Gottes Lamm

Predigt über Johannes 1,29 zum Gründonnerstag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Der Maler Mathias Grünewald hat auf dem bekannten Isenheimer Altar Jesu Kreuzigung dar­gestellt. Viele von euch haben dieses Bild sicher schon einmal gesehen: Da ist in der Mitte der Ge­kreuzigte, mit ge­schunde­nem Leib, erbärmlich anzusehen. Links daneben kniet Maria Magdalena, dahinter steht der Jünger Johannes. Rechts am Fuß des Kreuzes ist ein Lamm zu sehen, daneben steht der andere Johannes, Johannes der Täufer, und deutet auf das Kreuz. Solche Dar­stellungen der Kunst erheben nicht den Anspruch, das damalige Geschehen wirklich­keits­getreu wieder­zugeben. Andernfalls müsste man an dem Grünewald-Bild bemängeln, dass Johannes der Täufer schon lange tot war, als Jesus starb; und von einem Lamm am Fuß des Kreuzes steht auch nichts in den Passions­berichten. Nein, solche Dar­stellungen sind kein Bild­dokument, sondern sie verkündigen eine Botschaft. Sie wollen nicht nur betrachtet, sie wollen gelesen sein. Wer Bilder lesen kann, der wird auf dem Kreuzigungs­bild des Isenheimer Altars Erstaun­liches entdecken. Er wird bemerken, dass Christus dort doppelt abgebildet ist: Erstens als Mensch, am Kreuz hängend, und zweitens als Lamm. Johannes der Täufer aber tritt als einer auf, der die Verbindung zwischen beiden Jesus-Darstel­lungen herstellt. Johannes hatte ja einst von Jesus geweissagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ So singen wir auch bei jeder Abendmahls­feier: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser!“ Warum aber wird Christus am Kreuz gerade mit einem Lamm verglichen? Was hat es mit dem Gotteslamm auf sich?

Um das zu verstehen und um überhaupt das Geschehen am Kreuz richtig zu begreifen, müssen wir weit ins Alte Testament zurück­gehen. In der Nacht, bevor die Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei fliehen konnten, geschah Schreck­liches: Gottes Würgeengel ging in die Häuser und tötete alle Erst­geborenen unter Mensch und Vieh. Den Israeliten hatte Gott gesagt, wie sie sich davor schützen können: Sie sollten für jeden Haushalt ein Lamm schlachten – männlich, einjährig, ohne Fehler – und sollten mit dem Blut des Lammes ihre Türrahmen be­streichen. An den so gekenn­zeichneten Häusern würde der Tod vorüber­gehen. Das Lamm sollten sie dann braten und noch in derselben Nacht verzehren. Zu dem Lammbraten sollten ungesäuerte Brote, Wein und bittere Kräuter gereicht werden. Reisefertig sollten die Israeliten bei dieser Mahlzeit sein, denn am nächsten Tag würden sie in die Freiheit aufbrechen. Genauso geschah es dann auch. Das Fest aber mit dem sogenannten Passa-Lamm wurde nach Gottes Willen jedes Jahr gefeiert zur Erinnerung an Gottes Errettung und Befreiung. Luther nannte das Passafest „der Juden Ostern“, und richtig: Gott hatte schon damals an seinen Sohn Jesus Christus gedacht, das wahre Osterlamm, das eigentliche Passalamm, ebenfalls männlich und ohne Fehler (das heißt in seinem Fall: ohne Sünde). Sein Blut, nicht gestrichen an die Balken des Türrahmens, sondern vergossen an den Balken des Kreuzes, wendet den ewigen Tod von allen Sündern ab, die an ihn glauben. Das Gotteslamm Jesus Christus bringt Befreiung – nicht aus der Sklaverei Ägyptens, sondern aus der Tyrannei des Teufels.

