Wunder und Zeichen

Predigt über Matthäus 14,22‑33 zum 4. Sonntag nach Epiphanias

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Kennt ihr jemanden, der den Kopf ganz herumdrehen kann? Ich meine nicht nur nach hinten, sondern vollständig herum, um 360 Grad, bis das Gesicht wieder vorn ist? Und dann noch einmal in dieselbe Richtung, beliebig oft, wie eine Schiffs­schraube? Nein? Ich kenne auch niemanden. Oder kennt ihr jemanden, der seine Hand so drehen kann, immer weiter und ganz schnell, wie eine Schiffs­schraube? Nein? Oder kennt ihr ein Tier, das so den Kopf drehen kann, oder einen anderen Teil seines Körpers? Auch nicht? Wahr­scheinlich denkt ihr im Stillen: So etwas kann es doch gar nicht geben; das ist doch unmöglich! Vor drei Wochen hätte ich auch so gedacht. Aber dann habe ich durch einen wissen­schaft­lichen Vortrag von einem Lebewesen erfahren, das das kann. Es ist zwar nur ein sehr kleines Lebewesen, aber es hat einen spiral­förmigen Schwanz, den es wie eine Schiffs­schraube drehen kann. Es hat den Namen Escherichia coli, ist nur wenige tausendstel Millimeter lang und lebt bei jedem von uns im Darm. Es ist ein Darm­bakterium, das bei der Verdauung gute Dienste leistet. Mit seinem Schiffs­schrauben-Schwanz schwimmt es im Darm hin und her. Angetrieben wird es durch Bakterien-Motoren: winzig kleine natürliche Elektro­motoren.

Dieses winzige Geschöpf kann uns lehren, dass wir nicht vorschnell „umöglich!“ sagen sollten. Wo Gottes Geschöpfe erforscht werden, da werden immer wieder die erstaun­lichsten Ent­deckungen gemacht. Echte Natur­wissen­schaftler haben es sich darum abgewöhnt, „un­möglich!“ zu sagen. Andere Menschen sind da leider manchmal sehr voreilig. So gibt es viele Leute, die angesichts der eben gehörten biblischen Geschichte sagen: Unmöglich! Dass Jesus auf dem Wasser gelaufen ist, das glauben sie nicht; und von Petrus glauben sie das erst recht nicht. Sogar Theologen bezweifeln, dass die Sache wirklich so passiert ist. Mancher versucht dann, die Glaub­würdig­keit der Bibel mit merk­würdigen Erklärungen zu retten: Vielleicht war da eine Sandbank, wo Jesus lief, oder es lagen Felsen dicht unter Wasser­oberfläche; es war ja Nacht, so genau konnte man da nicht sehen. Wir aber lernen von dem kleinen Darm-Bakterium Escherichia coli, das Wort „unmöglich“ aus unserem Vokabular zu streichen. Wir lernen dafür neu das Staunen, das Wundern über Gottes Werke. Wenn Gott schon im Rahmen der Natur­gesetze so wunderbare Dinge tun kann, wie sollte es dann Grenzen für ihn geben, wenn er die Natur­gesetze ausnahms­weise einmal außer Kraft setzt? Das ist ja das Wesen eines richtigen Wunders: Die uns bekannten Natur­gesetze sind vorüber­gehend außer Kraft gesetzt. Dann ist es möglich, dass Leute auf dem Wasser gehen können. Wir bekennen jeden Sonntag, dass Jesus von den Toten auf­erstanden ist – sollte es ihm da nicht ein Leichtes sein, vorüber­gehend das Gesetz der Schwerkraft aufzuheben? Wir bekennen uns jedem Sonntag zu Gott, dem all­mächtigen Vater – sollten wir da behaupten, er könne nicht Petrus oder Jesus auf dem See Genezareth laufen lassen? Zweifeln wir also nicht daran, dass es genauso war, wie es in der Bibel berichtet ist! Staunen wir lieber über dieses göttliche Wunder!

Bedenken wir dabei aber: Der Sinn solcher biblischen Geschichten ist nicht nur, dass wir über Wunder staunen. Wenn das alles wäre, dann wären Jesu Wunder kaum etwas anderes als eine göttliche Zirkus­vorstellung zur geistlichen Unter­haltung des frommen Publikums. In Wahrheit gibt uns die Geschichte von Petrus und Jesus auf dem See viel mehr. Es handelt sich hier nicht nur um ein Wunder, sondern auch um ein Zeichen. So wollen wir uns nicht nur über das Wunder wundern, sondern uns zugleich von dem Zeichen etwas zeigen lassen – etwas Wichtiges über Jesus und den Glauben.

