Der Herr, der Geist und die Freiheit

Predigt über 2. Ko­rinther 3,17 zum Pfingstsonntag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Herr Pastor, sagen Sie uns in der Predigt, was wir tun sollen!, so bat ein Kirchen­vorsteher einmal seinen Seelsorger. Dieses Anliegen haben viele Christen: Sie möchten sonntags im Gottes­dienst erfahren, wie sie nach Gottes Willen leben sollen. Sie möchten, dass auf ihre persön­lichen Lebens­fragen und auf die aktuellen Fragen der Welt­geschichte eingegangen wird. Sie erhoffen ein Stück Lebenshilfe und Meinungs­bildung. Viele Pastoren lassen sich gern darauf ein. Sie legen Gottes Gebote für unsere Zeit aus und nehmen Stellung zu den brennenden Fragen der Zeit. Vor ein paar Jahren war es noch die Friedens­politik, die auf den Kanzeln hin und her diskutiert wurde, dann kam das Thema Umwelt in Mode, dann war es das Thema Wende und schließlich das Thema In­tegration.

Nun, in der Bibel kann man tatsächlich viele Ratschläge für ein gott­gefälliges Leben finden. Besonders das Alte Testament ist voll von Geboten und Weisungen, aber auch im Neuen Testament findet sich eine Menge. Und man muss staunen, wie weise Gottes Gebote sind. Da hat Gott schon vor dreieinhalb­tausend Jahren dem Volk Israel Naturschutz­gesetze gegeben. Zum Beispiel sollten die Israeliten keine Obstbäume fällen und mit deren Holz Belagerungs­geräte bauen. Da finden wir Sozial­gesetze: Die Bauern sollen ihre Felder nicht ganz bis zum Rand abernten, damit die armen Leute bei der Nachlese auch noch etwas finden. Die Zehn Gebote sind in ihren Grundzügen bis zum heutigen Tag Rechts­grundlage aller Gesell­schaften. Mit der goldenen Regel „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ finden wir in der Heiligen Schrift ein Gesetz, das in einzig­artiger Weise kurz, einprägsam und doch umfassend für alle Lebens­situationen gilt. Und wenn dann alle Menschen gar noch ihre Feinde lieben würden, wie Jesus es in der Bergpredigt gefordert hat, dann wäre diese Welt ein Friedens­paradies.

Ja, Gottes Gesetz ist wunderbar und herrlich. Man kann viel darüber nachsinnen. Wenn man es auf die heutige Zeit anwendet, dann hat man ein weites Feld vor sich und wird nie damit fertig werden. „Die Rechte des Herrn sind Wahrheit, allesamt gerecht“, bekennen wir mit dem 19. Psalm. „Sie sind köstlicher als Gold und viel feines Gold. Sie sind süßer als Honig und Honigseim.“ Auch das Kapitel im 2. Ko­rinther­brief, aus dem unser Predigttext stammt, redet von der Herrlich­keit des Gesetzes, das Gott durch Mose den Menschen gegeben hat. Jeder, der sich mit Gottes Gesetz be­schäftigt, wird diese Herrlich­keit erkennen. Sie lässt sich mit der Vernunft erfassen. Sie entspricht unserem Verstand und unserem Gewissen, denn Gottes Gesetz steht nicht nur in der Bibel, sondern auch im Gewissen jedes Menschen ge­schrieben. Deshalb rühmen selbst Nicht-Christen, ja sogar Atheisten Gottes Wort und Gottes Gesetz für seine Weisheit. Da gibt es zum Beispiel einen nicht­christlichen Vater, der Wert darauf legt, dass seine Tochter auf eine katholische Schule geht. Warum? Damit sie anständig erzogen wird – im Sinne der Zehn Gebote nämlich.