Gott hatte den Israeliten aber nicht nur das Passafest eingesetzt, sondern er ordnete ihnen bald darauf einen Opferdienst für die Stiftshütte und für den späteren Tempel. Im Gesetz des Mose lesen wir von vielen ver­schiedenen Opfern zu unter­schied­lichen Anlässen. Das Lamm war dabei ein bevorzugtes Opfertier; es wurde zum Sinnbild des Schlacht­opfers schlecht­hin. Bis heute hat das Opferlamm seine sprichwört­liche Bedeutung. Im Gottes­dienst des Alten Testaments wurden Lämmer auch als Sündopfer dar­gebracht, um Schuld vor Gott zu sühnen. Das Neue Testament erklärt, dass dies ein pro­phetisches Zeichen ist, das auf Christus hinweist, Gottes Opferlamm, das ein für alle Mal die Sünden der ganzen Welt gesühnt hat – auch alle unsere Sünden. Darum brauchen wir Gott heute keine Sündopfer mehr dar­zubringen. Keiner soll meinen, dass er durch persönliche Opfer Gottes Gnade verdienen kann. Nein, Gott selbst hat das eine Opfer gestiftet, das ausreicht, um alle Schuld der Welt zu tilgen: Christus, das Lamm Gottes, ge­schlachtet auf dem „Opfer­altar“ des Kreuzes.

Ebenfalls noch zu alt­testament­licher Zeit zeigte Gott einem Propheten besonders deutlich, wie er in Christus die Welt erlösen wollte. Es handelt sich um den Propheten Jesaja. Sein aus­führliches Zeugnis vom leidenden und sterbenden Gottes­knecht ist die alt­testament­liche Lesung des Karfreitags (Jes. 53). Darin heißt es: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmer­zen… Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zer­schlagen.“ Auch das hat Grünewald gemalt: Der Leib des Ge­kreuzigten ist über und über mit unzähligen kleinen Wunden bedeckt – das sind unsere Missetaten, unsere Sünden, unsere Krank­heiten, unsere Schmerzen. Und weiter heißt es bei Jesaja: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Und dann wenig später: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlacht­bank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“ Da hat Jesaja den Erlöser ebenfalls als das Gotteslamm voraus­geschaut: Ohne Widerrede hat Jesus sich ab­schlachten lassen, ohne Gegenwehr – „wie ein Lamm, das zur Schlacht­bank geführt wird.“

Als Jesus dann zur Welt gekommen war und sich später von Johannes taufen ließ, da gab der Heilige Geist durch Johannes das Zeugnis: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Die Menschen wussten damals, dass das Passalamm und das Opferlamm Rettung bringen, und sie warteten auf das Lamm Gottes, das Jesaja angekündigt hatte. Johannes der Täufer zeigte ihnen nun den, der es ist. Er sagte: „Siehe!“ Mathias Grünewald hat dieses Siehe gemalt; der Täufer deutet mit übergroßem Zeigefinger vom Lamm auf den Ge­kreuzigten. Die Botschaft ist klar: Das ist es, das Lamm Gottes – der da, der Mann am Kreuz! Er trägt die Sünde der Welt; sein Leib ist davon gezeichnet. Unsere Sünden sind wie der Kreuzes­balken, den er nach Golgatha tragen musste. Unsere Sünden sind wie die Dornen­krone, die er auf dem Kopf trug. Unsere Sünden sind Schläge, Spott, Verachtung und Schmerzen, die er zu tragen hatte. Das Gottes- lamm trägt unsere Sünde bis zum bitteren Tod – und trägt sie damit zugleich weg. Das ist ein und dasselbe Wort: tragen und wegnehmen. Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt und so wegnimmt! Wie gesagt: Johannes der Täufer war schon tot, als das Lamm Gottes dann wirklich ge­schlachtet wurde. Aber Jesus hat es kurz vor seinem Tod noch einmal selbst deutlich gemacht, dass er dieses Opferlamm ist. In der Woche, in der er starb, feierte man in Israel gerade wieder das Passafest, „der Juden Ostern“. Die Gelehrten sind sich nicht ganz einig, an welchem Tag genau die Passa-Lämmer ge­schlachtet und gegessen wurden, es war wahrschein­lich der Karfreitag. Jesus jedenfalls hielt mit seinen Jüngern am Donnerstag­abend die Passa-Mahlzeit. Sie aßen das gebratene Lamm mit den bitteren Kräutern und den un­gesäuerten Broten. Sie tranken dazu den Wein. Sie erinnerten sich an das erste Passa, die Errettung vor dem Tod und die Befreiung aus Sklaverei. Jesus aber deutete ihnen dieses abendliche Mahl neu: „Das ist mein Leib“, sprach er über dem Brot. „Das ist mein Blut“, sprach er über dem Wein im Kelch. Und dann verfügte er: „Nehmt! Esst! Trinkt! Ich gebe es hin zur Vergebung der Sünden.“ Jesus, das wahre Osterlamm, begründete das Heilige Abendmahl, deutete damit seinen bevor­stehenden Tod und stiftete so das Sakrament, in dem wir noch heute seinen Leib und sein Blut zur Vergebung der Sünden empfangen. Auch das hat Grünewald gemalt: Das Lamm unter dem Kreuz hat an der Brust eine Wunde. Daraus strömt Blut und wird aufgefangen in einem Abendmahls­kelch. Deshalb haben die Worte Johannes des Täufers in unserer Abendmahls­liturgie ihren Platz; wir singen: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser.“ Am Karfreitag dann (wahr­scheinlich zu der Zeit, als die Passalämmer der Juden zu tausenden in Jerusalem ge­schlachtet wurden), ist auch das eine Lamm Gottes vor den Toren Jerusalems ge­schlachtet worden auf dem Hügel Golgatha. Das Lamm, das Grünewald unter dem Kreuz gemalt hat, trägt ein Kreuz.

