Jesus erbarmt sich über unsere Behinderungen

Predigt über Markus 7,31‑37 zum 12. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich finde es hervor­ragend, wie unsere Gesell­schaft sich um Behinderte kümmert. Man strebt an, dass sie so weit wie möglich ein normales Leben führen können. Sie sollen von den anderen Menschen nicht isoliert werden. Da werden Parkplätze für Rollstuhl­fahrer ein­gerichtet, da werden Bürger­steige abgesenkt, da werden Rampen, Fahrstühle und behinderten­gerechte Toiletten gebaut. Die moderne Elektronik ermöglicht viele Hilfen für die Seh- und Hör­behinderte: Da gibt es Computer für Blinde und Telefone für Gehörlose. Früher waren viele Menschen starr vor Entsetzen, wenn sie einen Behinderten sahen; heute freut man sich darüber, wenn Behinderte in der Öffentlich­keit auftauchen und aktiv sind. Sicher könnte unsere Gesell­schaft noch behinderten­freund­licher werden, aber es ist schon eine Menge erreicht worden.

Trotzdem dürfen wir nicht vergessen: Eine Behinderung schränkt einen Menschen nach wie vor ein. Er hat es schwerer als andere. Und eine Behinderung ist auch immer eine seelische Belastung. Schon wer schwerhörig ist, hat große Probleme: Trotz Hörgerät kriegt er manches nicht mit. Er fühlt sich schnell aus­geschlos­sen, wenn alle munter durch­einander schwatzen und er nichts versteht. Ja, eine Behinderung ist eine schwere Belastung für den Be­troffenen. Noch schwerer ist es allerdings oft für die An­gehörigen. Was für ein seelischer Druck lastet zum Beispiel auf den Eltern behinderter Kinder! Wenn eine Mutter ein behindertes Kind zur Welt bringt, dann dauert es meistens lange, bis sie sich halbwegs damit abgefunden hat.

Ich nehme an, wir können nun ein klein wenig nach­empfinden, was für großes mensch­liches Leid Jesus damals begegnete. „Sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn legte“, heißt es in bibel­typtischer Nüchtern­heit und Zurück­haltung. Ein taubstummer Mann wird zu Jesus gebracht. Von wem? Nun, es werden wohl seine Angehörigen gewesen sein, vielleicht seine Eltern. Es wäre nicht das erste Mal, dass Eltern Jesus um Hilfe bitten für ihr krankes Kind. Da begegnet also Jesus das Leid des Taubstummen selbst und das Leid seiner An­gehörigen. Da begegnet ihm ein Be­hinderter, für den es keine technischen Hilfen gibt. Da begegnet ihm einer, der nicht finanziell abgesichert ist durch ein soziales Netz, sondern der auf die Mild­tätigkeit anderer angewiesen ist. Da begegnet ihm einer, von dem die Mitmenschen im Stillen denken: „Er selbst oder seine Eltern müssen schwer gesündigt haben, dass er so gestraft ist.“ Ja, das ist das große, ohnmächtige Leid, das Jesus hier begegnet. Und die Leute sehen ihre letzte Hoffnung darin, dass Jesus ihm die Hand auflegt. Man hatte schon viel gehört von seinen Wunder­taten.

Und wie reagiert Jesus nun? Lasst uns einmal ganz genau darauf achten, was er sagt und tut. Es ist er­staunlich, wie er sich um diesen einzelnen Behinderten kümmert, wie er sich ihm ganz und gar zuwendet, mit ungeteilter Aufmerksam­keit. Zunächst nimmt er ihn aus der Menge beiseite. Er will ihm dadurch ohne Worte zu verstehen geben: Du bist jetzt gemeint, ich bin jetzt für dich da. Vielleicht hat er ihm liebevoll seinen Arm um die Schultern gelegt und ihn an eine ruhige Stelle geführt, wo nicht so viele neugierige Augenpaare auf ihnen lasten. Dann legt er ihm die Finger in die Ohren und berührt seine Zunge mit Speichel. Das ist kein Hokuspokus, sondern das ist Zeichen­sprache. So sagt Jesus dem, der nichts hören kann: Ich handele jetzt an dir, ich mache jetzt deine Ohren und deinen Mund gesund. Dann sieht Jesus auf zum Himmel. Das ist immer noch Zeichen­sprache! Damit sagt er dem Taub­stummen: Die Hilfe und Heilung kommt von oben, von meinem und deinem Vater im Himmel. Wenn du jetzt wieder gesund wirst, dann ist das Gottes Werk, nicht das Werk frag­würdiger Kräfte und Geister.

