Die Kunst zu ermahnen und sich ermahnen zu lassen

Predigt über Matthäus 18,15‑18 zum 22. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich möchte euch jetzt eine Geschichte erzählen. Damit niemand auf falsche Gedanken kommt, schicke ich voraus: Diese Geschichte habe ich völlig frei erfunden; ich erzähle sie nur als Beispiel.

Frau Radler und Herr Diesel sind Christen und gehören zu derselben Kirchen­gemeinde. Eines Sonntags nach dem Gottes­dienst geschieht Frau Radler ein Miss­geschick: Sie hat ihr Fahrrad dicht neben Herrn Diesels neues Auto gestellt, und als sie losfahren will, kippt das Rad um und macht einen hässlichen Kratzer in die Seitentür. Frau Radler erschrickt. Sie hat Angst, Herrn Diesel von ihrem Miss­geschick zu sagen, und fährt schnell, ohne sich umzusehen, nach Hause. Herr Diesel hat das alles von Weitem mit­bekommen. Herr Diesel ärgert sich sehr. Was wird er nun tun?

Die erste Möglich­keit: Herr Diesel macht seinem Ärger Luft und erzählt den noch ver­bliebenen Gottes­dienst­besuchern, was für eine unredliche Person diese Frau Radler ist. Beschädigt den Wagen und fährt einfach davon! So eine Gemeinheit! Das wäre aber eine schlechte Möglich­keit. Das wäre üble Nachrede, und die gefällt Gott überhaupt nicht. Man erinnere sich an die Eklärung des 8. Gebotes: Wir sollen nicht „afterreden oder bösen Leumund machen“, niemanden „verleumden oder seinen Ruf verderben“, also andere nicht vor Dritten schlecht machen – leider ein weit ver­breitetes Übel in vielen Kirchen­gemeinden. Die zweite Möglich­keit: Herr Diesel frisst den Ärger in sich hinein und sagt gar nichts – weder zu anderen noch zu Frau Radler. Er weiß, dass er ihr als Christ verzeihen muss, aber der Ärger rumort doch weiter in seinem Bauch herum. Schon besser, aber immer noch nicht richtig. Die dritte Möglich­keit: Herr Diesel handelt so, wie Jesus es seinen Jüngern aufgetragen hat. Jesus sagte: „Sündigt dein Bruder an dir (also dein Mitchrist oder deine Mit­christin), so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.“

Nehmen wir also mal an, Herr Diesel fährt nach Hause, ruft Frau Radler an und sagt ihr: „Das ist nicht richtig, was Sie da gemacht haben.“ Das erfordert natürlich Mut und auch etwas Finger­spitzen­gefühl. Finger­spitzen­gefühl insofern, dass man ja seinem schuldigen Mitchristen trotz allem höflich und mit Liebe begegnen soll und will. Trotzdem – oder eigentlich gerade deshalb – sollte man nicht um den heißen Brei herumreden, sondern die Sünde ganz klar beim Namen nennen. Offenheit sollte die Grund­haltung unter uns Christen sein. Wer offen, liebevoll und höflich seinen Mitchristen ermahnen kann – und zwar ohne dass er vor anderen bloß­gestellt wird – , der beherrscht die Kunst des Ermahnens. Nehmen wir also an, das wäre bei Herrn Diesel der Fall.

Nun kommt es darauf an, ob Frau Radler die Kunst des Sich-ermahnen-Lassens beherrscht. Ja, auch das ist eine Kunst: sich ermahnen zu lassen. Eine Kunst, in der nur wenige Meister sind. Ich gebe zu, dass auch ich mich damit schwer tue und noch weit von der Meister­schaft entfernt bin. Oft fühlen sich Menschen, die von anderen wegen bestimmter Ver­fehlungen oder Versäum­nisse zur Rede gestellt werden, beleidigt oder persönlich an­gegriffen. Sie gehen in den Gegen­angriff über oder sind einfach ein­geschnappt. Es ist aber gut und notwendig, dass wir diese Kunst lernen: Ermahnungen ruhig anhören und, wenn auch nur ein bisschen etwas Richtiges dran ist, das Verhalten ent­sprechend ändern. Wenn wir auf der Straße stürzen und uns jemand wieder auf die Beine hilft, würden wir ihm ja auch dankbar sein. Darum können wir auch jedem danken, der uns moralisch wieder auf die Beine hilft. In den Sprüchen Salomos heißt es: „Wer Zurecht­weisung annimmt, der ist klug“ (Sprüche 15,5).

