Warum Jesus Fleisch und Blut annehmen musste

Predigt über Hebräer 2,14‑15 zum Gründonnerstag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Vor einiger Zeit stand eine un­gewöhliche Sache in der Zeitung. Ein Kind ist an Leukämie erkrant. Die Krankheit ist so weit fort­geschrit­ten, dass nur eine Knochenmark-Trans­plantation das Leben des Kindes retten kann. Das Knochenmark muss allerdings von einer bestimmten Zusammen­setzung sein und kann daher nur von einem nahen Verwandten kommen. Allerdings gibt es keinen geeigneten Spender in der Verwandt­schaft. So haben sich die Eltern trotz fort­geschritte­nen Alters ent­schlossen, noch ein Kind zu zeugen, in der Hoffnung, dass dies dann das geeignete Knochenmark für seine Schwester hat. Dieser Entschluss der Eltern ist sehr umstritten, und es ist auch noch nicht heraus, ob alles so klappt, wie sie sich das denken. Ich möchte jetzt nicht darüber urteilen, ob das Verhalten der Eltern ver­antwort­lich ist oder nicht. Zwei Dinge aber lasst uns von dieser Sache festhalten: erstens die große Sehnsucht nach Leben in Todesnot (hier besonders die Sehnsucht der Eltern nach dem Überleben ihrer Tochter), und zweitens die Tatsache: Es muss ein Geschwister­kind sein, damit die Chance besteht, die Tochter vor dem Tod zu bewahren.

Diese beiden Dinge helfen uns zu verstehen, was Jesus für uns getan hat. Alle Menschen leiden an einer tod­bringenden Krankheit, und das ist nicht nur ein Glaubens­satz, sondern auch eine Erfahrungs­tatsache: Alle Menschen müssen sterben, genauso wie das leukämie­kranke Mädchen. Ein Unterschied besteht lediglich darin, dass einige Menschen früher sterben müssen und andere später. Also: Alle Menschen sind todkrank. Aber alle haben auch eine große Sehnsucht nach Leben; sie hängen an ihrem Leben. Die Rettung jedoch kann nur durch einen kommen, der unser eigenes Fleisch und Blut hat – durch einen Menschen, der sich stell­vertretend für uns opfert. Darum ist Jesus Mensch geworden, darum hat der Gottessohn Fleisch und Blut angenommen, darum wurde er unser Bruder: um seinen Leib stell­vertretend für uns hinzugeben. Nichts anderes ist auch die Botschaft des Heiligen Abendmahls: Da hast du es mit Jesu Leib und Blut zu tun, stell­vertretend für dich gegeben und vergossen.

Lasst uns diesen Zusammen­hang jetzt etwas aus­führlicher betrachten, diese wunderbare Heils­botschaft, die Gott uns durch den Hebräer­brief so zuruft: „Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er's gleicher­maßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten.“ Lasst uns dies nun bedenken: erstens unsere Krankheit, zweitens unsere Rettung, drittens das Sakrament des Leibes und Blutes Christi, das uns an unsere Rettung erinnert.

Unsere Krankheit, die uns den Tod bringt, heißt nicht Leukämie, sondern Sünde. Es ist all das, was wir gegen Gottes Gebot handeln, sagen oder auch nur denken. Es ist darüber hinaus all das Gute und Gott Wohl­gefällige, das wir zu tun versäumen. Es ist all die böse Lust und Neigung in unserem Herzen, auch alle Verzagtheit und alles Misstrauen gegen Gott, die von Mutterleib an in unseren Herzen stecken, ja, die schon von Adam und Eva her auf uns vererbt sind. Der Teufel will uns um dieser Sünde willen bei Gott verklagen; er sagt: Gott, du bist doch gerecht musst den Sünder mit dem Tod bestrafen. Der da und die da haben gesündigt, also tu's doch, bestrafe sie! Auf diese Weise hat der Teufel „Gewalt über den Tod“, wie es hier heißt.

Ja, durch die Sünde kommt der Tod, und durch den Tod kommt die Angst ‚ nämlich unsere Angst vor dem Sterben-Müssen. Die Angst aber macht uns unfrei. Sie macht uns zu Knechten, wie es heißt: „Christus erlöste diejenigen, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten.“ Eine gute Anschauung davon gaben uns ja früher die DDR und der ganze Ostblock: Die Angst vor der „Staats­sicherheit“ und dem ganzen Macht­apparat der sozialisti­schen Regierung machte die Leute unfrei, machte sie zu Knechten; die meisten wagten nicht, ihre Meinung offen zu sagen, und passten sich im täglichen Leben den herrschen­den Ver­hältnissen an. Ebenso macht uns alle die Angst vor dem Tod furchtsam und unfrei. Wir sehen: Die Krankheit Sünde vergiftet vom Ende her, nämlich vom Todesurteil her, das ganze Leben mit Furcht und Unfreiheit.

Es gibt menschliche Versuche, das Übel zu beseitigen. Psycho­logische Versuche zum Beispiel, Therapien gegen die Angst und für mehr Selbst­bewusst­sein. Oder politische Versuche, Solidarität gegen Unfreiheit und Unter­drückung. In bestimmten Situationen mag das alles gut sein und seine Be­rechtigung haben. Eines aber können solche mensch­lichen Erlösungs­versuche nicht: das Übel bei der Wurzel packen und die Krankheit heilen. Die Sünde lässt sich nicht durch Psychologie und auch nicht durch Polititk ausrotten, und der Tod auch nicht. Hier kann nur Gott selbst helfen. Und er hat geholfen, auf ganz erstaun­liche Art: Er hat unser Fleisch und Blut angenommen. Er ist geworden wie wir – durch Jesus Christus. Und so konnte er an unserer Stelle die Folgen auf sich nehmen, die wir eigentlich tragen müssten – den Tod, und zwar den Tod in seiner letzten Konsequenz: die Hölle, die ewige Verdammnis. Hört diese wunderbaren Worte aus dem Hebräer­brief: „Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er's gleicher­maßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten.“

Wenn wir durch Taufe und Glaube mit diesem Erlöser verbunden sind, müssen wir zwar noch sterben. Aber wir werden dann nicht in den Tod hinein sterben, sondern ins Leben hinein, ins ewige Leben! Diese Gewissheit strahlt dann auch ihrerseits vom Ende her ins ganze Leben hinein: Wir brauchen vor nichts mehr Angst zu haben, weil wir wissen: Am Ende macht Gott doch alles gut mit uns. Und weil wir diese Angst nicht mehr zu haben brauchen, können wir frei und fröhlich als Gottes­kinder leben.

Solches Leben kann aber nur gelingen, wenn wir dazu von Gott zugerüstet werden. Immer wieder. Gott tut das unter anderem durch das Heilige Abendmahl. Da wird nicht nur gesagt: Christus hat dein Fleisch und Blut angenommen, um deine Strafe zu tragen. Vielmehr bekommst du da tatsächlich seinen Leib und sein Blut zu essen und zu trinken, mit dem er dich erlöst hat. Und dadurch wirst du gestärkt und im Glauben gewiss gemacht: Tat­sächlich, meine Sünden sind mir vergeben; ich brauche nicht zu sterben in den Tod hinein, sondern wenn ich einmal sterbe, dann sterbe ich ins Leben hinein! Und darum brauche ich auch keine Angst zu haben, vor gar nichts mehr! Und darum kann ich auch frei und fröhlich als Gotteskind leben!

Ja, das Abendmahl ist im wahrsten Sinne des Wortes die beste Sterbe­hilfe. Nicht nur für alte und todkranke Menschen, sondern auch für junge, die sich jetzt schon auf ein seliges Sterben vorbereiten können, und damit auf ein seliges Leben vor und nach dem Sterben. „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren“, so singen wir nach dem Abendmahl. Und wenn wir zugerüstet sind, im Frieden aus dieser Welt zu fahren, dann können wir auch im Frieden in dieser Welt leben – im Frieden mit Gott, mit unseren Mit­menschen, mit der Umwelt und mit uns selbst. Lasst uns dazu auch heute den Leib und das Blut Christi mit gläubigem Herzen annehmen – heute, am Grün­donnerstag, am Geburtstag des Kelches. Aber nicht nur heute, sondern oft, immer wieder. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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