Ja, über Gottes Gesetz kann man viel nachsinnen und viel predigen. Aber, liebe Gemeinde, ich möchte jetzt die ernüchternde Frage stellen: Ändert sich denn dadurch viel in der Welt? Wenn man Gottes Gebote predigt und auslegt, handeln die Menschen dann danach? Und wenn man schon nicht die ganze Welt verändern kann, kann man dann wenigstens erwarten, dass im christ­lichen Abendland die Gebote gehalten werden? Oder wenigstens in einer über­schaubaren dörflichen Gemein­schaft? Oder wenigstens im Kreis derer, die sich Christen nennen, im Kreis unserer Gemeinde zum Beispiel? Und wenn man mal davon absieht, wie andere Menschen leben – wie steht es mit dem eigenen Leben, dem eigenen Herzen? Jeder frage sich einmal ganz persönlich: Lebe ich denn ganz so, wie Gott es in den Geboten fordert und wie es mir theoretisch ein­leuchtet? „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ – beziehen wir das ganz ernsthaft auf uns selber und handeln danach?

Ja, liebe Gemeinde, diese Fragen sind in der Tat er­nüchternd. Denn wenn wir ehrlich darauf antworten, dann müssen wir zugeben: Das herrliche und weise Gesetz Gottes wird bei uns nicht gehalten, weder in unserer Welt noch in unserm Land noch in unserm Ort noch in unserer Gemeinde noch in unserm eigenen Herzen. Wir können viel und wunderschön über Gottes Gebote reden, aber halten können wir sie nicht. Und wenn uns diese Erkenntnis deutlich wird, treibt sie uns in die Ver­zweiflung. Es ist die Ver­zweiflung an unserm eigenen Unvermögen, an unserer Schuld und Sünde. Und wir haben auch Angst vor der Folge, die Gottes Wort ganz klar beim Namen nennt: es ist die Verdammnis, der ewige Tod. Die Herrlich­keit des Gesetzes führt bei uns sündhaften Menschen letztlich in Ver­zweiflung und Tod. Auch dies steht in dem Kapitel unseres Predigt­textes.

Wie, führen denn die Worte der Bibel zur Ver­zweiflung und zum Tod? Das kann doch nicht sein! Doch, es ist so – wenn ich nur auf den Buchstaben des Gesetzes achte, wenn ich nur Gebote und Lebenshilfe haben will, wenn ich nur mit Menschen­weisheit und mit dem Verstand herangehe. Die Botschaft ändert sich aber schlag­artig, wenn mir der Heilige Geist die Augen auftut für das Evangelium vom Herrn Jesus Christus. „Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, lautet unser Predigt­text. Ja, diese drei Dinge markieren das Evangelium, diese drei Dinge führen aus der Ver­zweiflung und aus dem Tod des Gesetzes heraus: der Herr Christus, der Geist und die Freiheit. Christus hat uns die Freiheit vom Gesetz erkauft: Sein Tod tilgt unsern Tod, sein Gehorsam tilgt unsern Ungehorsam, und seine Vergebung tilgt die Ver­zweiflung an unserm Unvermögen, Gottes Gebote zu erfüllen. Seine Auf­erstehung bringt dem Sünder das ewige Leben ohne Verdienst, ohne Werke des Gesetzes, allein durch den Glauben. Diese Botschaft des Evangeliums hat eine unendlich viel größere Herrlich­keit als die Botschaft des Gesetzes. Und darum hat Paulus in diesem Kapitel mit Nachdruck erklärt: Ich bin ein Diener des Geistes und nicht des Buch­stabens; ich predige keine Gesetze, ich lege keine Gebote aus, sondern ich verkündige Jesus Christus und sein Evangelium, dass alle, die an ihn glauben, frei sind vom Fluch des Tod bringenden Gesetz, und frei, als Gottes Kinder in Ewigkeit zu leben.

Herr Pastor, sagen Sie uns der Predigt, was wir tun sollen!, bat ein Kirchen­vorsteher seinen Seelsorger, aber ein anderer widersprach heftig, und zwar mit Recht: Nein, Herr Pastor, sagen sie uns in der Predigt, was wir glauben sollen! Ja, darum geht es, das ist das Wichtigste und Ent­scheidende in Gottes Wort: Nicht, was wir tun sollen, sondern was Gott getan hat durch seinen Sohn Jesus Christus und durch den Heiligen Geist. Das allein macht uns zu Gottes Kindern, das allein macht uns selig. Darauf kommt es an: Nicht, was wir tun sollen, sondern was Gott an uns getan hat und tut!

