Eine Liebeserklärung an Zion

Predigt über Jesaja 54,7‑10 zum Sonntag Lätare

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Dieser Abschnitt aus dem Propheten­buch Jesaja gehört zu den besonderen Kleinoden im Schatz der Heiligen Schrift. Die Worte strahlen mit voller Kraft die Liebe unseres Gottes aus; wir können uns daran wärmen und werden froh wie im Frühlings­sonnen­schein. Diese Worte reden von all dem, was uns Gott so lieb und teuer macht. Diese Worte wecken in uns das Vertrauen zu Gottes Barmherzig­keit, zu seiner Gnade, zu seiner Erlösung, zu seiner Treue und zu seinem Bund des Friedens. Lasst uns diese Worte jetzt näher betrachten und uns an ihrem hellen Schein erfreuen.

Diese Worte sind nichts anderes als eine Liebes­erklärung. Sie leben vom Ich und vom Du; sie sind von einer Person zur anderen geredet. „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen“, fängt es an, und in dieser Weise geht es weiter: vom Ich zum Du. Wer ist das Ich; wer redet da? Der da redet, wird zweimal vorgestellt in diesem Abschnitt: „… spricht der Herr, dein Erlöser“, heißt es einmal, und ein andermal: „… spricht der Herr, dein Erbarmer.“ Kein Zweifel, hier redet Gott selbst mit seinen eigenen Worten, der Prophet Jesaja ist nur Sprachrohr des Herrn. Und Gott wird dabei auch gleich so genannt, wie er sich in diesem Abschnitt zeigt, nämlich als Gott der Liebe und der Zuneigung: „Dein Erlöser“ heißt er und „dein Erbarmer“.

Liebe Gemeinde, wir können in diesen Wörtern lesen wie in einem Buch. Was steckt nicht alles im Wort „Erlöser“ drin! In alter Zeit war ein Erlöser zum Beispiel jemand, der Kriegs­gefangene aus der Sklaverei freigekauft hat. Wenn Gott hier als Erlöser vorgestellt wird, denken wir an Luthers Erklärung zum 2. Glau­bens­artikels, die wir jetzt immer in den Passions­andachten beten: „… der mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem un­schuldigen Leiden und Sterben.“ Das ist von unserm lieben Herrn Jesus Christus gesagt, unserm Erlöser, unserm Heiland. „Heiland“ heißt ja nichts anderes als Erlöser, und der Name Jesus bedeutet „Retter“. Es ist also niemand anderes als unser Herr Jesus Christus, der diese Liebes­erklärung spricht. Ja, er hat hier schon im Alten Testament durch den Propheten Jesaja geredet, viele hundert Jahre, bevor er in die Welt gekommen ist. Jesus ist der Herr, der Erlöser, der Erbarmer, der hier seine Stimme erhoben hat.

Zu wem redet er aber? Wer ist das Du, dem das Ich seine Liebes­erklärung macht? Das ist nicht so einfach heraus­zufinden, es wird nämlich in dem ganzen Abschnitt nicht gesagt. Wenn man ihn auf Hebräisch liest, kann man lediglich heraus­finden, dass das „Du“ weiblich ist, dass also ein weibliches Wesen angeredet wird. Im Hebräischen gibt es nämlich ver­schiedene Wörter für „du (Mann)“ und „du (Frau)“. Aber welches weibliche Wesen ist gemeint? Man muss schon ganze zwei Kapitel zurück­blättern, um die Antwort zu finden: Zion ist gemeint, Jerusalem, die heilige Stadt, die Gott sich zur Zeit des Alten Testaments als Wohnstätte erwählt hatte! Allerdings sind hier nicht die Steine und Straßen der Stadt gemeint, sondern ihre Einwohner­schaft. Das ist das Volk der Juden, das Volk Israel. Wir wissen durch das Neue Testament, dass wir Nicht-Juden Anteil haben dürfen an dem neuen Bund, den Gott allen verheißen hat, die durch Jesus Christus wiedergeboren sind, seien sie nun Juden oder Nicht-Juden. Alle Christen sind durch die Taufe Abrahams-Kinder und Erben von Gottes Reich ge­worden. Die Christen­heit ist das Israel des neuen Bundes. Und von Jerusa­lem gilt: Die Kirche ist das neue Zion, die Braut Christi, die Gemeinde des Herrn, die „Gemeinde der Heiligen“, die wir Sonntag für Sonntag mit dem Aposto­lischen Glaubens­bekenntnis bekennen. Auf die Kirche be­zieht sich auch unser Abschnitt aus dem Jesajabuch, dieses Wort ist nämlich eine Pro­phe­zeiung. Es ist eine vorzeitige Liebes­erklärung Christi an seine Braut, die Kirche, die Christen­heit. Hier hat unser himm­lischer Herr schon vor zwei­ein­halb­tausend Jahren auf­schreiben lassen, was er uns Christen heute sagen will. Ja, es ist die Liebes­erklärung Christi an uns, die Gläubigen.

