Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Predigt über Matthäus 27,46‑47 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Dies ist das vierte der sieben Worte Jesu am Kreuz; es steht also in der Mitte. Ebenso wie das erste und das letzte Kreuzeswort ist es ein Gebetsruf. Und es markiert einen Einschnitt. Die ersten drei Kreuzes­worte beziehen sich auf andere Menschen: Jesus bittet Gott um Vergebung für seine Peiniger; Jesus verheißt einem Mit­gekreuzig­ten das Paradies; Jesus stellt seiner Mutter Maria den Jünger Johannes wie einen Sohn zur Seite. Nun, ab dem vierten Kreuzes­wort, spricht Jesus über sich selbst und über seine Situation: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Freilich verliert er auch dabei die Menschen nicht aus dem Blick, für die er dieses Opfer auf sich nimmt. Lasst uns das mit fünf Be­obachtun­gen sehen, die wir an diesem Kreuzeswort machen können.

Erstens: Jesus erleidet die schlimmste Not. Die schlimmste Not ist nicht die körperliche Qual der Kreuzigung. Die schlimmste Not ist auch nicht das bittere Unrecht, das Jesus hier erleidet, oder der Spott seiner Feinde. Die schlimmste Not erfährt Jesus in seiner Seele: Er macht die Erfahrung, vom himmlischen Vater verlassen zu sein. Niemals zuvor hat Jesus das erlebt; stets war er in voll­kommener Liebe und Gemein­schaft mit dem Vater verbunden. Auch wenn er in seinen Erdentagen bereits viel durch­gemacht hat, hat er doch stets gespürt, dass der Vater dicht bei ihm ist und ihn beschützt. Nun aber erfährt er die schlimmste Not: die Not, von Gott verlassen zu sein. Er nimmt das auf sich, um es uns zu ersparen. Er nimmt das auf sich, damit wir die Gewissheit haben können: Gott wird mich niemals verlassen, komme was da wolle. Wohl gibt es immer wieder schlimme Not unter uns Menschen, sowohl leibliche als auch seelische. Aber wer sich im Glauben an Jesus hält, wird niemals jene schlimmste Not erleiden müssen, auch in seiner Todesstunde nicht. Mit Jesus haben wir zu jeder Zeit den Trost: Gott verlässt mich nicht – weder im Leben noch im Sterben noch in der Ewigkeit.

Zweitens: Jesus, vom Vater verlassen, verlässt doch den Vater nicht. Das merken wir daran, dass er den Aufschrei zu einem Gebet macht. Er hätte ja auch einfach verzweifelt ausrufen können: Mein Gott hat mich verlassen! Stattdessen redet er ihn an, so als wäre er ihm noch nah, und kleidet seine Not demütig in eine Frage: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Damit wird er uns zum Vorbild. Wohl jeder Christ gerät mal in Situ­ationen, wo er den Eindruck gewinnt: Gott hat mich verlassen; jetzt steht mir niemand mehr bei. Dieser Eindruck trügt allerdings, denn Gott verlässt die Seinen nicht, das hat er fest ver­sprochen. Jesaja ver­kündigte: „Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen“ (Jesaja 49,15). Dafür hat der eingeborene Sohn ja die Gott­verlassen­heit geschmeckt, damit sie den anderen Kindern Gottes erspart bleibt. Aber es kann geschehen, dass wir in einer schwachen Stunde dennoch den Eindruck gewinnen, Gott habe uns verlassen. Dann sollen wir es so machen wie Jesus. Wir sollen nicht unserer­seits den Vater verlassen, sondern im Gegenteil seine Nähe suchen, ihn anrufen, ihn anflehen, zu ihm um Hilfe schreien. Demütig sollen wir es tun wie Jesus, demütig mit Fragen und Bitten.

Drittens: Jesus erfüllt die Schrift. Jesus hat mit seinem Hilferuf am Kreuz den Anfang des 22. Psalms auf­genommen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es ist ein ganz besonderer Psalm, denn in ihm ist die Passion Christi bis in ihre Einzel­heiten voraus­gesagt. Da heißt es zum Beispiel: „Alle, die mich sehen, verspotten mich.“ Und: „Meine Zunge klebt mir am Gaumen.“ Und: „Sie haben meine Hände und Füße durch­graben.“ Und: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“ Der Herr betet am Kreuz ganz bewusst den Anfang dieses Psalms und macht sich damit den ganzen Psalm zu eigen. Er zeigt damit: Dies ist mein Psalm; ich habe durch ihn prophetisch geredet, lange bevor ich als Mensch zur Welt kam. Das gilt auch für viele andere Psalmen, besonders für die Leidens-Psalmen: Christus ist es, der durch sie spricht. Wenn wir solche Psalmen beten, dann klagen wir damit nicht unbedingt unsere eigene Not, aber dann eignen wir uns damit in jedem Fall die Leiden Christi an. Wir zeigen, wenn wir so beten: Wir gehören zum leidenden Christus und nehmen das Opfer dankbar an, das er für uns gebracht hat. So zeigt Jesus mit diesem Kreuzes­wort, dass er die Weis­sagungen des 22. Psalms und aller Leidens-Psalmen erfüllt hat – und das heißt: ihre eigentliche und volle Bedeutung offenbar gemacht hat.

Viertens: Jesus wird miss­verstanden. Nachdem Jesus dieses vierte Kreuzeswort hinaus­geschrien hat, meinen einige Leute beim Kreuz: „Der ruft nach Elia.“ Dass das ein Miss­verständ­nis ist, wird klar, wenn wir dieses Kreuzeswort in seiner Mutter­sprache hören, in Aramäisch, wie Jesus es tatsächlich auch gesagt hat: „Eli, Eli, lama asabtani?“ „Eli“ bedeutet „mein Gott“, hört sich aber so ähnlich an wie „Elia“. Elia galt den Juden als der größte Prophet des Alten Testaments. Der Volksglaube schrieb ihm noch lange nach seiner Entrückung in den Himmel wunderbare Taten zu; so ähnlich wie römisch-katholische Christen das mit Maria oder mit anderen Heiligen tun. Offenbar ist es ein un­ausrott­bares Bedürfnis, in der Not nach starken mensch­lichen Helfern zu schreien, sowohl lebenden als auch toten. Das Tragische daran ist, dass menschliche Hilfe stets eng begrenzt ist. Deshalb bittet man besser gleich den All­mächtigen selbst um Hilfe, nicht seine Geschöpfe. Jesus wendet sich mit seinem Hilfeschrei sogleich an die richtige Adresse: „Mein Gott, mein Gott!“ Vielleicht deutet die doppelte Anrede darauf hin, dass hier der eingeborene Sohn sowohl den himmlischen Vater als auch den Heiligen Geist um Hilfe anruft; dann würde dieses Kreuzeswort die heilige Drei­faltig­keit bezeugen. Der Schrei zu Gott wird also nun als Schrei zu einem heiligen Menschen miss­verstanden, zum Propheten Elia. Dieses Miss­verständ­nis ist ein Zeichen und Gleichnis für das fatale Miss­verständ­nis vieler Not­leidender, dass andere Menschen ihnen zu einer Quelle der Hilfe werden können. Auch wenn Gott oftmals durch Menschen hilft, so ist und bleibt er doch allein die Quelle jeder Hilfe und will in jeder Not selbst angerufen werden.

Fünftens: Jesus fragt nach der Frucht seines Opfers. „Eli, Eli, lama asabtani?“ – das Wörtchen „lama“ ist mit dem deutschen Wort „warum“ nicht ganz korrekt übersetzt; es bedeutet eigentlich „für was“ beziehungs­weise „wozu“. Jesus fragt mit diesem Kreuzeswort also nicht nach der Ursache seiner Gott­verlassen­heit, sondern nach der Frucht: „Mein Gott, mein Gott, für was hast du mich verlassen? Wozu ist es gut? Was bringt es?“ Der Unterschied ist bedeutsam. Wir Menschen neigen angesichts von Leid dazu, nach den Ursachen zu fragen; ein Warum steht dann oft groß im Raum. Mein Gott, warum hast du mich krank werden lassen? Mein Gott, warum bin ich arbeitslos? Mein Gott, warum gibt es so viel Krieg und Elend in der Welt? Mein Gott, warum müssen manche Menschen jung und qualvoll sterben? Manche Leute zergrübeln sich den Kopf über solche Fragen, kommen nicht zur Ruhe und drohen an ihnen zu ver­zweifeln. Dabei sind die Ursachen viel­schichtig und oftmals verborgen. Nur dies Eine können wir sagen: dass alle Leiden in der Welt sowie auch der Tod irgendwie mit unserer Sünde zusammen­hängen. Dies gilt ja auch für die Passion unseres Herrn: Er schmeckt die bittere Gott­verlassen­heit, weil die Menschen Gott verlassen haben. Aber nun geht es ihm gar nicht darum, diese Warum-Frage zu klären, sondern es geht ihm um die ganz andere Frage: Wozu hast du mich verlassen, wozu ist dieses Leiden gut, was ist seine Frucht? Die Antwort ist herrlich; die Antwort ist der Kern des Evan­geliums: damit Sünder nicht mehr von Gott verlassen zu sein brauchen, sondern als geliebte Kinder in seine Gemein­schaft zurück­finden. Weil Jesus stell­vertretend für uns die Gott­verlassen­heit durchlitten hat, bleibt sie künftig allen erspart, die an ihn glauben. Weil das so ist, brauchen wir angesichts von Leid nicht mehr „Warum?“ zu fragen, denn die Sünde hat ja nun ihren Stachel verloren. Stattdessen können wir wie Jesus fragen: Lama? Wozu? Für was? Was ist die Frucht? Und Gottes Wort antwortet uns: Damit ihr die Frucht von Christi Erlösung am eigenen Leibe erfahrt. Damit ihr Beten lernt. Damit ihr andere trösten lernt mit dem Trost, mit dem ihr selbst im Leid getröstet werdet. Und damit ihr euch auf den Himmel freut, wo Gott selbst alle eure Tränen abwischen wird. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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