Damit ihr nicht gerichtet werdet

Predigt über Matthäus 7,1‑5 zum 11. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das Gleichnis mit dem Splitter und dem Balken ist sehr bekannt; es ist zum Sprichwort geworden. Aber wenn ich jetzt den verlesenen Abschnitt aus der Bergpredigt auslege, dann will ich mich nicht gleich auf dieses Gleichnis stürzen, auch nicht auf das andere, das vom Maß. Vielmehr möchte ich mit dem Einleitungs­satz vor diesen beiden Gleich­nissen beginnen: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Genau genommen möchte ich mit dem un­schein­baren Nebensatz beginnen: „… damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Er ist nämlich nur grammatisch ein Nebensatz; in Wahrheit ist es der Hauptsatz von dem ganzen Abschnitt; man müsste ihn ganz dick und fett drucken: „… damit ihr nicht gerichtet werdet.“

Der Satz steht im Passiv, sagt also nicht direkt, wer der Richtende ist. Wir wissen aber, dass die Juden zur Zeit Jesu oft ehrfurchts­voll im Passiv geredet haben, wenn sie Gott meinten. Sie hatten eine heilige Scheu, Gott direkt zu benennen, und da half ihnen die Formu­lierung im Passiv. Auch Jesus hat es oft so gemacht. Wenn Jesus nun sagt: „… damit ihr nicht gerichtet werdet“, dann meint er also: „… damit Gott euch nicht richtet.“ Es geht hier um Gottes endgültiges Gericht über die Menschen. Wenn wir uns das klarmachen, dann merken wir auch, wie wir das Wort „richten“ zu verstehen haben: Es geht dabei nicht um eine abwägende kritische Be­urtei­lung, sondern es geht um Gottes Urteil über jeden Menschen und sein Lebenswerk, das da lautet: Leben oder Tod, Seligkeit oder Verdammnis, Himmel oder Hölle. Wenn wir uns realistisch mit Gottes Erwartungen an uns be­schäfti­gen und dann auf den mensch­lichen Lebens­wandel blicken (nicht zuletzt unsern eigenen), dann werden wir zu der Erkenntnis gelangen: Gott hat keinen Grund, in seinem letzten Gericht Medaillen zu verteilen oder unser Lebenswerk mit Preisen zu würdigen. Im Gegenteil: Angesichts unserer Sünde muss er ein ver­nichten­des Urteil sprechen. Wir haben daher allen Grund, Gottes Gericht zu fürchten und lieber nur indirekt im Passiv von ihm zu sprechen. Aber da kommt Jesus und gibt seinerseits mit seinem Passiv-Satz dieser er­schrecken­den Aussicht auf Gottes Gericht eine über­raschende Wendung: „… damit ihr nicht gerichtet werden.“ Es gibt also einen Ausweg aus Gottes Gericht. Es gibt eine Möglich­keit, dass Gott das ver­nichtende Urteil, das wir verdient haben, nicht fällt. Dieser Ausweg ist Jesus selbst. Er sagte von sich: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6). Jesus ist der Ausweg aus Gottes Gericht und Todes­urteil, der Weg zum ewigen Leben beim himmlischen Vater. Nichts ist wichtiger und nichts er­strebens­werter, als dass wir aus Gottes Gericht freikommen. Wir tun gut daran, Gott ganz ernst zu nehmen und ihn im Blick auf sein Gericht tatsächlich zu fürchten. Wir tun aber noch besser daran, dann auch die frohe Kunde vom Ausweg aus diesem Gericht zu hören und an das Evangelium von Jesus Christus zu glauben – „damit ihr nicht gerichtet werdet.“

Jetzt merken wir, warum dieser Nebensatz in Wahrheit ein Hauptsatz ist: Er enthält die Haupt­botschaft der Heiligen Schrift und den Haupt­artikel der christ­lichen Lehre, nämlich Gottes Evangelium auf dem dunklen Hintergrund seines Gesetzes und des drohenden Urteils. Aber dabei dürfen wir nicht übersehen, dass es sich zumindest grammatisch doch um einen Nebensatz handelt, also um einen abhängigen Satz. Er drückt die Folge oder das bezweckte Ziel von etwas anderem aus, nämlich von dem gram­matischen Hauptsatz: „Richtet nicht!“ In dieser Verbindung rückt der gesamte Satz in die Nähe der fünften Vaterunser-Bitte: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldi­gern!“ Auch die steht in der Berg­predigt, und Jesus hat sie mit folgendem Kommentar besonders heraus­gehoben: „Wenn ihr den Menschen ihre Ver­fehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben“ (Matth. 6,14). Und am Ende des Gleich­nisses vom sogenannten „Schalks­knecht“ meinte Jesus zu dem harten Urteil, das diesen am Ende trifft: „So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt“ (Matth. 18,35). Kurz: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!“ Fällt keine Verdammungs­urteile über andere, sondern seid nachsichtig und vergebt ihnen ihre Schuld! Wenn ihr so lebt, dann zeigt ihr damit, dass Gottes Geist in euch wohnt und ihr durch Christus erlöst seid. Ja, so müssen wir diesen Satz verstehen. Es geht nicht darum, dass wir uns durch Vergebungs­bereit­schaft oder gar durch bloße Toleranz den Freispruch in Gottes Gericht verdienen können. Es geht vielmehr darum: Wenn wir keinen verurteilen und keinem lange böse sind, dann handeln wir damit als Erlöste, als Gottes Kinder. Der Verzicht auf verdammende Urteile ist Kennzeichen der Christen; man kann daran erkennen, wie Gott selbst durch seinen Sohn an uns handelt. Martin Luther hat es im Großen Katechismus bei seiner Auslegung der fünften Vaterunser-Bitte so formuliert: „Gott hat uns zugesagt, dass wir die Gewissheit haben können, alles sei uns vergeben und geschenkt – sofern wir auch unserm Nächsten vergeben. Denn so wie wir uns an Gott täglich oft versündigen und er uns doch aus Gnade alles vergibt, so müssen auch wir unserm Nächsten, der uns Schaden und Unrecht zufügt und grob und gemein zu uns ist, immer wieder vergeben. Vergibst du nicht, so meine auch nicht, dass Gott dir vergibt. Vergibst du aber, dann hast du den Trost und die Gewissheit, dass dir im Himmel vergeben wird, nicht weil du vergibst – denn er vergibt ganz umsonst, aus lauter Gnade, weil er es zugesagt hat, wie es das Evangelium lehrt – ‚ sondern weil er uns damit ein Zeichen der Ver­gewisserung gegeben hat (an dem wir erkennen können, dass auch Gott uns vergeben hat).“

Damit ist das Wichtigste über diesen Abschnitt der Bergpredigt gesagt. Es steckt alles in diesem ersten Satz drin, vor allem in seinem Nebensatz: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Die beiden folgenden Gleichnisse vertiefen und illustrie­ren diese Aussage. Lasst sie uns nun betrachten!

Erstes Gleichnis: „Nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“ Nehmen wir an, es gäbe ein Messgerät für seelische Schmerzen. Und nehmen wir weiter an, dass dich jemand sehr enttäuscht und dir sehr weh getan hat. Du nimmst das Messgerät für seelische Schmerzen und misst bei dir nach: Stufe fünf! Und du denkst: Wenn einer mich so kränkt, dass ich darüber Schmerzen der Stufe fünf empfinde, dann ist das ein schlechter Mensch. Ich kann ihm das nicht verzeihen und will nie mehr was mit ihm zu tun haben. Stufe fünf, das bedeutet für dich: Hier ist die Grenze meiner Nachsicht und Vergebungs­bereit­schaft über­schritten. Nun sagt Jesus: „Mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“ Beachten wir wieder das Passiv (“wird euch zugemessen werden“) und erkennen wir, dass es sich auch hier um eine indirekte Aussage über Gott handelt: Denselben Maßstab, den wir an andere legen, den legt Gott auch an uns. Überlegen wir weiter: Auch du hast schon mal andere gekränkt und seelisch verletzt – sehr oft ohne böse Absicht, aber manchmal vielleicht sogar absicht­lich. Nun legt Gott dasselbe Messgerät für seelische Schmerzen an die Opfer deiner Kränkungen, und siehe da: Es gibt Fälle, wo auch du schon mal anderen Schmerzen der Stufe fünf zugefügt hast, vielleicht sogar schwerere. Und wenn Gott dich nun ebenso beurteilt, wie du den anderen beurteilst, der dir Schmerzen der Stufe fünf zugefügt hat, dann muss Gott zu dir sagen: Ich kann dir nicht verzeihen und will nie mehr was mit dir zu tun haben – also hinaus mit dir in die ewige Finsternis! Wer nicht vergeben kann, der hat Gottes vergebende Liebe noch nicht wirklich kennen­gelernt, der ist noch fern vom Glauben, von Christus und vom Heil.

Und nun das zweite Gleichnis, das bekannte und beinahe sprich­wört­liche: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“ Auf den ersten Blick ist das ein groteske Sache: Das geht doch gar nicht, dass man einen Balken im Auge hat! Das ist ebenso grotesk wie die Vor­stellung, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen soll. Auf den ersten Blick liebte Jesus offenbar solche grotesken Gleich­nisse. Aber nur auf den ersten Blick, denn, genauer betrachtet, ist das Gleichnis sehr vernünftig. Ich komme dafür noch einmal auf das erste Gleichnis und auf das Messen zurück. Ich behaupte: Ich kann den Mond messen und zu dem Ergebnis kommen, dass er nicht größer ist als mein Daumen. Grotesk? Keineswegs: Ich brauche nur bei Mondschein meinen Daumen vor ein Auge zu halten und das andere zu­zukneifen, und schon bedeckt der Daumen die ganze Mond­scheibe. Das ist nicht grotesk, sondern das ist eine Frage der Per­spektive: Wenn ich nahe und ferne Dinge vergleiche, dann erscheinen die nahen Dinge größer und die fernen Dinge kleiner. Und wenn ich einen Splitter direkt im Auge habe, dann erscheint er mir groß wie ein Balken – und ebenso lästig. Übertragen wir das nun auf das, worum es hier eigentlich geht: auf unser Fehl­verhalten, unsere Sünde. Meine eigene Sünde sollte mir groß und lästig sein wie ein Splitter im Auge – viel größer und lästiger also als die Sünde meines Mit­menschen, auch wenn sie aus Gottes Perspektive oder aus der Perskeptive eines Dritten genauso groß ist. Wenn nun aber sogar jemand so tut, als sei der Fremdkörper im Auge des Bruders balkengroß und der Fremdkörper im eigenen Auge splitter­klein, dann missachtet er nicht nur die Per­spektive, sondern dann ist er auch im Hinblick auf die objektive Größe un­wahrhaftig – eben ein „Heuchler“, wie Jesus sagt. Wer Sünde bei sich selbst und andern erkennt, sollte sich also zunächst besser darum kümmern, dass er den eigenen lästigen „Balken“ los wird.

Nun ist es ja so, dass man eigen­mächtige Operationen am Auge lieber bleiben lassen sollte. Wer einen richtigen Holz­splitter im Auge stecken hat, der gehe zum Augenarzt beziehungs­weise in die Augenklinik und lasse sich von fachlich geschulten Leuten helfen. Ebenso ist das mit unserer Sünde: Wir können sie nicht durch eigenen Willen überwinden, wir können nicht aus eigener Kraft heilig werden. Darum tun wir gut daran, uns von einem Arzt helfen zu lassen – von dem Arzt und Heiland, der allein mit der Sünde fertig wird: Jesus Christus. Darum kann sein Rat, den Balken heraus­zuziehen, ohne Gleichnis nicht anders verstanden werden als so: Lass dir von Jesus deine Sünden vergeben! Lass dich taufen, und wenn du schon getauft bis, dann komme immer wieder unter das Gnadenwort des Herrn! Und wenn du dann den garstigen balken­großen Splitter los bist, wenn die Schmerzen nachlassen und du erleichtert aufatment kannst, dann sage deinen Mit­menschen, wo sie ihrerseits ihre Splitter im Auge loswerden können. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum