Wer ist Jesus?

Predigt über Matth. 21,10‑11 zum 1. Advent

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein merk­würdiger Konvoi nähert sich über die Spreebrücke der Fürsten­walder Innenstadt: Unzählige Fahrräder, Mopeds und Motorräder eskortieren einen Kleinwagen. Wenn die Begleiter nicht so ein buntes Völkchen wären, dann vermutete man die Anreise eines Staats­gastes oder eines anderen Promi­nenten. Aber die Begleiter klingeln, hupen und johlen vor Freude, so als ob sie im Fussball­stadion wären. Außerdem winken sie ausgelassen mit allem, was sie gerade finden: Taschen­tücher, Schals oder auch Zeitungen vom Straßen­rand. Die Fürsten­walder Passanten bleiben stehen und staunen. Wer ist das denn da in dem Kleinwagen? Wer zieht hier auf so merkwürdige Weise in die Stadt ein? Man ruft diese Frage den rad­fahrenden Begleitern zu: Wer ist das denn, den ihr da begleitet? Und die Radfahrer antworten: Das ist…

Liebe Brüder und Schwestern, an dieser Stelle breche ich meine Erzählung ab. Ihr Anfang genügt, damit wir uns die Situation vor 2000 Jahren in Jerusalem vorstellen können, als Jesus auf einem Esel in die Stadt einzog, begleitet von einer großen Jünger­schar. Wir haben den ent­sprechenden Bericht heute als Evangeliums­lesung gehört. Von derselben Begebenheit berichtet übrigens auch das Evangelium vom Palm­sonntag; wir haben es hier mit der Besonder­heit zu tun, dass ein Ereignis aus dem Leben Jesu gleich zwei Sonntage im Kirchenjahr prägt. Man kann leicht einsehen, warum das so ist: Der Einzug Jesu in Jerusalem geschah tatsächlich an einem Sonntag, nämlich am Sonntag vor der Woche, in der er starb; darum ist das Ereignis das Thema des Palm­sonntags vor der Karwoche. Zugleich macht der Einzug Jesu in Jerusalem grund­sätzlich sein Kommen zu den Menschen an­schaulich; darum passt er zum 1. Advents­sonntag und zum Auftakt der Advents­zeit. Advent heißt ja „Ankunft“ und bezieht sich auf das Kommen des Gottes­sohnes.

Die Verse, die wir eben als Predigttext gehört haben, folgen unmittelbar auf die heutige Evangeliums­lesung; sie gehören zu Jesu Einzug in Jerusalem dazu. Da wird genau das ge­schildert, was ich in meiner Einleitung von den Fürsten­walder Bürgern gesagt habe. Von den Jerusa­lemern heißt es: „Als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der?“ Der merkwürdige Konvoi bringt also die ganze Stadt ins Grübeln. Und wenn es in Jerusalem damals eine Bild-Zeitung gegeben hätte, dann wäre am nächsten Tag auf der Titelseite ein Foto vom Mann auf dem Esel erschienen, und darüber mit fünf Zentimeter großen Buchstaben die Über­schrift: „Wer ist der?“

„Wer ist der?“, fragten die neugierigen Jerusalemer Jesu Begleiter. Die gaben bereit­willig Auskunft und sagten: „Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa!“ Aus­gerechnet Nazareth, eine Stadt in der tiefsten Provinz! Aus­gerechnet Galiläa, eine unsichere Gegend, wo sich gottlose und zwie­lichtige Gestalten herum­treiben!

Nichts, was im Leben Jesu passierte, ist zufällig; alles hat seinen Sinn in Gottes Heilsplan. Vieles ist darum von Propheten bereits Jahr­hunderte zuvor geweissagt worden. Der Wochen­spruch zum 1. Avent stammt aus dem Wort des Propheten Sacharja, mit dem er den Einzug des armen und fried­fertigen Königs nach Jerusalem auf einem Esel prophezeit hat. Und der 24. Psalm (der heutige Eingangs­psalm) nennt wiederholt die Frage, die sich die Jerusalemer Bürger stellten: „Wer ist der König der Ehren?“ Ja, wer ist das denn nun, der da im Triumphzug wie ein siegreicher König einzieht?

Die Antwort ist zunächst ein Name: Jesus aus Nazareth. Die Herkunfts­angabe ersetzte damals den Familien­namen; wir könnten ihn auch Jesus Nazarenus nennen. Aber ein Name beantwortet die Frage nicht wirklich. Ein Name würde nur helfen, wenn man über die betreffende Person schon vorher viel erfahren hat und nun bestätigt bekommt: Das ist er! Aber nun enthält die Auskunft der jubelnden Jüngerschar ja mehr als den Namen, sie enthält auch noch eine Art Berufs­bezeich­nung: Er ist ein Prophet. Ein Prophet, das wusste damals jedes Kind, ist jemand, der Botschaften direkt von Gott empfängt und den Auftrag hat, sie anderen Menschen weiter­zusagen. Genau das hatte Jesus Nazarenus bis dahin getan: Bereits seit drei Jahren predigte er das, was er von seinem himmlischen Vater gehört hatte. Und zum Zeichen dafür, dass er kein Betrüger war, sondern wirklich in Gottes Auftrag kam, tat er erstaun­liche Wunder und heilte viele Kranke. Der Prophet Jesus Nazarenus war es also, der da wie ein König in Jerusalem einzog.

