Das Wesen der Liebe

Predigt über 1. Korinther 13,4‑7 zum Sonntag Estomihi

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Die Liebe ist das Aller­wichtigste. Wer nichts von der Liebe versteht, der versteht nichts vom christ­lichen Glauben. Wer aber versteht, was Liebe ist, der hat alles verstanden. Ja, die Liebe ist das Aller­wichtigste – nicht irgendeine Liebe, sondern die göttliche Liebe; also die Liebe, die von Gott kommt und nach Gottes Vorbild auch bei denen zu finden ist, die an Jesus glauben. Diese Liebe ist mehr, als wenn man jemanden oder etwas nur einfach gern hat. Diese Liebe ist mehr als Sympathie. Die Liebe ist mehr als das erotische Begehren von Mann und Frau. Diese Liebe ist sogar mehr als die starke Gefühls­bindung zwischen Eltern und ihren Kindern. Diese Liebe ist so besonders, dass das Neue Testament ein besonderes Wort für sie verwendet, das griechische Wort „Agape“. Diese Liebe ist so besonders, dass der Apostel Paulus ihr im 1. Ko­rinther­brief ein ganzes Kapitel gewidmet hat – ein Kapitel, das aus dem Rest des Briefes herausragt wie ein Berg aus einer Ebene. Es ist ein Hymnus und wird deswegen auch „das Hohelied der Liebe“ genannt. Die Agape-Liebe ist die höchste Geistegabe und die schönste Glaubens­frucht, die Gott uns schenkt. Die Christen von Korinth waren eine vielseitig begabte Gemeinde; es war dort wirklich etwas los, vor allem in geistlicher Hinsicht. Viele predigten und viele weissagten. Am laufenden Band wurden Bibel­stunden und Gottes­dienste gehalten, es wurde in bekannten und fremden Sprachen Gott gelobt, und es geschahen sogar Wunder­heilungen. Der Apostel Paulus freute sich mit den Korinthern darüber, machte ihnen aber zugleich deutlich: Das alles ist nichts wert, wenn ihr dabei nicht die Liebe habt, die göttliche Agape-Liebe.

Lasst uns jetzt auf das Urbild dieser Liebe blicken, auf Gottes Barm­herzigkeit. Gottes Liebe ist Fleisch geworden in seinem Sohn Jesus Christus. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen ein­geborenen Sohn gab…“ (Joh. 3,16). Sieh dir Jesus an, wie er gelebt und gelitten hat! Sieh dir Jesus an, wie er gestorben und auf­erstanden ist! Wenn du auf Jesus siehst, dann siehst du die Liebe schlecht­hin. Und wenn du diese Verse aus dem Hohenlied der Liebe ganz verstehen willst, dann denke an Jesus. Setze einfach seinen Namen an die Stelle des Wörtchens „Liebe“, und du weißt, was gemeint ist: „Jesus ist langmütig und freundlich, Jesus eifert nicht, Jesus treibt nicht Mutwillen. Er bläht sich nicht auf, er verhält sich nicht ungehörig, er sucht nicht das Seine, er lässt sich nicht erbittern, er rechnet das Böse nicht zu, er freut sich nicht über die Un­gerechtig­keit, er freut sich aber an der Wahrheit. Er erträgt alles, er glaubt alles, er hofft alles, er duldet alles.“

In dieser Woche beginnt die Passions­zeit, und wir wenden mit Jesus unsern Blick nach Jerusalem und begleiten ihn in Gedanken auf seinem Leidensweg. Lasst es uns heute schon tun unter dem Blickwinkel der Liebe. Lasst uns darauf achten, wie Jesus in seinem Leiden und Sterben das gelebt hat, was hier von der göttlichen Liebe ausgesagt ist.

Jesus ist langmütig, geduldig, gelassen. Langmütig – dieses Wort wird auch anderswo in der Bibel auf Gott bezogen. Gottes Langmut gibt uns Gelegenheit zur Buße. Denkt nur einmal daran, was Jesus sich alles von Menschen gefallen ließ! Schon als Neu­geborener trachtete man ihm nach dem Leben. Man stellte ihm Fallen, man verachtete ihn, man verspottete ihn. Selbst seine nächsten Angehörigen erklärten ihn zeitweise für verrückt. Selbst seine Jünger verstanden ihn oft nicht und ließen ihn dann in seiner schwersten Stunde im Stich. Der eine verriet ihn, der andere verleugnete ihn. Menschlich gesehen hätte Jesus völlig frustriert sein müssen. Er hätte zu seinem Vater zurück­kehren können und sagen: Vater, diese Menschen sind es nicht wert; bei denen ist Hopfen und Malz verloren; es lohnt sich nicht, für so verstockte Leute zu sterben. Aber Jesus war geduldig und langmütig; er ließ sich auf seinem Liebesweg nicht beirren.

Jesus ist freundlich, milde, sanftmütig, gütig. Auch dies sagt die Bibel aus­drücklich von Gott: „Als aber erschien die Freundlich­keit und Menschen­liebe Gottes, rettete er uns…“ (Titus 3,4‑5). Wie aber rettete er uns? Er rettete uns durch Jesu Leiden und Sterben; da ist uns Jesu Liebe und Freundlich­keit erschienen.

Jesus eifert nicht, Jesus treibt nicht Mutwillen, Jesus bläht sich nicht auf. Er ist vielmehr demütig und erniedrigt sich weit unter das Maß, das einem gerechten Menschen zugemutet werden kann. Er recht­fertigt sich nicht in dem Prozess, der ihm gemacht wird, er bezeugt lediglich mit wenigen Worten die Wahrheit.

Jesus verhält sich nicht ungehörig. Er lässt sich widerstands­los festnehmen von denen, die irdische Gewalt über ihn haben. Er lässt sich widerstands­los vor ihr Gericht stellen. Er tut das, was einem Untertanen seiner Zeit gebührt und was sich gehört, wiewohl er unschuldig ist.

Jesus sucht nicht das Seine. Nie hat Jesus seine göttliche Macht gebraucht und ein Wunder getan, um sich selbst einen Vorteil zu ver­schaffen. Auch den bitteren Kelch, vor dem ihm so angst und bange war, hat er getrunken – aus Gehorsam zu seinem himmlischen Vater und aus Liebe zu uns Menschen.

Jesus lässt sich nicht erbittern. Nie ließ er sich zum Jähzorn oder zu unbedachten Worten und Taten reizen. Jesus war nicht auf­brausend. Wenn er harte Worte gebrauchte, dann nur, um die Menschen auf­zurütteln und zur Buße zu rufen.

Jesus rechnet das Böse nicht zu. Noch bei seiner Kreuzigung betete er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34). Und das betete er nicht nur für die Folter­knechte am Kreuz, sondern dieses Gebet gilt für alle Menschen, die unter sein Kreuz kommen.

Jesus freut sich nicht über die Un­gerechtig­keit. Er sagte nicht selbst­zufrieden: Da haben wir es mal wieder, die Welt ist böse, nur ich bin gut. Dabei könnte mit gutem Gewissen so reden, er als einziger. Aber im Gegenteil: Er weinte bitterlich über die Verstockung seiner Zeit­genossen.

Jesus freut sich an der Wahrheit. Für die Wahrheit gibt er Zeugnis vor dem Hohen Rat, vor Pilatus und vor aller Welt. Ja, er selbst ist die Wahrheit in Person und zeigt dabei mit seinem Leiden und Sterben Gottes wunderbare Wahrheit für alle Menschen: das Evangelium, die Rettung von Sünden.

Und dann noch das, was wir kaum verstehen: Jesus erträgt alles, glaubt alles, hofft alles und duldet alles. Ja, alles, was ihm die Menschen antaten, hat er ausgehalten und geduldig ertragen. Er trug und ertrug nicht nur die Sünden­schuld seiner Zeit­genossen, sondern auch die Sünden­schuld aller Menschen dieser Erde, auch unsere Sünden­schuld, wann immer wir gesündigt haben. Er hat es alles ertragen bis zum bitteren Ende, bis er sprach: „Es ist voll­bracht.“ (Joh. 19,30) Auch hat er alles geglaubt, hat in voll­kommenem Vertrauen zu seinem himmlischen Vater gelebt. Und alles hat er gehofft, was ihm von seinem himmlischen Vater verheißen war. Selbst als er die tiefste Gott­verlassen­heit durchleiden musste, konnte er noch beten: „Vater, ich befehle meinem Geist in deine Hände.“ (Lukas 23,46)

Wie wunderbar ist die Liebe Gottes, die in Jesus Fleisch geworden ist und die sich in ihm für uns geopfert hat. Jesus hat das alles für uns getan, damit wir nicht verderben, sondern ewig leben. Und wir strecken nun unsere leeren Bettler-Hände nach Jesus aus und lassen sie uns von ihm füllen: mit Vergebung, mit Leben, mit seiner Liebe. Nichts anderes ist der christliche Glaube, als dass unsere leeren Hände mit Gottes Liebe gefüllt werden. Wer das begriffen hat, der hat alles begriffen.

Wenn wir Christi Liebe im Glauben annehmen, dann wird die Frucht nicht ausbleiben. Wie heißt es doch so schön im Gesangbuch? „Ein wahrer Glaube Gott's Zorn stillt, / daraus ein schönes Brünnlein quillt, / die brüderliche Lieb genannt, / daran ein Christ recht wird erkannt.“ Die brüderliche Liebe ist der Abglanz von Gottes Liebe bei seinem Volk; an ihr werden als Jünger Jesu erkannt. Ja, Christen erkennt man daran, dass sie sich unter­einander lieben mit derselben opfer­bereiten Liebe, mit der Jesus sein Leben für uns hingegeben hat. Langmütig und geduldig erträgt die Bruderliebe die Schwächen und Fehler der Mit­christen. Freundlich ist sie zu jedermann. Sie ist nicht auf­geblasen; sie macht sich nicht größer, als sie ist; sie prahlt nicht mit den Gaben, die sie hat. Sie tut ihren Dienst im Ver­borgenen. Sie erwartet keine Anerkennung und keinen Dank von den Menschen. Sie ist nicht mutwillig, aufbrausend oder jähzornig. Sie bleibt ruhig und gelassen in allen Lebens­lagen. Sie ist nicht ungehörig, sondern höflich. Sie respektiert gute Sitten und Manieren. Sie begegnet allen Mitmenschen mit der nötigen Ehr­erbietung. Sie ist un­eingen­nützig. Sie fragt nicht: Was habe ich davon?, sondern sie fragt immer nur: Was hat der andere davon? Vor allem: Sie rechnet das Böse nicht zu. Sie vergibt dem Nächsten, egal wie sehr und wie oft er sich verletzend verhalten hat. Sie vergibt siebenmal siebzigmal, und sie tut es gern. Sie geht immer wieder mit einem freund­lichen Lächeln auf den Bruder zu. Sie freut sich nicht über die Un­gerechtig­keit. Sie schimpft nicht lustvoll über die Schlechtig­keit der Welt und sonnt sich dabei nicht in der eigenen Frömmig­keit, sondern sie weint über die Sünden der Welt und auch über die Schwachheit in den eigenen Reihen. Sie setzt alles daran, um zu helfen und zu heilen. Sie freut sich an der Wahrheit, an Gottes Wahrheit, an Gottes Wort. Sie kommt oft und gern an diese Quelle des Lebens. Und schließ­lich: Sie erträgt und duldet alles, was man ihr antut an Ver­letzungen und Ver­leumdungen, an Spott und übler Nachrede. Sie kann gut damit leben, weiß sie doch: Der Herr und Meister hat auch alles ertragen. Sie ist dabei voll Vertrauen und voll fröhlicher Hoffnung, denn sie weiß: Der himmlische Vater ist alles Vertrauen und alle Hoffnung wert.

Lieber Bruder, liebe Schwester, findest du dich wieder in dieser Be­schreibung der brüder­lichen Liebe? Wenn nicht, so strecke deine liebes­leeren Hände aus und lass sie dir von Jesus füllen; lass dir deine Schuld vergeben und dich von ihm beschenken. Wenn ja, dann preise Gott für diese Glaubens­frucht, denn sie ist nicht dein, sondern sein Werk. Ja, preise Gott dafür, dass er die Gabe seiner Liebe in unsere Herzen ausgießt, damit sie unser ganzes Leben erfülle und überströme zum Nutzen und zur Freude für andere. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1992.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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