Das ist freilich eine Erkenntis, die vielen Menschen verborgen ist, ja, die von Natur aus allen Menschen verborgen ist. Diese Erkenntnis des Glaubens ist ein Geheimnis, das nur der Heilige Geist enthüllen kann. „Enthüllen“ im wahrsten Sinne des Wortes. Paulus spricht in diesem Kapitel davon, dass die Juden eine Decke über den Augen tragen, wenn sie die Heilige Schrift lesen. Auch das Alte Testament ist ja schon voller Evangelium und voll von Christus, aber die Juden hören immer nur Gesetz, Gesetz, Gesetz. Sie lesen mit ihrem Menschen­verstand den Buchstaben und mühen sich ab mit den Geboten. Wenn der Heilige Geist ihnen doch die Augen auftäte fürs Evangelium, dass sie frei würden vom Gesetz und fröhlich an Christus glauben könnten und an die Sünden­vergebung! Und so gibt es auch heute unzählige Menschen (auch viele, die sich Christen nennen), die immer nur von der Bibel wissen wollen, was wir tun und wie wir leben sollen. Auch sie haben noch die Decke über den Augen. Oder, um es mal mit einem anderen Bild zu sagen: Die Bibel ist für sie wie ein neues Denkmal, das noch mit einem großen Tuch verhüllt ist. Man sieht nur die äußeren Umrisse, eine ungefähre Gestalt. So lesen die Bibel alle die, die nicht den Heiligen Geist haben und darin nur Gebote und Menschen­weisheit finden. Schon das ist herrlich. Aber wenn der Heilige Geist kommt, dann reißt er die Hülle vom Denkmal weg, und die größere Herrlich­keit des un­verhüllten Denkmals wird sichtbar, Christus wird sichtbar und das Evangelium!

Dieses Enthüllungs­werk kann und will der Heilige Geist reichlich tun. Am ersten Pfingstfest hat er es gleich dreitausend­fach getan. Dreitausend fromme Menschen, die nach Gottes Wort fragten und sich eifrig bemühten, Gottes Gebote zu halten, wurde die Decke von den Augen gerissen, und sie erkannten die größere Herrlich­keit des Evan­geliums. Sie bekannten ihre Schuld und ließen sich taufen zur Vergebung ihrer Sünden. Sie wurden frei vom Fluch des Tod bringenden Gesetzes. Um dasselbe bitten wir auch heute noch, wenn wir beten: „Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen deiner Gäubigen!“ Wir bitten, dass er uns weiterhin erleuchte durch das Evangelium. Wir bitten, dass er den vielen die Decke von den Augen nehme – den vielen, die doch auch irgendwie Gott suchen und nach seinem Willen fragen, die aber beim Buchstaben des Gesetzes stehen geblieben sind.

Ja, und wir bitten damit auch um Früchte des Glaubens. Denn das ist ja das Wunderbare am Evangelium: Es bringt nicht nur die Freiheit vom Gesetz, sondern auch die Freiheit zum Gesetz. Wer bei Gott in Gnaden steht durch Christus, dem ist ja das Gesetz keineswegs verhasst, denn es bringt ja nicht mehr den Tod. Wer bei Gott in Gnaden steht durch Christus, der bekommt Lust zum Gesetz, der entdeckt die Herrlich­keit des Gesetzes neu. Aber diese Freiheit zum Gesetz und diese Lust am Gesetz schenkt nicht das Gesetz selbst, sondern der Geist durch das Evangelium. So befreit durch das Evangelium und so erleuchtet durch den Geist, dürfen wir uns dann wieder neu Gedanken machen, was es heißt, christlich zu leben – und ich predige auch gern darüber. Aber nicht mehr heute, denn heute soll die Herrlich­keit des Geistes im Vordergrund stehen, und die Freiheit, die Christus und der Heilige Geist uns bringen, und das Tun Gottes – nicht unser Tun. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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