Es ist noch eine Ruhe vorhanden

Predigt über Hebräer 4,9‑10 zum Ewigkeitssonntag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es ist etwas unheimlich Schönes, wenn man nach einem langen, schweren Arbeitstag endlich Feierabend hat. Man macht es sich gemütlich, legt die Beine hoch, hört vielleicht ein bisschen Musik, liest vielleicht ein bisschen, ruht sich aus. Und wenn man ganz müde ist, dann legt man sich ins Bett. Ach, solche Ruhe tut gut! Wenn man sich nur öfter mal so richtig ausruhen könnte! Ebenso schön ist nach an­strengenden Tagen das freie Wochenende und nach harten Wochen der wohl­verdiente Urlaub. Ausruhen, Nichtstun, Faulenzen – wie herrlich!

Wohl dem, der die Kunst beherrscht, sich richtig auszuruhen. Viele haben Probleme damit und kommen nie wirklich zur Ruhe. Die Nerven sind immer angespannt. Sorgenvolle Gedanken lassen sich nicht ab­schütteln. Nichtstun wird als leer empfunden, Stille als beklemmend. Ja, mancher kann sich gar nicht mehr richtig ausruhen. Mancher benötigt immer irgendeine Be­schäfti­gung. Mancher braucht immer eine Geräusch­kulisse und lässt den ganzen Tag das Radio dudeln. Mancher schläft nachts nicht gut, nimmt womöglich Schlaf­mittel. Seien wir ehrlich: Wer von uns beherrscht denn wirklich die Kunst des Ausruhens? Wer von uns kann denn wirklich noch innerlich und äußerlich vollständig zur Ruhe kommen?

Trotzdem bleibt die Sehnsucht nach Ruhe. Diese Sehnsucht hat für uns Christen ein herrliches Ziel: Das ist die himmlische Ruhe, die Gottesruhe. Wie der Feierabend den Tag krönt, das Wochenende die Arbeits­woche und der Urlaub das Jahr, so krönt die himmlische Ruhe ein Christen­leben – die Ruhe, die uns nach dem Tod in Gottes Herrlich­keit erwartet. Ja, nach all den vorüber­gehenden und un­vollkom­menen Ruhepausen dieses Lebens ist „noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes“, wie uns Gottes Wort verheißt. Und diese Ruhe wird dann un­beschreib­lich schön sein. Da dürfen wir uns ausruhen von allen Mühen und Plagen unseres Lebens. Da wird uns nichts mehr ängstigen, nichts mehr be­unruhigen. Da können wir uns einfach ganz entspannt in Gottes Schoß fallen lassen. Da kann unsere Seele beim himmlischen Vater ruhig werden wie ein kleines Kind im Arm der Eltern.

Es mag sein, dass diese Sicht des Himmels nicht allen behagt. Junge Leute sehnen sich nicht nach Ruhe, sondern nach Leben, nach Action, nach Abenteuer. Während sich ältere Leute am Feierabend und am Wochenende ausruhen, wollen junge Leute etwas unter­nehmen. Während ältere Leute im Urlaub überwiegend Entspannung suchen, wollen junge die Welt entdecken. Ausruhen erscheint ihnen langweilig. Sollte es im Himmel also langweilig sein?

Langweilig wird die himmlische Ruhe bestimmt nicht sein. Nur geht es diesem Begriff so wie vielen anderen biblischen Begriffen: Er gibt nur un­vollkommen wieder, was Gott uns mit ihm sagen will. Viele Aussagen der Bibel sind wesentlich tiefer, als Menschen­wörter es ausdrücken können; erst der Zusammen­hang schließt uns ihren ganzen Reichtum auf. So ist das auch mit dem Wort „Ruhe“.

Wir lesen: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes.“ Wenn da steht: „noch eine“, dann muss eine andere Ruhe bereits voraus­gegangen sein. Der Zusammen­hang zeigt, dass es sich dabei ur­sprünglich um das Leben des Volkes Israel im Land Kanaan handelte. Nach vierzig Jahren Wüsten­wanderung waren sie dort endlich zur Ruhe gekommen – in dem Land, „wo Milch und Honig fließt“, in dem Land, das Gott selbst ihnen versprochen und gegeben hatte. Und wie kamen sie da zur Ruhe, was war das für eine Ruhe? Sie hatten dort nicht mehr die Mühen und Strapazen der Wüsten­wanderung. Sie brauchten nicht mehr gleichsam aus dem Koffer zu leben. Sie durften sesshaft werden, Äcker und Weinberge anlegen, feste Häuser bauen und zu ihrer Umwelt so eine Beziehung entwickeln, dass sie sie „Heimat“ nennen konnten. Diese Ruhe war also nicht Faulheit und Nichts­tuerei, sondern ein schönes, erfülltes Leben, das in ruhigen Bahnen dahinzog. So wird das auch im Himmel werden, das sei allen jungen und lebens­lustigen Menschen zum Trost gesagt: Die andere Ruhe, die hier „noch eine Ruhe“ genannt wird, ist ein herrliches, erfülltes Leben an dem Ort, der den Namen „Heimat“ erst wirklich voll verdient.