Dazu betrachten wir das Laufen auf dem Wasser in seinem Zusammen­hang. Tags zuvor hatten sich die Jünger schon einmal kräftig gewundert – und nicht nur sie, sondern über 5000 Personen mit ihnen: Jesus hatte mit wenigen Broten und Fische viele Leute satt bekommen. Danach nahm er sich eine Auszeit: Er wollte einmal ganz allein sein und beten. Seine Jünger hatte er weg­geschickt; sie sollten mit ihrem Fischerboot über den See Genezareth nach Kapernaum fahren. Das schafften sie aber nicht, denn sie hatten starken Gegenwind. Der entwickelte sich im Laufe der Nacht zu einem schlimmen Sturm. Die Jünger gerieten mit ihrem Boot in Seenot. Zur Zeit der vierten Nachtwache, also zwischen drei und sechs Uhr, sahen sie eine Gestalt auf den Wellen gehen. Erst dachten sie, es ist ein Gespenst, und kriegten große Angst. Da sagt Jesus zu ihnen: „Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!“

An dieser Stelle merken wir, was Gott den Jüngern damals und uns heute mit diesem Wunder zeigen will: Jesus lässt uns nicht im Stich, sondern er ist da, wenn es brenzlig wird. Er ist da, auch wenn wir denken: Das ist ja unmöglich, der kann gar nich da sein! Aber wir können es merken, dass er da ist. Wir merken es an seiner Stimme, an seinem Wort. Wer auf Gottes Wort hört, der weiß: Jesus ist kein Gespenst, kein Hirn­gespinst, sondern er ist wirklich da, auch wenn man nichts oder nicht viel von ihm sieht. Seine Worte zeigen, dass er uns helfen und trösten will: „Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!“

Simon Petrus glaubte Jesus – und zweifelte zugleich. Ihm ging es also nicht anders, als es vielen von uns geht. Sein Glaube äußerte sich darin, dass er auf Jesus antwortete und ihn als seinen Herrn anredete. Sein Zweifel äußerte sich darin, dass er einen Wunder­beweis forderte: „Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.“ Simon Petrus zweifelte also daran, dass es wirklich Jesus ist, der da auf dem Wasser zu ihnen kommt. Jesus ließ sich auf Simons Wunder­forderung ein. Das tut er keineswegs immer. Bedenken wir: Wunder sind seltene Ausnahmen von Natur­gesetzen; wenn es anders wäre, könnte man sie gar nicht als Wunder erkennen. Aber in diesem Fall ließ Jesus sich auf den Wunsch des Petrus ein. Er tat es nicht zuletzt deshalb, damit wir, die wir diese Geschichte hören und nachlesen können, auch etwas haben von der Erfahrung, die Petrus dann machte. Jesus antwortete ihm: „Komm her!“ Da setzte Petrus vorsichtig erst den einen, dann den anderen Fuß aus dem schwanken­den Boot, richtete sich auf und begann, auf Jesus zuzulaufen. Er sah seinen Herrn an; er glaubte (wenn auch zweifelnd); er lief auf dem Wasser.

Auch dieses Zeichen zeigt uns etwas. An anderer Stelle sagte Jesus einmal: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ (Markus 9,23). Das bedeutet: Für den Glaubenden ist nichts unmöglich, ebensowenig wie für Gott. Wenn Gottes Sohn ausnahms­weise mal auf dem Wasser gehen kann, dann kann der Glaubende ebenfalls ausnahms­weise mal auf dem Wasser gehen. Wenn Jesus Christus von den Toten auf­erstanden ist, dann können wir auch von den Toten auf­erstehen. Wenn wir etwas wollen, was Gott auch will, und wenn wir das im Gebet von ihm erbitten, dann geschieht das auch. Bei Gott ist nichts unmöglich, und beim Glaubenden auch nicht, weil er ja mit Gott in Verbindung steht. Jesus sprach, Petrus bat, Jesus antwortete, Petrus ging auf Jesus zu: Das zeigt, dass die beiden zusammen­gehören. Wenn wir auf Jesus hören, ihm antworten und auf ihn zugehen, dann kommt damit die Verbindung des Glaubens zum Ausdruck. Wenn wir glauben, dann bleiben wir mit ihm in Verbindung, dann haben wir das ewige Leben – so hat Jesus es klar ver­sprochen.

Aber nun ist ja die Geschichte noch nicht ganz zu Ende. Die Glaubens­verbindung des Petrus bekommt nämlich einen Knacks. Für einen Augenblick vergisst Petrus, dass Jesus da vor ihm steht auf dem Wasser. Für einen Augenblick erschrickt er vor dem Wind und den sturm­gepeitsch­ten Wellen. Da reißt die Glaubens­verbindung ab, und das Wunder ist jäh zu Ende: Petrus versinkt. Wahr­scheinlich konnte er nicht mal schwimmen. (Das gibt es bis heute: Fischer und Seeleute, die nicht schwimmen können.) So beginnt Petrus aus Leibes­kräften um Hilfe zu schreien. Da kommt Jesus auf ihn zu, packt ihn bei der Hand, zieht ihn aus dem Wasser und verfrachtet ihn ins Boot zurück. Dabei fragt er ihn: „Du Klein­gläubiger, warum hast du ge­zweifelt?“ Ob er es wohl traurig gefragt hat, oder mit leicht vorwurfs­vollem Unterton? Egal. Das Wichtigste: Er hat den Petrus nicht im Stich gelassen – auch in seinen Glaubens­zweifeln nicht. Und das zeigt uns doch: Auf Jesus können wir uns hundert­prozentig verlassen. Auch dann noch, wenn unser Glaube nicht hundert­prozentig ist. Auch dann noch, wenn unser Glaube so stark angefochten ist, dass wir selbst nichts mehr davon merken. Wie Jesus den Petrus aus dem Wasser gezogen hat, so zieht er unsern Glaubensmut wieder hoch. Dann können wir uns fröhlich zu ihm bekennen, wie es auch damals die Jünger gemacht haben. Es heißt von ihnen am Schluss der Geschichte: „Sie fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2011.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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