Glaube, Sünde, Heilung

Predigt über Markus 2,1‑12 zum 19. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ja was ist denn nun leichter? Zu einem Gelähmten zu sagen: „Dir sind deine Sünden vergeben“, oder zu sagen: „Steh auf, nimm dein Bett und geh umher“? Die Antwort ist nicht leicht. Menschlich gesehen ist gewiss das Erste einfacher: „Dir sind deine Sünden vergeben“ – das kann jeder sagen, und niemand kann wissen­schaft­lich nachprüfen, ob es stimmt. Das Heilungs­wort hingegen müsste sich sogleich als wahr erweisen, oder es enttarnt sich als Lüge. Gehen wir aber davon aus, dass das Wort in jedem Fall wahr und gültig ist, dann müssen wir umgekehrt antworten: Sünden vergeben ist schwerer. Die Schrift­gelehrten haben nämlich recht: Nur Gott kann Sünden vergeben, sonst niemand. Anders ist das mit der körper­lichen Heilung: Das kann auch der Teufel, und er gebraucht ja noch heute diese seine Macht in Konkurrenz zu Gott. Wer zum Besprecher geht oder irgend­welche eso­terischen Wunder­mittel nimmt, der kann davon durchaus gesund werden; ja, selbst ein Gelähmter kann durch die Macht des Teufels geheilt werden; freilich nur um einen sehr hohen Preis, um den Preis seiner Seele. Unter Umständen können auch Ärzte mit ihrer Schul­medizin einen Gelähmten heilen.

Die Schrift­gelehrten in dem überfüllten Haus mögen ebenso wie wir über die Antwort auf Jesu Frage gegrübelt haben. Aber während sie noch grübelten, gab Jesus selbst die ent­scheidende Antwort – eine unerwartete Antwort, eben eine typische Jesus-Antwort. Jesus zeigte den Anwesenden, dass er beides kann, sowohl Sünden vergeben als auch Gelähmte heilen. Mit der Heilung bewies er ihnen, dass seine Worte keine Lügenworte sind, sondern dass sie bewirken, was sie sagen. So machte er über jeden Zweifel klar, dass auch seine Sünden­vergebung kein leeres Gerede ist. Mit der Sünden­vergebung aber zeigte er, dass er in göttlicher Vollmacht sprach, ja, dass er selbst Gott ist, Gottes ein­geborener Sohn. Niemand kann Sünden vergeben als Gott allein – richtig, also handelt hier Gott selbst.

Liebe Gemeinde, da haben wir auch schon das Ent­scheidende heraus­gefunden, was das heutige Evangelium uns sagen will. In Vers 10 hat Jesus selbst es aus­drücklich gesagt: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschen­sohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“ Zwar sind wir keine Augenzeugen dieser Heilung, aber drei Zeugen und Zeit­genossen Jesu haben es für uns auf­geschrie­ben, drei der vier Evan­gelisten, vom Heiligen Geist getrieben; und ihr Zeugnis ist ohne Zweifel war. Wir wissen, liebe Gemeinde, dass der Gelähmte damals seine Matte zusammen­rollte und auf eigenen Füßen wegging. Durch Jesu göttliches Wort ist das geschehen. Und weil wir das wissen, darum wissen wir auch, dass der Menschen­sohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben. Und weil Gott treu ist und nicht alle fünf Minuten seine Meinung ändert, können wir wissen, dass das Wort Christi noch heute dieselbe Kraft hat und auch unter uns dasselbe wirkt: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Und weil Christus seine Diener und seine Kirche damit bevoll­mächtigt hat, in seinem Namen Sünden zu vergeben, darum haben wir die Gewissheit, dass in der Beichte dasselbe große Wunder geschieht, das damals an dem Gelähmten geschah – das Wunder, das noch größer war als das Heilungs­wunder: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Dieses Wunder ist vor einer halben Stunde hier geschehen, in unserem Beicht­gottes­dienst. Nur Gott kann Sünden vergeben, und er tut es noch heute bei allen Gläubigen, die ihn darum bitten.

Ja, bei allen Gläubigen. Der Glaube ist wichtig. Jesus sagte das Lösewort, als er den Glauben erkannt hatte. Wenn auch die Vollmacht des sünden­vergebenden Menschen­sohnes das Wichtigste in dieser Geschichte ist, so ist sie doch außerdem auch eine Geschichte erstens vom Glauben, zweitens von der Sünde und drittens vom Heilwerden.

Es handelt sich ersten um eine Geschichte vom Glauben. Wir lesen: „Als nun Jesus ihren Glauben sah…“ Wessen Glauben? Ihren Glauben, den Glauben der fünf Leute nämlich, die da plötzlich in sein Leben treten. Es geht um den Glauben des Gelähmten und seiner vier Träger. Was war das für ein Glaube? Gesagt haben die fünf bis dahin nichts. In der ganzen Geschichte sagen sie keinen Ton. Sie haben kein Glaubens­bekenntnis abgelegt, jedenfalls nicht mit dem Mund. Sie sind ganz einfach zu Jesus gekommen, und das war ihr Glaube. Ganz einfach? Nun, so einfach war das ja gar nicht gewesen. Wahr­scheinlich hatten sie es sich einfacher vor­gestellt. Sie hatten von Jesus gehört; sie wussten, dass er Kranke gesund macht. Jetzt, wo er in ihrer Nähe war, wollten sie die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, denn wer sonst sollte dem Gelähmten helfen? Aber viele Menschen wollten die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, und noch mehr wollten ihn einfach hören und erleben. So war sein Haus überfüllt, und vor dem Eingang drängte sich eine große Menschen­traube. Der Gelähmte und seine vier Freunde hatte keine Chance, sich durch­zudrängeln. Aber sie gaben nicht auf. Über eine steile Treppe gelangten sie auf das Flachdach. Nein, einfach war es gewiss nicht gewesen, mit der Trage auf das Dach zu steigen. Und dann ver­wirklichten sie ihre aberwitzige Idee – eine Idee, aus dem Mut der Ver­zweiflung geboren. Not macht bekanntlich er­finde­risch. Sie schoben die Platten beiseite, mit denen das Flachdach bedeckt war, und gruben sich dann förmlich durch die Schicht aus Lehm und Zweigen hindurch, aus der das Dach über den Balken bestand. Durch das Loch ließen sie die Matte mit dem Gelähmten an Stricken hinab, direkt vor Jesu Füße, während die Menge entsetzt zurückwich und dabei noch mehr zusammen­rückte. Und dann geschah es: „Als Jesus ihren Glauben sah …“ Das ist Glaube, liebe Gemeinde: dass da Leute mit aller Macht zu Jesus kommen und seine Hilfe in Anspruch nehmen; dass sie sich durch keine Hindernisse davon abschrecken lassen und dass ihnen dafür keine Mühe zu groß ist. Glauben heißt ja nicht einfach zu meinen, dass es da irgendwo im Himmel einen Gott gibt. Glauben heißt zu Jesus kommen und seine Hilfe in Anspruch nehmen. Glauben heißt wissen: „Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren.“ Aber Jesus kann uns helfen, wird uns helfen, hat uns schon geholfen! Glauben heißt zur Beichte gehen. Glauben heißt, das Wort zu hören und das Wunder zu erleben: „Dir sind deine Sünden vergeben.“

Damit sind wir schon zweitens beim Thema Sünde. Was Sünde ist, das können wir an dem Gelähmten sehen: Sünde ist Ohnmacht, Unvermögen, Lähmung. Der Sünder ist unfähig, Gott und seine Mitmenschen zu lieben. Er ist „ohne rechte Gottes­furcht, ohne rechten Glauben und voll böser Begierde“, wie es im Augsburger Bekenntnis heißt. Wie der Gelähmte nicht laufen kann, so kann der Sünder nicht Gott gehorchen. Und aus diesem Ungehorsam, aus dieser Sünde fließt alles Übel dieser Welt: Krankheit, Leid, Tod und auch die Lähmung des Gelähmten. Nicht, dass dieser Gelähmte mehr gesündigt hätte als andere Menschen; nein, so lässt sich das nicht aufrechnen. Aber seine Lähmung zeigt, dass wir in einer gefallenen und von Sünde ge­zeichneten Welt leben. Wir vergessen ja leider schnell, dass wir Sünder sind. Wir bilden uns auf unser Tun etwas ein und meinen, dass wir unsere Fehler selbst in den Griff bekommen. Falls du so denkst, dann lass dich von Gott eines Besseren belehren. Sünde und Lähmung, Sünde und Leid gehören zusammen. Darum geht Jesus das Übel des Gelähmten von seiner Wurzel her an und sagt zu ihm: „Deine Sünden sind dir vergeben.“