Wenn sich Frau Radler danach richtet, dann ist jetzt schnell alles gut: Sie wird um Ent­schuldigung bitten und versprechen, die Reparatur zu bezahlen. Herr Diesel und Frau Radler werden dann einander nichts mehr nachtragen, sondern weiterhin zusammen in der Gemeinde Gott loben und zusammen zum Tisch des Herrn treten. Was aber wäre, wenn Frau Radler nicht die Kunst des Sich-ermahnen-Lassens beherrscht? Wenn sie Herrn Diesel am Telefon schnippisch antwortet: „Das kann doch jedem passieren. Machen Sie doch wegen so einem kleinen Kratzer nicht solches Theater! Im übrigen haben Sie Ihren Wagen auch sehr ungünstig ab­gestellt!“ Was wäre dann? Nun, dann hätte Herr Diesel wieder mehrere Möglich­keiten. Erstens: Er könnte die Sache jetzt auf sich beruhen lassen, aber der Ärger, der weiter an ihm nagt, wäre dann um so größer. Zweitens: Er könnte Frau Radler wegen Sach­beschädi­gung anzeigen. Aber er entscheidet sich wieder für die dritte Möglich­keit; er achtet auf das, was Jesus seine Jünger lehrte: „Hört dein Mitchrist nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde. Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde.“ Herr Diesel bittet also Mitchristen um Ver­mittlung, um Hilfe beim Ermahnen. Vielleicht wendet er sich vertrauens­voll an seinen Pastor, und der spricht mit Frau Radler ein ernstes Wort. Und wenn sie dann immer noch nicht ihre Schuld einsieht, dann wird die Sache im Kirchen­vorstand besprochen. Jawohl, Jesus möchte das so. Er möchte nämlich nicht, dass ein Christ einen anderen gleich anzeigt oder verklagt, sondern er will, dass solche Konflikte innerhalb der Gemeinde geklärt werden, geistlich also, mit Gottes Wort und Gebet. Es wäre auch ein schlechtes Glaubens­zeugnis, wenn diejenigen, die unter dem einen Herrn Jesus Christus in Gottes Reich leben, sich vor weltlichen Gerichten verklagen und zanken.

Was ich mit dieser Beispiel­geschichte am Konflikt zweier Christen deutlich gemacht habe und was der Herr Jesus dazu gesagt hat, das hat aber noch eine tiefere Bedeutung. Denn wenn ein Christ eine Schuld auf sich lädt, wenn er also sündigt, dann betrifft das ja nicht immer und nicht nur die Beziehung zum Mit­christen. Jede Sünde ist zugleich auch Sünde gegen den All­mächtigen. Frau Radler hat mit ihrem unredlichen Verhalten auch Gott beleidigt und enttäuscht. Auch diese Schuld vor Gott soll bereinigt werden in der Weise, wie Jesus es in seinem Wort gesagt hat.

Es ist meine Aufgabe als Pastor, Gemeinde­glieder zu ermahnen, wenn ich merke, dass sie nicht nach Gottes Willen leben. Ganz gleich, wie gut oder schlecht ich diese Kunst beherrsche, ich muss es tun, es gehört zu meinem Beruf, ebenso wie predigen und beten, taufen und trösten, unter­richten und Abendmahl austeilen. Wenn sich zum Beispiel ein Gemeinde­glied vom Gottes­dienst und vom Heiligen Abendmahl absondert, dann muss ich ihm höflich und liebevoll, aber auch ganz offen sagen: „Das ist nicht richtig, das gefällt Gott nicht, da bist du auf einem falschen Weg. Bedenke: Jesus hat sich für dich auf­geopfert, Jesus hat sein Blut für dich vergossen, und du missachtest hartnäckig seine Einladung.“ Ich wäre ein schlechter Hirte, wenn ich den verirrten Schafen nicht nachginge; wenn es mir egal wäre, ob sie in eine Felsspalte rutschen oder in der Wüste jämmerlich verdursten.

Wenn das Gemeinde­glied dann in sich geht und die Sünde bereut, dann kann ich ihm im Namen Gottes die Vergebung zusprechen – in Kraft der Vollmacht, die Christus seiner Kirche gegeben hat. So steht es im Zusammen­hang unseres Predigt­textes, das Wort Jesu nämlich: „Was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein.“ Dann hat der Heilige Geist einen Sünder zur Buße gebracht und neu für den Himmel gewonnen; etwas Schöneres kann es gar nicht geben auf der Welt. Falls das Gemeinde­glied sich nicht von mir mahnen lässt, dann benötige ich auch in diesem Fall die Hilfe von Mit­christen. Es ist gut, wenn dann noch ein Kirchen­vorsteher oder ein anderes Gemeinde­glied den Be­treffenden liebevoll ermahnt. Lässt er sich dann zur Buße leiten – gut; auch dann ist dies Anlass für ein Freudenfest im Himmel und auf Erden. In sehr schwierigen Fällen muss auch schon mal der ganze Kirchen­vorstand zu Rate gezogen und daraufhin derjenige sehr ernsthaft ermahnt werden. Schlagen allerdings alle Ermahnungen fehl, dann kann das Gemeinde­glied nicht mehr als Mitchrist angesehen werden. Ein Mensch, der sich hartnäckig und trotz wieder­holter Mahnungen ver­schiedener Personen der Wort­verkündi­gung entzieht und die Einladung zum Altar­sakrament ausschlägt, der bringt damit zum Ausdruck, dass er mit Jesus nichts mehr zu tun haben will. So schwer mir das fällt, muss ich als Pastor dann den sogenannten Binde­schlüssel anwenden und ihm deutlich machen, dass seine Sünde trennend zwischen ihm und Gott steht und ihn damit von Gottes Reich aus­schließt. Jesus gab seiner Kirche auch dazu die Vollmacht: „Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein.“ Unsere Gemeinde­ordnung sieht dabei die Möglichkeit des Aus­schlusses aus der Gemeinde vor, denn es wäre ja Heuchelei und un­wahrhaftig, so zu tun, als gehöre jemand, der offen­sichtlich nichts mit der Kirche zu tun haben will, dennoch dazu. Jesus sagte: „Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner.“

Wie ein Heide und Zöllner – das heißt nun allerdings nicht, dass wir diesen Menschen verurteilen und bestrafen wollen mit dieser zugegeben schmerz­lichen Konsequenz. Veruteilen und strafen steht uns nicht zu. Wir selbst, die wir uns zum Gottes­dienst halten, sind ja in Gottes Augen nicht weniger Sünder als sie, wir haben ja nicht weniger Strafe verdient; der einzige Unterschied besteht darin, dass wir in unserer Not Zuflucht zu Jesus Christus nehmen und uns von ihm helfen lassen. Darum ist auch dieser letzte schwere Schritt, wenn einem Menschen die Sünden behalten werden und wenn er gar aus der Gemeinde aus­geschlossen wird, als Schritt der Liebe gemeint: Er soll dadurch noch einmal mit allem Nachdruck zur Umkehr gerufen werden. Er soll merken, dass er ohne Christus und ohne Buße auf dem Weg ins Verderben ist, und er soll darüber erschrecken und sich besinnen. Wie ein Heide und Zöllner – ja. Aber wie ist denn unser Herr Jesus selbst mit Heiden uns Zöllnern umgegangen? Indem er liebevoll auf sie zuging und trotz allem versuchte, sie für Gottes Reich zu gewinnen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2005.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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