Das Schaf und der Hirte

Predigt über Lukas 15,1‑7 zum 3. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Als ich zwölf Jahre alt war, nahm ich an einer Klassen­fahrt teil, die uns in den Fränkischen Wald führte. Natürlich unternahmen wir viele Wande­rungen. Schnell ergab es sich, dass ich mit einigen Mitschülern immer vorneweg marschier­te; ich mag es nicht, wenn man zu langsam wandert. Unsere Lehrerin konnte uns kaum bremsen. Einmal erteilte sie uns die Erlaubnis, auf grader Strecke ein Stück vor­zulaufen. Wir genossen diese Freiheit und mar­schierten munter drauf los, Kilometer für Kilometer. Nach längerer Zeit hatten wir allerdings das beklommene Gefühl, dass wir wohl im wahrsten Sinne des Wortes zu weit gegangen waren. Wir hielten an und warteten auf die Lehrerin und den Rest der Klasse. Aber die kamen und kamen nicht. Nachdem wir fast eine halbe Stunde gewartet hatten, waren wir doch ziemlich ratlos: Ob die wohl inzwischen einen anderen Weg gegangen waren? Ob wir nicht doch eher hätten anhalten sollen? Wir ent­schlossen uns, auf eigene Faust zum Schul­landheim zurück­zugehen. Nach kurzer Zeit kamen wir auch an eine bekannte Stelle und fanden zurück. Im Schul­landheim herrschte dicke Luft. Die anderen waren schon vor einer Weile zurück­gekehrt; sie hatten unterwegs immer wieder Wanderer nach uns gefragt, hatten sogar Autos angehalten, aber niemand hatte ihnen Auskunft geben können; wir galten als ver­schollen. Wie muss sich die arme Lehrerin in dieser Zeit geängstigt haben, weil sie doch für uns ver­antwortlich war! Als wir dann noch nicht einmal im Schul­landheim waren, hatte sie sich sorgenvoll wieder auf den Weg gemacht, um uns zu suchen. Erst als sie nach längerer ver­geblicher Suche zurückkam, fand sie uns im Schul­landheim vor und war sichtlich er­leichtert. Die verdiente Strafe bekamen wir aber dennoch: einen Tag Stuben­arrest, während die anderen eine schöne Busfahrt machten!

An diese Begebenheit muss ich denken, wenn ich mir die Sache mit dem verlorenen Schaf vor Augen führe. Unsere Lehrerin machte sich sorgenvoll auf den Weg, um nach ihren verlorenen Schafen zu suchen. Jeder einzelne Schüler war ihr wichtig; jeder Einzelne war ihr anvertraut. Und die Freude war dann natürlich groß, als sie ihre verlorenen Schafe wieder­gefunden hatte.

Ich weiß nicht, ob heute ein Schäfer noch so ein intensives Verhältnis zu jedem seiner Tiere hat. Immerhin sind die Herden ja oft wesentlich größer als hundert Tiere. Und in der heutigen Land­wirtschaft werden die Tiere ja auch nicht mehr so sehr als Einzelwesen betrachtet, sondern einfach als Produktions­mittel. Ich sage das ohne kritischen Unterton (es wäre heute ja anders kaum denkbar), ich sage das nur, damit wir den Hirten von damals besser verstehen – den Hirten, den Jesus in seinem Gleichnis vor Augen hatte. Dem war jedes einzelne Tier ans Herz gewachsen, dem durfte auch nicht eines fehlen, ebensowenig wie der Lehrerin auf der Klassen­fahrt ein Schüler abhanden kommen durfte.

Und nun wollen wir sehen, was das Gleichnis für uns zu bedeuten hat. Wir wollen es dazu zweifach betrachten, erstens aus dem Blickwinkel des Schafes, zweitens aus dem Blickwinkel des Hirten.

