Liebe Brüder und Schwester in Christus!
Wie immer hatte ich mir frühzeitig vorgenommen, über die Jahreslosung zu predigen. Ich fand den Text vorn in meinem kirchlichen Taschenkalender abgedruckt: „Jesus Christus spricht: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Alles klar, dachte ich und hatte mir schnell eine Gliederung für die Predigt im Kopf zurecht gelegt. Ich wollte jede Menge Ängste beim Namen nennen: Angst vor Krankheit, Angst vor dem Tod, Angst vor dem Versagen, Angst vor Umweltvergiftung, Angst vor Krieg… Und dann wollte ich davon reden, wie Jesus uns hilft, mit diesen Ängsten fertigzuwerden. Aber Jesus selbst machte mir einen Strich durch mein Predigtkonzept. Als ich nämlich den Satz in meiner griechischen Bibel nachschlug und mich hineinvertiefte, stellte ich fest: Jesus hat ja eigentlich etwas ganz anderes gemeint! Mit „Angst“ meinte er gar nicht solche Befürchtungen, wie ich sie mir vorgestellt habe. Seine zwölf Jünger, denen dieses Wort zuerst galt, waren keineswegs halbneurotische Angsthasen, denen man solche Befürchtungen unterstellen müsste, es waren vielmehr mutige Männer.
„In der Welt habt ihr Angst“ – damit meinte Jesus nicht die Befürchtungen ängstlicher Typen, die ein linderndes Seelenpflaster nötig haben. Für „Angst“ gebrauchte Jesus vielmehr ein Wort, das man auch mit „Druck“ oder „Bedrängnis“ übersetzen kann. Es geht also nicht um das Gefühl innerer Beklemmung, sondern es geht um ganz handfeste Leiden, die von außen über uns kommen. Es geht nicht um das Gefühl des Leidens, sondern um die Tatsache des Leidens! Es geht um das Kreuz, das allen Jüngern in der Jesusnachfolge verheißen ist.
„In der Welt habt ihr Angst“ – damit stellte Jesus ganz nüchtern eine Tatsache fest: In der Welt kriegt ihr Druck. In der Welt geratet ihr in Bedrängnis. In der Welt müsst ihr leiden. In der Welt drückt euch das Kreuz, dunkel und drohend. Blicken wir zurück auf das vergangene Jahr, so werden wir manchen Beleg für diese Aussage finden. Wir brauchen gar nicht weit zu gehen, auf unserem Friedhof gibt ein Holzkreuz Zeugnis davon. Das Kreuz markiert das Grab von zwei Mädchen, Töchter einer lutherischen Pastorenfamilie. Viele werden das schreckliche Erlebnis noch nicht vergessen haben: Wie diese beiden fröhlichen Christenmenschen im Sommer zu ihrer Traumreise nach Südafrika aufbrachen, wie sie die Mission unserer Kirche kennenlernen wollten, wie sie selbst auch mithelfen wollten in einer diakonischen Einrichtung. Und dann sind sie mit einem Kleinbus verunglückt – insgesamt sechs Jugendliche, fünf davon tödlich. Sie sind in den Trümmern des Busses verbrannt. Ja, das Kreuz über den Gräbern erinnert daran. Ein weiteres Kreuz wurde an der Unglücksstelle aufgerichtet. Für die betroffenen Familien ist damit das eingetroffen, was in der Jahreslosung Angst genannt wird: „In der Welt habt ihr Angst.“ In der Welt kriegt ihr Druck. In der Welt geratet ihr in Bedrängnis. In der Welt müsst ihr leiden. In der Welt drückt euch das Kreuz, dunkel und drohend.
Es ist gut, dass Jesus es so klar vorausgesagt hat – nicht nur den zwölf Jüngern, sondern uns allen, die wir in seiner Nachfolge stehen. So können wir wissen: Es muss kommen, das Kreuz. Es bedeutet nicht, dass Gott uns verlassen hätte. Es bedeutet nicht, dass Gott zu schwach wäre, um uns zu behüten. Natürlich, viele Fragen bleiben offen: Warum gerade diese jungen Christenmenschen? Warum auf einer kirchlichen Freizeit? Viel Hätte-doch und Wäre-doch spukt durch die Köpfe der Hinterbliebenen. Aber eins steht fest: Jesus Christus hat uns nicht verlassen. „In der Welt habt ihr Angst“, das steht über dem Leben aller Jesus-Jünger. Wer nicht bereit ist, das anzunehmen, der kann kein Christ sein. „Wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein“, hat Jesus gesagt (Lukas 14,27). In der Welt drückt das Kreuz – ja, das wollen wir demütig so annehmen. Wenn wir das tun, ersparen wir uns manche bittere Enttäuschung. Irgendwie schleicht sich doch immer wieder der Gedanke ein, dass unser Christsein uns vor Leid bewahren müsse, dass Gott unsere frommen Bemühungen bereits in diesem Leben honorieren müsse, und zwar äußerlich wahrnehmbar. In der Tat meint es Gott ja auch überaus gut mit uns und segnet uns reichlich – wenn auch nicht als Lohn für unsere Frömmigkeit, so doch aus lauter väterlicher Güte und Gnade. Aber wir sollten nicht meinen, dass es uns Christen immer äußerlich besser gehen müsse als den anderen Menschen und dass uns schweres Leid erspart bliebe. Manchmal scheint gerade das Gegenteil der Fall zu sein. Wenn wir aus dem göttlichen Wort leben und nicht aus unserer religiösen Einbildung, wird uns das nicht verwundern, sondern wir werden in allem Leid nüchtern feststellen: Aha, natürlich, das ist ja das Kreuz, das kann im Christenleben nicht fehlen. So hat Christus es ja vorausgesagt: In der Welt habt ihr Angst, in der Welt drückt euch das Kreuz.
Es wäre freilich nur ein schwacher Trost, wenn Jesus hier geendet hätte. Aber der Satz geht ja noch weiter: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Damit schauen wir hinter alles Leid, das uns oft so groß vor Augen ist. Damit erblicken wir die Kehrseite des Kreuzes, das uns so dunkel und drohend drückt. „In der Welt drückt euch das Kreuz – aber seid getrost, das Kreuz hat die Welt überwunden!“ Die Rückseite des dunklen Kreuzes ist das strahlend helle Kreuz, das Zeichen unseres Herrn Jesus Christus – das Zeichen, unter dem er Hölle, Tod und Teufel besiegt hat, und damit alles, was hinter den Leiden dieser Welt steht. Die Wurzel allen Übels hat Jesus am Kreuz getilgt und die Strafe für unsere Sünden getragen. Das dunkle Kreuz, die Änste und Leiden, sind nur noch Nachwehen einer überwundenen Krankheit. Jesus Christus hat am Kreuz die dunkle Seite dieser Welt überwunden – das, was vergänglich ist, was uns Schmerzen und Kummer macht. Das dunkle Kreuz ist im Abzug begriffen; wir werden auf der neuen Erde, die Gott schafft, nicht mehr daran denken. „Ich habe die Welt überwunden“, sagt Jesus.
Das gilt auch ganz konkret im Fall der verunglückten Jugendlichen. Denn was ist geschehen? Fünf junge Menschen, die getauft sind und an ihren Heiland Jesus Christus glaubten, sind aus dieser Welt geschieden, um dorthin zu gelangen, wo die ewigen Freuden sind. Vier evangelisch-lutherische Familien haben in Zeiten tiefsten Leides erfahren, wie sehr Gott und sein Wort wirklich trösten können. Pastoren sind durch dieses Ereignis für ihre Verkündigung gestärkt worden. Viele Jugendliche, die die Verunglückten kannten, haben erkannt, wie wichtig es ist, jederzeit auf das Sterben vorbereitet zu sein. Die Kreuze auf unserem Friedhof und in Südafrika verkündigen den auferstandenen Christus über dem Grab und über der Unglücksstelle, verkündigen die Hoffnung des ewigen Lebens. „Seid getrost“, sagt Christus mit diesen Kreuzen, „ich habe die Welt überwunden!“
Getrost sollen wir sein, und getrost können wir sein, weil unser Herr die Welt wirklich überwunden hat an seinem Kreuz. Indem Jesus seinen Jünger und uns sagt: „Seid getrost!“, da schenkt er uns das zugleich; diese Kraft steckt nämlich in seinem Wort drin. „Seid getrost“, sagt er, und weiß dabei ganz genau, dass wir aus eigener Kraft gar nicht getrost sein können in leidensbeschwerten Zeiten. Aber das brauchen wir auch gar nicht, weil er uns das durch die Kraft seines Wortes schenkt, durch die Kraft seines Evangeliums: „Ich habe die Welt überwunden.“ Getrost werden wir, weil wir getröstet werden durch Gottes Wort. Das ist etwas anderes als Optimismus oder „positives Denken“. Beim „positiven Denken“ heißt es: Glaube ganz fest daran, dass du schaffst, was du dir vorgenommen hast, achte nicht auf die Schwierigkeiten, dann wird dir auch Großes und Schweres gelingen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen damit schon auf den Bauch gefallen sind! Solange jemand gesund, klug und leistungsfähig ist, mag das angehen, aber wenn das Leid kommt… „In der Welt habt ihr Angst“, vergessen wir das nicht! Nein, auf uns selbst können wir nicht bauen, wenn wir getrost werden wollen, da werden wir eher entmutigt, wenn wir sehen, wie vieles in Unordnung ist in unserem Leben. Aber wenn wir auf den Überwinder am Kreuz schauen, dann wird er uns durch sein Wort schenken, dass wir ganz getrost werden, so getrost, dass wir sogar getrost sterben können. Wissen wir doch: Das Kreuz weist uns den Weg zum Himmel.
Liebe Gemeinde, lasst uns in diesem Zeichen durch das neue Jahr gehen. Lasst uns nüchtern mit dem dunklen Leidenskreuz rechnen: „In der Welt habt ihr Angst“ – in der Welt drückt euch das Kreuz. Aber lasst uns dabei getrost sein und die Rückseite nicht vergessen: „Das Kreuz hat die Welt überwunden.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |