus kennen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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