Auch der zweite Satz erschließt uns die Tiefe des biblischen Ruhe-Begriffs: „Wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den Seinen.“ Wir erinnern uns, wie Gott die Welt erschaffen hat: Sechs Tage lang arbeitete er daran und ruhte am siebenten Tag. Im 1. Buch Mose lesen wir: „Gott ruhte am siebenten Tag von allen seinen Werken, die er gemacht hatte.“ Nicht, dass Gott das nötig gehabt hätte. Vielmehr hat er uns Menschen zum Vorbild am siebenten Tag geruht  – etwa so, wie sich Eltern mit ihren kleinen Kindern hinlegen, bis sie ein­geschlafen sind. So hat Gott von Anbeginn der Welt den siebenten Tag als Ruhetag geordnet. Auf Hebräisch heißt Ruhetag „Sabbat“, auf altdeutsch „Feiertag“. „Feiern“ bedeutete nämlich ur­sprünglich „ausruhen“; deswegen sprechen wir noch heute vom „Feier­abend“. Auch die Ruhe des Feiertags ist keine untätige und faule Ruhe, sondern eine Ruhe, die ihre Erfüllung in der Gemein­schaft mit Gott findet. Den Feiertag hat Gott deshalb angeordnet, damit wir uns an diesem Tag besonders ausführlich mit Gottes Wort be­schäftigen und beten können. Wenn wir uns darauf einlassen, dann zieht innere Ruhe ein und innerer Friede, den uns der Heilige Geist durch Gottes Wort schenkt. Übertragen wir diese Einsicht wieder auf den Himmel, so merken wir: Gemein­schaft mit Gott, Frieden mit Gott – das wird die himmlische Ruhe aus­zeichnen. Es ist keine leere und langweilige Ruhe, sondern eine gefüllte Ruhe, vom lebendigen Gott persönlich erfüllt.

Freilich ist diese wunderbare himmlische Ruhe nicht automatisch allen Menschen verheißen. Der Hebräer­brief redet im Zusammen­hang unserer beiden Sätze auch davon, dass Menschen den Zugang zu Gottes Ruhe unter Umständen nicht finden werden. Es kommt also darauf an, dass wir die richtige Tür finden, die zur Gottesruhe führt. Welche Tür ist das? Da hilft uns wieder das Beispiel der Israeliten in der Wüste. Warum sind sie denn eine lange Zeit nicht zur Ruhe gekommen, nämlich vierzig Jahre lang? Weil sie kein Vertrauen hatten in Gottes Zusagen. Sie glaubten einfach nicht, dass Gott ihnen dieses wunderbare Land Kanaan schenken würde, wie er versprochen hatte. Sie meinten vielmehr, die Ureinwohner würden sie daran hindern und vernichtend schlagen. Zur Strafe mussten die Israeliten so lange in der Wüste herumirren, bis die Generation der Zweifler gestorben und die nächste Generation heran­gewachsen war.

Wir sehen: Das Vertrauen in Gottes Zusagen ist die rechte Eingangstür zur himmlischen Ruhe. Nichts anderes erwartet Gott von uns, als dass wir seinem Wort glauben und uns von ihm mit der himmlischen Ruhe beschenken lassen. Er schenkt sie uns durch seinen Sohn Jesus Christus. Ja, der selbst ist die Tür; er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Er lädt ein: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“ (Matth. 11,28‑29). Dies ist die einzige Tür, die zur himmlischen Ruhe führt: Der Glaube an Jesus Christus.

Wenn wir an Jesus Christus glauben, dann finden wir jetzt schon eine Ruhe und einen Frieden, den die Welt nicht geben kann. Aus dem Glauben leben heißt ja auch immer, einen Vor­geschmack auf den Himmel bekommen. So ist zum Beispiel das Heilige Abendmahl ein Vor­geschmack auf die himmlische Mahl­gemein­schaft der Erlösten. Der göttliche Friede aber, den der Heilige Geist den Glaubenden ins Herz legt, ist ein Vor­geschmack auf die himmlische Ruhe.

Wer glaubt, hat innere Ruhe. Er weiß ja, dass Gott bei ihm ist und ihn auch in den gefähr­lichsten Stürmen bewahren wird. Er kann allem gelassen entgegen­sehen. Angst und Sorge müssen ihm keine schlaflosen Nächte bereiten. Der Glaube spricht: „Tobe, Welt, und springe; / ich steh hier und singe / in gar sichrer Ruh.“

Wer glaubt, der weiß auch, dass es einen tieferen Lebenssinn gibt als Arbeiten. Er arbeitet zwar gern und dient seinen Mitmenschen auf diese Weise, aber er kann auch zur rechten Zeit aufhören, er kann Pause machen. Gott selbst hat es ihm vorgemacht bei der Schöpfung. Ein Christ braucht sich nicht kaputt­zuschuften, daran hängt nicht sein Selbstwert­gefühl. Er genießt den Feierabend und den Feiertag. Er ruht sich dann aus und tut, was ihm Spaß macht. Vor allen Dingen aber hat er Zeit für die Gemein­schaft mit seinem himmlischen Vater in Wort und Antwort. Er sieht darum zu, dass nicht auch noch der Sonntag mit allerlei Ver­pflichtun­gen und Terminen überhäuft wird, sondern hält ihn sich, wenn irgend möglich, frei – frei für den Gottes­dienst und die Be­schäftigung mit Gottes Wort. Schließlich denkt der Glaubende, wenn er mal so recht schön zur Ruhe kommt am Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub: Schön ist das, richtig schön! So schön wird es mal in der himmlischen Ruhe sein. Nein: eigentlich noch viel, viel schöner. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1992.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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