Aus dem Blickwinkel des Schafes sagt das Gleichnis uns: Das verlorene und wieder­gefundene Schaf bist du. Du warst verloren in Sünde, weit ab vom guten Hirten, von der nahrhaften Weide und vom lebens­erhaltenden Wasser. Da hat Jesus dich gefunden durch sein Wort und Sakrament, hat dich zurück­gebracht zur Herde und zur lebendigen Gemein­schaft mit ihm. Das ist keine einmalige Sache, sondern das passiert immer wieder in deinem Leben, und zwar bei der täglichen Reue und Buße, die ein Christen­leben ausmacht. Wenn wir den erklärenden Schlusssatz am Ende des Gleich­nisses wörtlich übersetzen, dann steht da: „Im Himmel wird Freude sein über einen Buße tuenden Sünder …“, das heißt einen Sünder, der fortwährend und immer wieder am Buße-Tun ist. Ja, du bist also das verlorene Schaf – immer wenn du sündigst mit Gedanken, Worten und Werken. Und nun sieh auf den guten Hirten aus dem Blickwinkel des Schafes: Da kommt er, brennend vor Liebe gegen dich, beseelt von dem Wunsch, dich zu finden und zurück­zubringen. Jesus ist kein Mann der großen Zahlen, keiner, der rationell arbeiten will, der die Massen gewinnen will. Den Einzelnen will er gewinnen, denn den Einzelnen hat er lieb. Dich als Einzelnen meint er, gerade du bist ihm wichtig. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“, heißt es in der Bibel, und damit ist die Taufe gemeint (Jes. 43,1). Ist das nicht großartig? So wertvoll bist gerade du dem guten Hirten, so sehr liegst gerade du ihm am Herzen!

Nun kommt er, um dich zurück­zuholen. Das ist wohlbemerkt sein Ziel: dich zurück­zuholen! Denn er weiss, nur damit ist dir geholfen. Lasst uns einen Moment darüber nachdenken. Jesus suchte die Gemein­schaft der Zöllner und Sünder; das ist ihm damals angekreidet worden, und an die Adresse seiner Kritiker ist ja auch dieses Gleichnis gerichtet. Heute finden wir das ganz richtig so und ganz normal: Jesus suchte die Gemein­schaft der Zöllner und Sünder. Aber ihre Sünde, ihr gottloses Treiben, das hieß er damit nicht gut. Im Gegenteil, er wusste, das wird den Sündern zum tödlichen Verhängnis, wenn sie nicht Buße tun. So rief er sie also zur Umkehr, fand sie und gewann sie zurück zur Gemein­schaft mit dem lebendigen Gott.

Das sollten wir in unserer Zeit bedenken, wo die Maßstäbe für Recht und Unrecht ins Wanken geraten. Richtig, Jesus hat die Homo­sexuellen und lieb und geht ihnen nach. Aber damit ist die Homo­sexualität keineswegs gerecht­fertigt, sondern sie ist Sünde, von der es umzukehren gilt. Richtig, Jesus hat auch die Jugend­lichen lieb, die ihre Eltern verachten und nicht auf den Gedanken kommen, ihnen freiwillig zu gehorchen. Aber damit ist dieses Verhalten keineswegs gerecht­fertigt, sondern es ist Sünde, von der es umzukehren gilt. Richtig, Jesus hat auch die Ehebrecher und Unzüchtigen lieb, die außerhalb der Ehe ihre Sexualität ausleben. Aber damit ist nicht gesagt, dass man solche Lebensweise nachsichtig dulden sollte, sondern es ist Sünde, von der es umzukehren gilt. Ja, von Herzen gern möchte der gute Hirte uns und alle Schafe zurück­bringen von allen Orten der Verirrung, damit wir gut und sicher leben und dem Tod entrinnen. Dafür hat der gute Hirte sein Leben gelassen, dafür hat er selbst geblutet. Dazu hat er dich in seinem Gnadenbund auf­genommen; dazu bist du getauft worden. Dazu ist er dir unzählige Male begegnet in seinem Wort, in der Predigt, im Konfirmanden­unterricht sowie auch im Vorbild derer, die dich christlich erzogen haben. Dazu lädt er dich in die Beichte ein; denn in der Beichte will er dich liebevoll auf die Schulter nehmen und zur Herde zuück­bringen. Das ist das Beste, was uns passieren kann! Wir brauchen uns nicht zu mühen und an­zustrengen, um mit eigener Kraft zurück­zulaufen, sondern er trägt uns! Wir brauchen nicht selbst für unsere Sünden gerade­zustehen und sie wieder­gut­zumachen, denn er vergibt sie uns! Wenn das mehr Gemeinde­glieder begreifen würden, dann wären unsere Beicht­gottes­dienste nicht so kümmerlich besucht. Und dasselbe geschieht auch im Heiligen Abendmahl: Da nimmt er dich auf seine Schulter und führt dich zurück auf die grüne Weide und an das frische Wasser, in Gemein­schaft mit der ganzen Herde. Was für ein schönes Bild, welche Geborgen­heit strahlt es aus! Der gute Hirte trägt dich auf seiner Schulter zurück, du spürst seine große Liebe – und seine Freude! Die Freude ist in diesem Gleichnis ganz groß ge­schrieben; gleich dreimal ist von ihr die Rede: „Wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schulter voller Freude“, heißt es, und: „Wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir!“, und: „So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut …“ Jede Taufe, jeder Beicht­gottes­dienst, jede Abendmahls­feier ist ein gewaltiges Freuden­fest, so gewaltig, dass der ganze Himmel davon schallt!