Als Jesus dann nach drei Tagen wieder auf­erstanden war, als er seine Jünger zum Zeugen­dienst ausgesandt hatte und in den Himmel aufgefahren war und als zu Pfingsten der Heilige Geist über die Jünger kam, da predigten sie überall vom Lamm Gottes, das die Sünden der Welt getragen und dadurch weggenommen hat. Das Lamm ist immer wieder Thema in ihren Missions­predigten. Der erste Afrikaner, der zum Glauben kam, ein Kämmerer aus Äthiopien, las die Prophe­zeiung des Jesaja, und Philippus verkündete ihm die Erfüllung: Jesus Christus ist dieses Gotteslamm. Petrus bezeugte es der Christen­heit in seinem ersten Brief so: „Ihr wisst, dass ihr nicht mit ver­gänglichem Gold oder Silber erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väter Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines un­schuldigen und un­befleckten Lammes“ (1. Petrus 1,19). Und der Apostel Johannes durfte das erhöhte Lamm im Himmel schauen, und so hat er es im Buch der Offenbarung auf­geschrie­ben. Er schaute es vor Gottes Thron mit sieben Hörnern und sieben Augen; das bedeutet: in der Fülle königlicher Macht und göttlichen Geistes. Er hörte den Lobpreis aller Engel und aller Wesen im Himmel: „Das Lamm, das ge­schlachtet ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob“ (Offb. 5,12). Wenn Johannes im Buch der Offenbarung Christus erwähnt hat, dann hat er oft einfach nur vom Lamm ge­schrieben.

„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde träg.“ Das sagt Gottes Wort auch dir. Auch deine Sünde hat dies Lamm am Kreuz getragen. Auch dir gilt dieses Siehe. Ja, sieh nur hin, was deine Sünde angerichtet hat, aber sieh auch, was Gottes Liebe anrichtet: Deine Sünden sind gesühnt, getilgt, ab­gewaschen! Nimm es im Glauben an. Bestreiche den Türrahmen deines Herzens mit dem Blut des wahren Oster­lammes, dann hat der Tod keine Macht über dich, und du wirst frei von der Sklaverei des Teufels. Reinige dich durch das Blut des Lammes. Lass dir diese Vergebung zusprechen und zweifle nicht. Feiere das Passamahl des Neuen Bundes mit, das Heilige Abendmahl. Iss vom Leib dieses Osterlammes und trinke sein Blut zur Vergebung der Sünden. Denke daran, dass das erhöhte Lamm jetzt nicht nur im Himmel ist, sondern zugleich mitten unter uns. Rede zu ihm, bete es an, folge ihm nach, nimm auch sein Kreuz auf dich. Dann wirst du einst in den un­aussprech­lichen Jubel des Himmels einstimmen können: „Das Lamm, das ge­schlachtet ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Sträke und Ehre und Preis und Lob.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1992.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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