Was ist nun der Inhalt dieser Liebes­erklärung? Wir können den Abschnitt in zwei Teile zerlegen. Diese Gliederung ergibt sich schon allein dadurch, dass beide Teile durch die beiden Gottesnamen am Schluss deutlich voneinander abgesetzt sind. „… spricht der Herr, dein Erlöser“, so endet der erste Abschnitt, und „… spricht der Herr, dein Erbarmer“, der zweite. Was aber ist nun der Inhalt? Der erste Abschnitt stellt dem Zorn Gottes seine Gnade gegenüber: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzig­keit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen.“ Christus zeigt uns hier das große Un­gleich­gewicht zwischen Gottes Zorn und Gottes Gnade. Gottes Zorn ist klein und geht schnell vorüber, verglichen mit seiner Gnade, die groß ist und ewig währt. Stellen wir uns eine Balkenwaage vor: In die eine Waagschale tun wir Gottes Zorn – alles, was unsere Sünde ausgelöst hat an Leid und Krankheit. In die andere Waagschale tun wir Gottes Gnade, seine sünden­vergebende Barmherzig­keit, die in Jesus erschienen ist. Da schnellt die Zornes­schale hoch, sie ist unendlich viel leichter als die Schale der Barmherzig­keit!

Liebe Gemeinde, das ist gewaltig. Wir wissen ja, dass Leid und Elend in der Welt mit unserer Sünde zu tun haben und mit Gottes Zorn über unsere Sünde. Wie unsagbar groß kommt uns all das Elend vor! Wieviele Kinder verhungern täglich, wieviele grausame Kriege werden geführt, wieviele Menschen werden durch Unfälle und Krankheiten zu Krüppeln, wieviel Schmerz und Ver­zweiflung finden sich hinter den Mauern unserer Häuser, Kranken­häuser und Gefäng­nisse! Und wie sprachlos werden wir, wenn der Tod einen nahe­stehenden Menschen von uns nimmt, wenn dann nur eine schmerzende Lücke bleibt… „Das macht dein Zorn, dass wir so dahin müssen“, sagt der Psalmbeter (Ps. 90,7). Ja, groß und gewaltig kommt uns Gottes Zorn vor in dieser Welt. Und auch die Bibel selbst steckt voll grausamer Geschichten über Gottes Zorn – Ge­schichten, die mancher erschreckt beiseite legt und wünscht, er hätte sie nie gelesen.

Aber dann hören wir auch das Wunderbare, dann hören wir Christi Liebes­erklärung: All diese gewaltige Menge Gotteszorn ist gering und kurz verglichen mit Gottes Gnade und Barmherzig­keit! Liebe Gemeinde, wie gewaltig muss Gottes Gnade dann sein, und wie gewaltig die ewigen Freuden des Himmels! So gewaltig, dass wir uns keine angemessene Vorstellung davon machen können. Verdient hätten wir es anders. Verdient hätten wir, dass Gott uns für immer verließe und im Zorn verstieße. Stattdessen sagt er: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen.“ „Asab“ heißt das hebräische Wort, das hier für „verlassen“ steht. Es ist dasselbe Wort, das Jesus am Kreuz schrie: „Eli, Eli, lama asabtani!“ – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Da hat Jesus die tiefe Gott­verlassen­heit unserer Sünde getragen, damit sie uns erspart bleibt. So brauchen wir in den dunklen Stunden und in der kurzen Zeit des Lebens nur einen kleinen Augenblick das Gefühl zu haben, Gott hätte sich von uns abgewandt. Ja, das hat Christus aus Liebe getan.

Der zweite Abschnitt der Liebes­erklärung handelt von Gottes Treue. „Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.“ Als die Sintflut vorüber war, schloss Gott einen heiligen Bund mit Noah und mit allen Lebewesen nach ihm. Er bekräftigte diesen Bund mit dem Zeichen des Regen­bogens: Nie wieder sollte eine weltweite Flut über die Erde kommen, so schwor Gott feierlich. Genauso feierlich hat er der Christen­heit geschworen, dass nicht sein Zorn das letzte Wort haben wird, sondern seine Gnade. Hügel und Berge sind der Inbegriff der Beständig­keit: Grenzen und Städte mögen sich im Laufe der Jahr­hunderte auf unseren Landkarten ändern, Hügel und Berge aber nicht. Aber selbst wenn durch Erdbeben, durch Wasser­gewalt oder durch andere Kräfte auch Berge und Hügel weichen müssten, dann bleibt Gottes Friedens­bund mit seiner Kirche trotzdem immer noch fest bestehen. Ja, so erklärt uns Christus in diesem Abschnitt auch feierlich seine Treue, dass Gott in Liebe zu uns steht und seine Meinung gewiss nicht ändern wird.

Liebe Gemeinde, auch das ist gewaltig. Wir wissen, bei Menschen ist Vorsicht und etwas Misstrauen mitunter durchaus angebracht. Wir kennen uns selbst: Wie schnell haben wir jemandem etwas ver­sprochen, und wie leicht vergessen wir, das Versprechen auch vollständig einzulösen. Wir kennen die Politiker: Vor einem Wahltermin versprechen sie die wunder­barsten Dinge – und können dann doch vieles davon nicht ver­wirklichen. Bei Gott ist das anders, er ist kein Mensch und erst recht kein Politiker. Seine Ver­heißungen gelten un­umstößlich; sie sind absolut ver­lässlich. Ja, Gott ist und bleibt treu, er hat sich mit einem heiligem Eid festgelegt. Der Friedens­bund aber, der nicht hinfallen wird, das ist der neue Bund in Jesus Christus. Es ist der neue Bund in seinem Blut. Es ist der Bund, dass das Blut Christi uns reinigt von allen Sünden, und dass jeder, der getauft ist und glaubt, gerettet wird, ewig selig wird.

Ja, liebe Gemeinde, das ist Christi Liebes­erklärung an Zion, an die Kirche, an die Gemeinde der Heiligen, an die ganze Christen­heit, an alle Gläubigen. Was können wir tun, wie sollen wir uns verhalten, wenn wir sie hören? Wie sollen wir reagieren, wenn unser Geliebter und Bräutigam Christus uns so lockt und ruft? Nun, es wäre dumm und verletzend, wenn wir uns ihm entziehen würden. Wenn wir unsere Gemein­schaft mit ihm auf Sparflamme laufen lassen würden oder uns ganz abwendeten. Das hieße nichts anderes als aus Zion auswandern. Wer das tut, darf diese Liebes­erklärung dann freilich nicht mehr auf sich beziehen, der hat nichts anderes zu erwarten als Gottes Zorn, und den in Ewigkeit. Darum lasst uns in Zion bleiben. Lasst uns in der Gemein­schaft der christ­lichen Gemeinde fleißig die Gegenwart unsers Herrn suchen und seiner Einladung folgen. Bleiben wir an seinem Wort – täglich, und bleiben wir an seinem Sakrament – reichlich. Erwidern wir seine Liebe in Wort und Tat mit einem heiligen Leben, das ihm Freude macht. Er liebt uns ja so über die Maßen! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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