Aber damit ist die Frage keineswegs erschöpfend be­antwortet. Vielmehr stellt sich immer wieder diese Frage, und sie stellt sich für alle Menschen: Wer ist dieser Jesus? Wer hat da vor zweitausend Jahren einen so tiefen Eindruck hinter­lassen, dass noch heute Menschen überall von ihm sprechen? Wer ist dieser Jesus, dass es einer Hand voll ver­schreckter Jünger gelang, unzählige Menschen davon zu überzeugen, dass er auferstanden ist und lebt? Wer ist dieser Jesus, dass unzählige Menschen trotz Folter bis hin zu einem gewaltsamen Tod nicht davon abließen, sich zu ihm zu bekennen? Wer ist dieser Jesus, dass der Tag seiner Auf­erstehung von den Toten heute weltweit ein offzieller wöchent­licher Feiertag ist – der Sonntag nämlich? Wer ist dieser Jesus, dass es in Europa und darüber hinaus in vielen anderen Ländern keine Stadt und kaum ein Dorf gibt, wo nicht Gottes­häuser stehen, die ihm geweiht sind? Wer ist dieser Jesus, dass er anderthalb Jahr­tausende lang die Kultur und Wissen­schaft des Abendlandes be­herrschte? Wer ist dieser Jesus, dass sich heute zwei Milliarden Menschen zu ihm bekennen? Wer ist dieser Jesus, dass viele Muslime im Iran unter Lebens­gefahr ihre bisherige Religion aufgeben, an Jesus zu glauben anfangen, ins Ausland fliehen und sich taufen lassen? Wer ist dieser Jesus, dass sein Marken­zeichen, das Kreuz, zum erfolg­reichsten Symbol der Welt geworden ist?

„Wer ist der?“ – dieser Frage kann niemand ausweichen, und auch der Antwort nicht, die seine Jünger gaben, damals in Jerusalem, und seitdem immer wieder: „Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.“ Wenn ein Prophet jemand ist, der Gottes Botschaft verlässlich und verbindlich weitersagt, dann ist der Prophet Jesus Nazarenus jemand, der mit größter Ver­lässlich­keit und höchster Ver­bindlich­keit Gottes Botschaft weitergibt. Und wenn du diese Antwort nicht abstreitest und damit die alten Zeugen zu Lügnern erklärst, dann musst du dir von Gott gesagt sein lassen, was dieser Jesus Nazarenus gepredigt hat. Gott mehr als alles andere lieben, und deinen Nächsten wie dich selbst, das hat er gelehrt. Lässt du es dir gesagt sein, lebst du danach? Dir um nichts Sorgen machen, sondern den Vater im Himmel sorgen lassen, das hat er gelehrt. Lässt du es dir gesagt sein, lebst du danach? Gottes Gebote mit allem Ernst halten und deine eigenen Wünsche hintenan stellen, das hat er gelehrt. Lässt du es dir gesagt sein, lebst du danach? Ihn vor anderen Menschen als Gottes Propheten und Gottes Sohn bekennen, das hat er gelehrt. Lässt du es dir gesagt sein, lebst du danach?

Es ist recht und gut, wenn du es dir gesagt sein lässt und danach lebst, denn ein besseres Leben gibt es nicht. Aber vielleicht erkennst du jetzt: Ich möchte gern nach den Worten dieses Propheten leben, aber ich schaffe es nicht. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Gehorsam und Ungehorsam, Vertrauen und Zweifel. Wenn das so ist, brauchst du nicht zu verzagen. Im Gegenteil: Diese ehrliche und demütige Selbst­erkenntnis ist die beste Voraus­setzung dafür, dass es bei dir Advent werden kann – also dass Jesus persönlich bei dir ins Herz einzieht. Solange es die Adventszeit gibt, ist sie als eine Bußzeit angesehen worden, also eine Zeit der reumütigen Sünden­erkenntnis und der Vor­bereitung auf Jesus. Buße ist nichts Ver­zweifeltes, sondern etwas sehr Hoffnungs­volles. Denn wer seine Sünden erkennt und merkt, dass er selbst mit ihnen nicht fertig wird, der bekommt Sehnsucht nach Hilfe, nach einem Helfer, nach dem Heiland. Das ist genau die richtige Voraus­setzung, um die Botschaft zu hören: „Euch ist heute der Heiland geboren“ (Lukas 2,11). Und Jesus, der Prophet aus Nazareth, hat es in seinen Predigten bestätigt: Ja, er selbst ist der, der kam, um Sündern einen Ausweg und Neuanfang zu er­möglichen, indem er sein Leben als Lösegeld zahlte.

„Wer ist der?“ Wir merken, dass Jesus Nazarenus viel mehr ist als ein Prophet. Schon sein Vorläufer Johannes der Täufer hat von ihm geweissagt: „Er ist mehr als ein Prophet“ (Matth. 11,9). Und so müssen wir die Antwort, die die Jüngerschar damals den Jerusa­lemern gegeben hat, ergänzen. „Wer ist der?“, fragen wir, und wir können nun selbst antworten: Er heißt Jesus Nazarenus, und er ist nicht nur der Prophet, sondern auch mein Heiland und mein Herr und mein König. Er ist gekommen, die Welt von ihrer Sünde zu erlösen, und er kommt zu mir, um mich ewig selig zu machen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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