Ja, das alles sagt uns dieses Gleichnis, wenn wir uns an die Stelle des verlorenen und wieder­gefundenen Schafes setzen. Nun wollen wir aber auch noch zweitens die Sache aus dem Blickwinkel des guten Hirten betrachten. Ich möchte dabei ganz konkret auf die Situation eingehen, in der wir als Gemeinde Jesus Christi stehen. Und weil ich da selbst in vielen Dingen noch am Suchen und Fragen bin, möchte ich es in Frageform tun, mit drei Fragen nämlich.

Erste Frage: Nehmen wir jeden einzelnen Menschen so wichtig, wie Jesus es getan hat? Haben wir jeden einzelnen genauso lieb? Gehen wir ihm nach? Schaffen wir die Voraus­setzungen dafür, dass Jesus ihn erreicht durch sein Wort und Sakrament? Es besteht in unserer Kirche die Gefahr, dass zu wirtschaft­lich gedacht wird, dass zum Beispiel überlegt wird, wie groß eine Gemeinde sein muss, damit sich ein Pastor rentiert, oder ab welcher Besucher­zahl es sich lohnt, einen Gottes­dienst anzusetzen. Natürlich haben wir die Freiheit zu solchen Über­legungen, und wir sollen ja unsere Kräfte und Mittel nicht ver­schwenden. Aber der oberste Grundsatz muss doch lauten: Kommt der gute Hirte zu jedem Einzelnen? Hat jeder Einzelne die Gelegen­heit, regelmäßig einen rechten lutheri­schen Gottes­dienst mitzufeiern und das Heilige Abendmahl zu empfangen? Auch diejenigen, die kein Auto haben und die nicht von anderen mitgenommen werden? Und wenn es auch nur zwei oder drei Gemeinde­glieder gäbe, die gern jeden Sonntag das Abendmahl empfangen möchten, sollte man dann nicht wenigstens um ihretwillen jeden Sonntag das Altar­sakrament feiern?

Zweite Frage: Wie gehen wir im Namen des guten Hirten den Schafen nach, die ganz weit weggelaufen sind und die sich nicht mehr zur Gemeinde halten? Das ist ja bei uns nicht nur eines von hundert, sondern das sind dreißig bis vierzig von hundert! Ich selbst frage mich manchmal: Was bedeutet es für den Pastor, wenn Jesus die Neunund­neunzig eine Zeit lang zurückließ, um dem Einen nach­zugehen. Verbringe ich womöglich zuviel Zeit mit Dingen, die der Kern­gemeinde zugute kommen, und habe dann zu wenig Zeit für Besuche bei den Fern­stehenden? Anderer­seits mache ich dort normaler­weise die Erfahrung, dass sich die Schafe von ihrem Hirten Jesus Christus gar nicht auf die Schulter nehmen lassen wollen; sie wollen gar nicht zurück­getragen werden. Tritt da dann nicht das Gegenteil von Freude ein: Traurigkeit beim Hirten, der un­verrichte­ter Dinge zurück­kehrt, sowie auch Traurigkeit bei den Freunden und Nachbarn, die mit ihm mittrauern, und schießlich auch Traurigkeit im Himmel und in der christ­lichen Gemeinde über die vielen Schafe, die verloren bleiben?

Dritte Frage: Teilen wir die Liebe und Freude des Hirten, wenn ein Schaf zurück­kehrt? Nehmen wir jeden herzlich auf, der in die Gemein­schaft der Kirche hinein­findet, ohne Ansehen der Person? Pharisäer sind wir wohl nicht, die über die Sünder die Nase rümpfen und sich von ihnen fernhalten wollen, aber gelingt es uns anderer­seits, ihnen nahe zu kommen, ihnen die Liebe Christi zu vermitteln und sie in gewinnender Weise zur Buße zu rufen?

Es ist gut, wenn uns solche Fragen be­schäftigen. Aber beides ist wichtig, beides lasst uns festhalten: der dankbare Blick als erlöste Schafe auf den guten Hirten und der liebevolle Blick mit dem guten Hirten auf die anderen Schafe. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1991.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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