Da sind wir auch schon beim dritten Punkt, der Heilung. Heil wird ein Mensch dann, wenn Gott ihm die Sünden vergibt. Mag das noch so billig und unscheinbar erscheinen, aber die Worte „Dir sind deine Sünden vergeben“, in Christi Vollmacht gesprochen, sind die stärkste Medizin der Welt. „Dir sind deine Sünden vergeben“ –Jesus hat es nicht nur einfach gesagt, sondern er hat für diese Medizin selbst teuer bezahlt; er hat dafür geblutet, gelitten, den Tod und die Hölle geschmeckt. Diese Medizin heilt den Riss zwischen Mensch und Gott, und damit wird alles heil. Der Tod ist nicht mehr Tod, Krankheit und Behinderung sind nicht mehr endgültig. Am Ende steht das Leben im Paradies, wo alle Tränen abgewischt und alle Leiden vergessen sein werden. „Dir sind deine Sünden vergeben“ – fürwahr, das ist die stärkste Medizin der Welt, die sogar den Tod heilt. Freilich ist es eine Medizin auf Hoffnung. Denn ob sie wirklich den Tod heilt, das wird sich erst nach dem Tod zeigen. Aber Christus zeigt uns auch schon seine Macht, wenn er das Leichtere tut und körperliche Gebrechen heilt. Erinnern wir uns, dass er sagte: „Damit ihr wisst, dass der Menschen­sohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim.“ So ist es geschehen, so hören wir es aus Gottes Wort, und so wird unser Glaube gestärkt daran, dass Jesus auch das andere kann, das Größere: Sünden vergeben. Noch heute gibt er uns immer wieder Zeichen seiner Macht in dieser Welt. Er heilt noch heute Kranke, sei es durch die wunderbaren natürlichen Heilungs­kräfte im Menschen, sei es durch die Kunst der Ärzte, sei es auch durch Wunder. Wir sollten uns daher nicht scheuen, auch mit unseren körper­lichen Gebrechen zu ihm zu kommen und ihn zu bitten im Vertrauen darauf, dass er helfen und heilen kann. Die Heilige Schrift fordert uns dazu auch aus­drücklich auf. Im Jakobus­brief heißt es zum Beispiel: „Ist jemand unter euch krank, der rufe die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl im Namen des Herrn“ (Jak. 5,14). Dazu bin ich gern bereit, dazu könnt ihr mich als euren Pastor rufen: dass ich über einem Kranken bete, dass ich ihn segne und dass ich ihn im Namen des Herrn mit Öl salbe. Auch könnte ihr mich rufen, damit wir das Heilige Abendmahl feiern in der Form eines Haus­abendmahls. Gottes Wort verheißt: „Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden“ (Jak. 5,15). Ja, das ist unser Herr: „Der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen“ (Psalm 103,3) – so, wie er es damals beim Gelähmten getan hat.

Wir wissen freilich nicht, wie lange der Gelähmte mit seiner Behinderung leben musste, ehe Jesus ihn heilte. Wir wissen auch nicht, wie lange ein kranker Christ heute auf Genesung warten muss, wieviel Geduld Gott von ihm erwartet. Eines aber wissen wir ganz sicher: Es wird der Tag kommen, an dem wirklich alle Gebrechen überwunden sein werden kraft des Blutes Jesu und seiner Vergebung. Es kommt der Tag, an dem auch der letzte gelähmte Christ wieder auf eigenen Beinen stehen wird, der letzte blinde Christ wieder sehen wird, der Taube hören, der Kranke genesen und der Tote auf­erstanden sein wird. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1992.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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