Dann seufzt Jesus. Der arme Kerl tut ihm leid. Wenn Jesus heilt, dann bleibt er dabei nicht cool, dann ist das nicht einfach ein über­natürlicher medi­zinischer Job. Jesus seufzt über die große Last, die der Behinderte bis zu diesem Tag mit sich herum­schleppen musste. Und dann spricht er das lösende Wort: „Hefata!“ – „Tu dich auf!“ Wahr­scheinlich hat der Taubstumme es noch nicht hören können; erst unmittelbar darauf konnte er hören und sprechen. Trotzdem sprach Jesus dieses eine Wort – um der anderen Menschen willen und um unsert­willen. Da werden wir nämlich wieder daran erinnert: Durch's Wort macht Jesus gesund. Auf sein Wort kommt es an. Sein Wort hat die Kraft, Neues zu schaffen und Krankes zu heilen. Gottes Schöpfer­macht liegt in seinem Wort: Durch's Wort rief Gott Himmel und Erde ins Dasein, durch's Wort macht Gottes Sohn Taube hörend, Stumme redend, Blinde sehend, Lahme gehend und Tote lebendig. Und auch hier erweist sich das Schöpfer­wort als vollkommen. Es vollendet in einem Nu das, was es gebietet: „Die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.“ Der vormals Stumme braucht keinen logo­pädischen Unterricht mehr, genauso­wenig wie die von Jesus geheilten Gelähmten noch Kranken­gymnastik brauchten. Gottes Wort schafft das Fertige. Einst hatte es auch Adam und Eva als Erwachsene geschaffen, die seit ihrem ersten Lebenstag in ver­nünftigen Sätzen reden konnten.

Ja, es ist wunderbar zu hören, wie Jesus sich um diesen Behinderten kümmert und ihn heilt. Darüber kann jeder Behinderte noch heute froh werden. Denn wer mit einem körper­lichen Gebrechen belastet ist oder wer durch seine Mitmenschen damit kon­frontiert wird, der fragt sich oft: Was sagt Jesus dazu? Lassen wir die Frage nach der Ursache, nach dem Warum hier einmal beiseite, da könnte man viel zu sagen und würde doch das letzte Geheimnis nicht lüften. Aber was Jesus von Behinderten denkt und was er zu ihnen sagt, das wird hier ganz deutlich: Er ist voll Mitgefühl. Er hat sie lieb. Er seufzt mit ihnen. Er stellt sich auf sie ein, wenn er ihnen begegnet. Und er macht sie am Ende gesund. Wenn du behindert bist, dann darfst du wissen: gerade dir ist Jesus ganz besonders nahe.

Es sind mehr Menschen behindert, als wir gewöhnlich denken. Ist jemand blind oder taubstumm, hat jemand eine geistige oder körperliche Be­hinderung, dann ist das mehr oder weniger offen­sichtlich. Anders ist es schon bei einer seelischen Krankheit. Da erkennen die Mitmenschen oft nicht an, dass derjenige in seiner Lebens­funktion stark ein­geschränkt ist, halten ihn womöglich für faul oder wehleidig. Und dann gibt es da noch die vielen Ein­schränkun­gen, die man gemeinhin nicht als Behinderung bezeichnet, die einen Menschen aber doch tatsächlich behindern. Da kann sich einer nur schwer etwas Neues merken; das behindert ihn in seiner Schul- und Berufs­ausbildung. Da kann einer nur schwer auf fremde Menschen zugehen und ein Gespräch mit ihnen beginnen, das behindert ihn in seinen sozialen Kontakten. Da ist einer un­geschickt, das behindert seine praktischen Tätig­keiten. Aber auch wenn jemand keines dieser Probleme hat – eine Behinderung ist uns allen gemeinsam: Wir sind alle herzkrank. Wir haben ein Herz, das nicht richtig lieben kann, weder Gott noch den Mit­menschen. Unsere Worte und Werke sind in der Liebe behindert. Unsere Bemühungen zu lieben sind oft so unbeholfen wie das Lallen eines Taub­stummen, der gern etwas sagen möchte.

Haben wir das erkannt, dann dürfen wir den Trost aus diesem Gotteswort auf uns beziehen. Auch wenn diese Herzensbehinderung deine einzige Behinderung ist, wendet Jesus sich dir zu, erbarmt sich über dich und hilft dir. Er tut es mit derselben Hingabe, er tut es mit demselben Einfühlungs­vermögen, er tut es genauso persönlich, wie er es damals bei dem Taubstummen getan hat. Er nimmt dich beiseite von der Menge – er hat dich in der Taufe aus­gesondert und persönlich zu einem Kind Gottes gemacht, beim Namen genannt hat er dich da. Er rührt dich an – er legt dir seine Hände auf, wenn der Pastor dir die Hände auflegt. Er legt dir seinen Leib und sein Blut in den Mund, wenn du das Heilige Abendmahl empfängst. Er spricht das erlösende Wort über dir, das dich neu macht, das dich heilt: „Dir sind deine Sünden vergeben“ – das ist dein „Hefata“, dein „Tu dich auf!“ Er zeigt dir seine Liebe auf vielerlei Weise: Da wird das Kreuz über dir geschlagen beim Friedens­gruß und beim Segen. Da erfährst du Zuwendung und Gemein­schaft durch seinen Leib, die christliche Gemeinde.

Eines allerdings ist anders als damals: Du kannst nicht sogleich erfahren, dass du vollkommen geheilt bist. Du musst damit rechnen, dass du an deinen Be­hinderungen bis zum Lebensende zu tragen hast. Du weißt, auch nach der Sünden­vergebung kann sich die Lieb­losigkeit wieder in dein Herz ein­schleichen. Warum ist das so?

Es ist ein Geheimnis. Ein ähnliches Geheimnis wie das sogenannte Messias-Geheimnis, das uns unter anderem auch in dieser Geschichte begegnet. Es ist diese merkwürdige Tatsache, dass Jesus den Zeugen dieser Heilung verbot, davon weiter­zusagen. Sie taten es zwar trotzdem, aber Jesus wollte es eigentlich nicht. Warum nicht? Solche Öffentlich­keitsarbeit müsste doch ganz in seinem Sinne sein! Schließlich sollte doch alle Welt wissen, dass er als Erlöser der Menschen gekommen ist! Warum dieses Messias-Geheimnis? Die Antwort: Es sollte noch nicht überall bekannt werden. Noch nicht – das ist der Schlüssel zu diesem Geheimnis. Erst sollte es Karfreitag und dann Ostern werden. So sollte Jesus der ganzen Welt verkündigt werden: Nicht nur als ein Wunder­heiler, der Kranke und Behinderte gesund macht, sondern vielmehr als der Gekreuzigte und Auf­erstandene. Denn am Kreuz hat Jesus alle Be­hinderungen aller Menschen ein für alle mal getragen, und zu Ostern hat Jesus alle Be­hinderungen aller Menschen ein für alle mal überwunden. Dass der Taubstumme wieder reden konnte, war ein Voraus­zeichen der viel größeren und voll­kommeneren Heilung, die mit der Auf­erstehung vollendet wird.

So lasst uns bescheiden mit den Vorab-Zeichen der Heilung zufrieden sein, die Jesus uns heute schenkt: Seine Zuwendung im Wort, seine Zuwendung im Sakrament, seine Zuwendung in der Ge­meinschaft der Gläubigen, seine Zuwendung in mancher guten Fügung und Heilung, in mancher wunderbaren Rettung und Bewahrung, die er uns ja schon in diesem Leben immer wieder schenkt. Das Werk der Neu­schöpfung wird allerdings erst im Himmel vollendet sein, wenn wir auf­erstanden sein werden von den Toten. Da werden dann mit einem Schlag alle Be­hinderungen weg sein, die Be­hinderungen des Körpers, des Geistes, der Psyche und des liebesarmen Herzens. Dann brauchen wir Gott nicht mehr mühsam stammelnd zu loben, sondern dann dürfen ihn mit unserm ganzen Sein so loben, wie der Taubstumme damals wieder richtig reden konnte. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1991.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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