Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Wer von uns bewundert sie nicht: die Erfolgsmenschen, denen alles glatt von der Hand geht? Sie trauen sich alles zu. Sie sind immer gut gelaunt. Auch schwierigste Aufgaben packen sie mit Optimismus und Humor an. Klug sind sie; sie durchschauen vieles und haben eine klare Meinung selbst in Bereichen, wo normale Menschen schwanken und zweifeln. Sie sind erfolgreich und kommen mit allen Menschen gut aus. Sie sind beliebt, haben eine vorzeigbare Familie und einen großen Freundeskreis.
Mir fällt als Beispiel ein Mensch ein, den ich zwar nicht persönlich kenne, dessen Schicksal mich aber trotzdem beschäftigt hat. Er ist Chefdesigner bei einem großen Automobilkonzern. In der Schule war er bereits ein heller Kopf und heimste dort ohne viel Mühe die guten Zensuren ein. Auch das Studium fiel ihm nicht schwer. Danach gelang es ihm, seine Fähigkeiten gut zu verkaufen: Er ergatterte einen Arbeitsplatz in der begehrten Automobilbranche und kletterte Stufe für Stufe die Karriere-Leiter empor – so lange, bis er seinen Traumberuf hatte: Chef-Designer. Nun darf er beruflich das machen, was wohl jeder Junge mal heimlich in der Schule auf Schmierzetteln getan hat: schicke Autos entwerfen. Das heißt: Er durfte es machen, bis vor Kurzem.
Im Leben dieses erfolgreichen Mannes kam es nämlich zu einer Tragödie. Es gab bei ihm einen dunklen Fleck, und das war sein ältester Sohn. Der Chefdesigner hatte sonst ein gutes, harmonisches Familienleben, aber sein Sohn machte ihm Kummer: Er geriet auf die schiefe Bahn und wurde drogenabhängig. Der Vater setzte alles dran, um ihm zu helfen und ihn in ein normales Leben zurückzuführen. Er war dabei sicher zuversichtlich, denn so war er es ja gewohnt: Man muss ein Problem nur richtig anpacken, dann kann man es auch lösen. Aber diesmal lief es anders. Der Sohn wurde rückfällig; und dann kam es zur Katastrophe: Der Chefdesigner rastete aus. Vor lauter Wut, Enttäuschung und Hilflosigkeit angesichts dieses Problems brachte er seinen Sohn um – mit einem Messer.
Ja, auch so etwas kann im Leben eines Erfolgsmenschen geschehen, den bis dahin immer alle bewundert und beneidet hatten. Und wahrscheinlich haben die meisten starken Menschen irgendwo einen dunklen Fleck, auch wenn es nicht zur Katastrophe kommt. Wer weiß, wie viele starke Mütter und Väter im Stillen voller Trauer sind über die Wege ihrer Kinder, oder über einen anderen nahe stehenden Menschen? Wer weiß, wie viele starke Männer und Frauen eine große Sorge in ihrem Herzen verschlossen haben – eine Angst, eine Krankheit, eine böse Ahnung, ein ungelöstes Problem? Von außen sieht es niemand; alle bewundern diese Menschen, beneiden sie vielleicht sogar. Nur der Betreffende selbst weiß: Ich bin nicht so stark, wie die andern von mir denken, ich bin eigentlich ein ganz schwacher, jämmerlicher Mensch. Ja, auch die Starken sind letztlich irgendwo schwach, genauso wie die ganz normalen Menschen und wie diejenigen, die aus ihrer Schwachheit keinen Hehl machen. Das ist eine Lektion, die das Leben lehrt. Und es ist zugleich eine Lektion, die die Bibel lehrt. Unser Wort aus dem Buch des Propheten Jesaja muss im Zusammenhang des ganzen 40. Kapitels gesehen werden. In diesem Kapitel lautet Gottes erste Lektion gewissermaßen: Die scheinbar starken Menschen sind doch eigentlich sehr schwach. Jesaja drückte es so aus: „Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen.“ Ja, so geht es auch den scheinbar Starken, die von allen bewundert werden.
Wenn wir mal auf unsere Schwachheit gestoßen werden, wenn uns mal ein Problem besonders drückt und wir hilflos sind, dann kommt schnell die Frage auf, wo denn Gott bei dem allen bleibt. Könnte, müsste nicht Gott einspringen, wenn wir nicht mehr weiter wissen? Ist er nicht dazu da, grade zu biegen, was wir nicht grade biegen können? Ich weiß nicht, ob der erwähnte Chefdesigner ein Christ ist. Aber wenn er einer ist, dann hat er im Blick auf sein Sorgenkind sicher auch so gedacht, hat um Gottes Hilfe gebeten, vielleicht sogar gefleht. Aber auch Gott hat sich scheinbar als schwach erwiesen. Oder hat er sich gar nicht darum gekümmert? Jedenfalls hat er das Problem nicht gelöst. Das ist eine Erfahrung, die auch schon die alten Israeliten nachdenklich gemacht hat. Wir lesen in unserem Jesaja-Kapitel, dass das Volk Israel sagte: „Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber.“ Mit anderen Worten: Wo bleibt denn Gottes Hilfe bei meinen Problemen?
Gott antwortet mit der zweiten Lektion dieses Kapitels. Die erste Lektion lautete ja: Die scheinbar starken Menschen sind doch eigentlich sehr schwach. Die zweite Lektion lautet nun: Der scheinbar so schwache Gott ist über die Maßen stark! Und er macht stark. Er macht die stark, die ihm vertrauen, die auf seine Hilfe hoffen. „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft“, heißt es am Ende dieses Kapitels; das ist die neue Jahreslosung. Der scheinbar so schwache Gott ist über die Maßen stark – Jesaja öffnet mit diesem Kapitel seinen Volksgenossen und uns die Augen dafür. Er öffnet die Augen für Gottes Größe in der Schöpfung, in dem er predigte: „Wer misst die Wasser mit der hohlen Hand, und wer bestimmt des Himmels Weite mit der Spanne und fasst den Staub der Erde mit dem Maß und wiegt die Berge mit einem Gewicht und die Hügel mit einer Waage?“ Und Jesaja öffnet die Augen für Gottes Größe in der Geschichte, wie er Könige und Völker Macht gewinnen und sie dann wieder fallen lässt: „Siehe, die Völker sind geachtet wie ein Tropfen am Eimer und wie ein Sandkorn auf der Waage. Siehe, die Inseln sind wie ein Stäublein.“
Der scheinbar so schwache Gott ist über die Maßen stark und macht stark diejenigen, die auf ihn harren. Da hast du nun eine frohe Botschaft und einen guten Rat, wenn du deine Schwachheit spürst, wenn du mit Problemen nicht fertig wirst: Harre auf Gott, dann wird er dir neue Kraft schenken, und dann wird es schon irgendwie weitergehen. Harre auf Gott, dann kriegst du neue Kraft – da kannst du sicher sein, denn Gott hat es ja versprochen. Dieses Prophetenwort, das als Jahreslosung besonders in unser Blickfeld rückt, ist ein Versprechen, eine Zusage, eine Verheißung: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.“
Wenn Gott so ein großartiges Versprechen gibt, dann sollten wir uns gut überlegen, was denn „harren“ eigentlich ist. Was bedeutet das, wie macht man das? In einer neuen Bibelübersetzung heißt es: „Die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft.“ „Vetrauen“ gehört zum „Harren“ zwar dazu, sagt aber nicht alles. Im „Harren“ steckt zusätzlich das geduldige Warten drin. Auf Gott vertrauen, hoffen und geduldig darauf warten, dass er alles zum guten Ende führt, das heißt eigentlich „harren“. Harren ist Glaube, der sich nicht entmutigen lässt, auch nicht durch die Erfahrung menschlicher Schwachheit und schier unlösbarer Probleme. Solches Harren erwartet Hilfe letztlich nur von Gott. Wer auf Gott harrt, muss sich eingestehen, dass er aus eigener Kraft nichts erreicht. Auch wer ein scheinbar starker und erfolgreicher Mensch ist, muss sich eingestehen, dass dies alles unverdiente Gaben Gottes sind und dass er ohne den Allmächtigen hilflos wäre. Auch soll man auf nichts anderes harren, weder auf Geld noch auf gute Beziehungen noch auf starke Freunde oder was es sonst gibt. Nein, letztlich kann Kraft und Leben nur von Gott kommen. Darum sollen wir allein auf ihn harren, wenn wir neue Kraft kriegen wollen.
Wie sieht das nun aus, wenn jemand neue Kraft bekommt? Grundsätzlich gilt: Da können wir uns überraschen lassen. Gott hat ja unendlich viele Wege, unserer Schwachheit aufzuhelfen und unsere Probleme zu lösen. Ich möchte mir jetzt nur einmal vorstellen, wie es bei dem Chefdesigner hätte aussehen können. Angenommen, er hätte, als sein Sohn ihn wieder einmal bitter enttäuschte, auf den Herrn geharrt. Er hätte dann vielleicht ein Stoßgebet gen Himmel geschickt: Herr, ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Jungen machen soll. Ich kann nicht mehr, und ich halte das auch nicht mehr aus. Herr, hilf du! Und dann hätte ihm Gott die Kraft geschenkt, sich zu beherrschen, und es wäre nicht zu dieser schrecklichen Tat gekommen. Der Mann hätte von Gott Kraft bekommen für diesen Tag, für diesen Augenblick. Und auch wenn es immer so weitergegangen wäre, mit neuen Hoffnungsschimmern und wiederholten Enttäuschungen, Gott hätte schon Kraft gegeben, Tag für Tag. Und vielleicht hätte er ja auch irgendwann einen ganz wunderbaren Ausweg gezeigt.
Nun ist die Tat geschehen und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Aber Gott ist immer noch nicht am Ende. Auch jetzt noch darf dieser Mann auf den Herrn harren und auf neue Kraft hoffen. Wir können uns sicher nicht vorstellen, was es bedeutet, mit solcher Schuld zu leben. Aber wir wissen: Gott schenkt auch in einer so verheerenden Lage Kraft für einen Tag, Kraft für den Augenblick, der jetzt gelebt werden will. Gott gibt keinen Vorrat für Wochen, Monate oder das ganze vor uns liegende Jahr. Was morgen kommt, ist ungewiss; es liegt in seiner Hand verborgen. Aber für heute gibt er uns Kraft, wenn wir auf ihn harren. Und was brauchen wir mehr? Was braucht auch der Chefdesigner mehr, wenn er nun seine Strafe tragen muss? Ja, wenn er auf den Herrn harrt, darf er aus der Vergebung leben. Er darf staunend lernen: Auch wenn die Tat noch so schlimm gewesen ist, sie braucht mich nicht für immer kaputt zu machen. Einer hat die bitterste Folge auch dieser schweren Sünde getragen, die ewige Verdammnis. Wer auf Jesus Christus harrt, wird im Gericht am Ende der Welt nicht zuschanden, auch wenn schwere Schuld hinter ihm liegt. Jesus Christus ist nämlich der Schlüssel für diesen Satz: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.“ In Jesus ist das Geheimnis offenbar, das in der zweiten Lektion dieses Jesaja-Kapitels ausgesprochen wird: Der scheinbar so schwache Gott ist über die Maßen stark und macht stark die, die auf ihn harren. In Jesus Christus haben wir diesen scheinbar so schwachen Gott, den Gott in Windeln, den Gott am Kreuz. Aber gerade in dieser Schwachheit offenbart sich seine Stärke, die über die Maßen groß ist. So hat Jesus die größten Feinde der Menschheit besiegt, den Teufel nämlich und den Tod. So ist Jesus zum Herrn über alles geworden. Und wer auf ihn harrt – nur auf ihn, auf Jesus, den Gottessohn – wer auf ihn harrt, der findet durch ihn und in ihm neue Kraft. Gerade in der Schwachheit wird er das finden. Ja, wenn du auf Jesus blickst, kannst du deine Schwachheit bejahen und der Zusage vertrauen: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |