Festhalten an Christus, der ist, war und kommt

Predigt über Hebräer 10,19‑25 zum 1. Advent

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Jeder Mensch hat eine Vergangen­heit, eine Gegenwart und eine Zukunft. Je nach Alter und Veranlagung tritt jedoch eines dieser drei Dinge verstärkt ins Bewusst­sein. Der ältere Mensch steht in Gefahr, überwiegend in der Vergangen­heit zu leben, in der Erinnerung an alte Zeiten. Er bekommt ja auch von der Gegenwart nicht mehr so viel mit, wenn er schlecht sieht, schlecht hört und sich schlecht etwas merken kann. Die Zukunft wird ihm in absehbarer Zeit den Tod bringen. Menschen, die ihr Leben genießen und Spaß haben wollen, leben überwiegend in der Gegenwart. Sie kosten ihr gegen­wärtiges Leben voll aus, ohne nach ihrem Woher zu fragen und ohne sich darum zu kümmern, was in Zukunft aus ihnen wird. Ehrgeizige Menschen dagegen haben vor allem die Zukunft im Auge und blicken stur geradeaus auf die hohen Ziele, die sie erreichen wollen.

Wir Christen brauchen in keiner dieser Weisen einseitig zu werden. Unser Herr Jesus Christus, der Dreh- und Angelpunkt unseres Lebens, ist ein Herr sowohl der Vergangen­heit als auch der Gegenwart als auch der Zukunft. Er ist es, „der da ist und der da war und der da kommt“, wie es im Buch der Offenbarung heißt (Offb. 1,8). Und auch die Adventszeit, die heute beginnt, richtet unseren Blick gleich dreifach auf das Kommen unsers Herrn: auf den Advent der Vergangen­heit, auf den Advent der Gegenwart und auf den Advent der Zukunft. Christus ist gekommen als Mensch in diese Welt, Christus kommt heute durch sein Wort und Sakrament zu den Christen, Christus wird wiederkommen in Herrlich­keit am Jüngsten Tag. Auch der Hebräer­brief schenkt uns diesen weiten Blick. Er gipfelt in dem Satz: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ (Hebr. 13,8). Der Abschnitt aus dem 10. Ka­pitel, den wir eben gehört haben, beschäftigt sich ebenfalls mit Vergangen­heit, Gegenwart und Zukunft unseres Glaubens. Da wird uns vor Augen geführt, wie Jesus uns durch das Opfer seines Leibes den Zugang zu Gott frei gemacht hat in der Vergangen­heit. Da ist von dem zukünftigen Tag die Rede, der sich naht: dem Tag der Rückkehr unseres Herrn. Und aus diesem Rückblick und aus diesem Vorausblick ergibt sich dann die Ermunterung für das gegen­wärtige Christen­leben: Lasst uns festhalten an Glaube, Hoffnung und Liebe! Wir wollen diese drei Blick­richtungen jetzt näher betrachten.

Wir Christen dürfen erstens mit großer Freude zurück­blicken auf den Advent der Vergangen­heit, als der Gottessohn menschliche Gestalt annahm und sich auf Erden für uns opferte. Der Hebräer­brief malt das mit einem Bild vor Augen, das uns nicht so geläufig ist, nämlich mit dem Bild des alt­testament­lichen Tempel­gottes­dienstes. Der Jerusalemer Tempel hatte in der Mitte ein besonderes Gebäude, das Heiligtum, das nur die Priester betreten durften. In diesem Gebäude befand sich, durch einen Vorhang abgetrennt, das Aller­heiligste, das nur der Hohe­priester einmal im Jahr am großen Versöhnungs­tag betreten durfte. Diesen Raum hatte sich Gott als Brennpunkt seiner Gegenwart ausgesucht. Der Hebräer­brief sagt nun: Jesus hat uns freien Zugang in das Heiligtum verschafft. Wir sind nicht mehr auf die Mittler­dienste von Priestern angewiesen, sondern dürfen selbst vor Gott treten. Ja selbst der Weg durch den Vorhang, der Weg ins Aller­heiligste, ist frei – der Weg bis hin zu Gottes Thron. Jesu Leib ist um unserer Sünde willen zerbrochen, getötet, hin­gerichtet am Kreuz, und im selben Moment zerriss ja auch wirklich der Vorhang im Tempel. Das Sühnopfer Jesu am Kreuz machte uns rein von aller Sünde, machte uns selbst zu Priestern, schuf uns direkten Zugang zu Gott. Wie wunderbar! Weil Jesus unser Bruder wurde, dürfen wir einfach zu Gott gehen und „lieber Vater“ zu ihm sagen. Für jeden einzelnen von uns hat Gott das noch durch eine besondere Handlung besiegelt, die nicht ganz so weit in der Vergangen­heit liegt: durch die Taufe nämlich. Der Hebräer­brief drückt das so aus: „Wir sind besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.“ Die Priester des Alten Testaments mussten erst bestimmte heilige Waschungen und Be­sprengungen über sich ergehen lassen, ehe sie in das Heiligtum gehen durften. Wir sind durch die Taufe ein für alle Mal gewaschen und mit Jesu Blut besprengt, sodass wir Zugang zum himmlischen Vater haben. Ja, dies alles zeigt uns der beglückende Rückblick in die Vergangen­heit.

Genauso beglückend ist für den Glaubenden aber auch der Vorausblick in die Zukunft. Wir dürfen mit Zuversicht vorausblicken auf den Advent der Zukunft – auf den Tag, an dem Jesus wieder­kommen wird. „Ihr seht, dass sich der Tag naht“, heißt es im Hebräer­brief. Zwar wird dieser Tag unter er­­schrecken­den Begleit­erscheinun­gen kommen, wenn Jesus sich mit seinen Engeln in großer Herrlich­keit zeigen wird. Aber wir dürfen ja wissen: Da kommt unser lieber Herr, der uns zu sich nimmt und uns für immer selig macht. Vergessen wir nicht neben dem Rückblick den Voraus­blick, neben der Freude über das Opfer Jesu Christi am Kreuz und unsere Taufe die Vorfreude auf sein Wieder­kommen!

Beide Blick­richtungen helfen uns nun aber für unseren Glauben in der Gegenwart. Sie helfen uns, Christus heute recht zu empfangen, wann immer er zu uns kommt. Wir dürfen jetzt mit seinem Kommen rechnen, dürfen darauf vertrauen, dass er hier in diesem Gottes­dienst mitten unter uns ist. Das ist sein Advent der Gegenwart. Der Hebräer­brief bringt das auch alles wunderbar miteinander in Verbindung: Weil wir den Zugang zu Gott haben durch das Opfer seines Leibes, darum „lasst uns hinzutreten mit wahr­haftigem Herzen in voll­kommenem Glauben“, „lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung“, „lasst uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken“. Das alles sollen wir desto mehr und intensiver tun im Blick auf die Zukunft, „als ihr seht, dass sich der Tag naht.“

Eine Schlüssel­stellung für das Christsein in der Gegenwart hat der Gottes­dienst. Er ist das Herzstück des Gemeinde­lebens, ja, er ist das Herzstück des ganzen Christen­lebens. Hier werden wir an Christi Opfer der Vergangen­heit erinnert. Hier werden wir auf sein Wieder­kommen vor­bereitet. Hier leben wir in Gebet und Lobpreis jetzt unsern Glauben. Hier kommen wir zusammen, um uns „anzureizen zur Liebe und zu guten Werken“, um uns also für ein Leben in christ­licher Liebe zurüsten zu lassen. Damals wie heute gab es allerdings auch Ermüdungs­erscheinun­gen. Es gab schon damals Gemeinde­glieder, die es sich angewöhnt hatten, nicht mehr zum Gottes­dienst zu kommen. Der Hebräer­brief schreibt dagegen: „Lasst uns nicht verlassen unsre Ver­sammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen.“ Dieses Wort ist heute wichtiger denn je. Die Ermüdungs­erscheinun­gen in Blick auf den Gottes­dienst, das Herzstück des Gemeinde­lebens, sind schlimm, und sie lassen für die Zukunft noch Schlimmeres befürchten. Ich habe diese Be­fürchtungen mal in einem Gedicht zusammen­gefasst, das ich euch jetzt vortragen möchte:

In X-Dorf stand ein Gotteshaus,
das sah noch ganz manierlich aus.
Eine Gemeinde gab's da auch,
hielt Gottes­dienst nach altem Brauch
an allen Sonn‑ und Feiertagen,
auch werktags öfters, ohne Klagen,
Reformation, Epiphanias,
Passionsandachten, sonst noch was:
Zu allen Fest‑ und Denktagszeiten
sah man die Leut zur Kirche schreiten.

Da sprach der Lehrer Besenstiel:
„Ist das nicht wohl ein bisschen viel?
Man soll die Leut' nicht überfordern,
sie werktags nicht zur Kirche ordern.
Sie haben viel zu tun zu Hause,
und auch der Pastor braucht mal Pause.“
Drum ließ man nun zu diesem Zweck
die Werktagsgottesdienste weg:
Reformation, Epiphanias,
Passionsandachten, sonst noch was.

Der Kirchenvorsteher Hans Dübel
fand diese Reglung gar nicht übel
und dachte: „Ich will mal probieren,
noch mehr zu rationalisieren.
Ich find, die zweiten Feiertage
sind doch nur eine läst'ge Plage.
Da kommt ja sowieso kaum einer.
Im Ausland feiert sie sonst keiner.
Auch ist die Predigt fast dieselbe.
Kurz: Das ist nicht vom Ei das Gelbe.“
beschlossen ward's: Zu jedem Fest
den zweiten Tag man fallen lässt.

Auch X-Dorf kennt jeden Advent
dieses Problem: Die Zeit, die rennt.
Die Hausfrau Knoll hat viel zu tun
und wenig Zeit, sich auszuruhn.
„Schön wär's“, denkt sie, „wenn nach dem Hasten
Sonntag vorm Fest ich könnte rasten.
Doch zieht mich stets mein Pflichtgefühl
vierten Advent zum Kirchgestühl.
Und melden dann die Glocken sich,
mach gleich ich auf die Socken mich.
Könnt man nicht diesen Festtag streichen?
Die Weihnachtsgottesdienste reichen!“
Frau Knolls Idee fand offne Ohren.
„Das ist ja toll“, rief Küster Bohren,
„Man kann dann auch in ein paar Jahren
recht viel Adventskranzkerzen sparen!“
Beschossen ward's: Vierten Advent,
da wird in X-Dorf ausgepennt.

Am Sonntagmorgen auszuschlafen
fand Anklang bei den Glaubensschafen.
Begeistert sprach Karl-Otto Hefter:
„Warum gibt's sowas denn nicht öfter?
Warum, ich stell nur mal die Frage,
nicht Kirchgang alle vierzehn Tage?
Will öfter wer vorm Altar stehn,
der kann ins Nachbardorf ja gehn
und sich am Gottesdienst beteil'gen.
Mir reicht den zweiten Sonntag heil'gen.“
Auch dies ward schnell beschlossne Sache.
Und dass man nur nichts Halbes mache,
entschied man übers Abendmahl:
Das gibt's nur einmal im Quartal.
Man könnt sich sonst zu sehr gewöhnen.
und außerdem: Die Leute stöhnen,
wenn durch die Sakramentsgast-Schlange
das Ganze dauert viel zu lange.

Bald fielen die Beschlüsse schneller.
Man dachte immer rationeller,
sprach von des Christenmenschen Freiheit
und dachte heimlich an die Freizeit,
die man auf diesem Weg gewinnt.
So kam es dazu ganz geschwind,
dass einmal nur im Monat noch
man sonntags in die Kirche kroch.
Bald wollt man dies nicht mehr ertragen
und traf sich nur an Feiertagen.
Bald hielt man diese für zuviel;
drum sprach der Lehrer Besenstiel:
„Einmal im Jahr, das ist erlabend.
Ich komme nur noch Heiligabend.“
Die anderen, die stimmten zu
und hielten ein Jahr Kirchenruh.
Doch Heiligabend, das muss sein,
da schimmert doch der Baum so fein,
da wird einem so warm ums Herze
bei Krippe, Stern und Weihnachtskerze.

Gott sah auf X-Dorf und ward traurig.
Er fand die Lage ziemlich schaurig.
Vielleicht sagt er den Leuten dort:
„Habt ihr so wenig Lust am Wort,
am Singen, Beten, Abendmahl
in eurem armen Erdental?
Wollt ihr mit mir Gemeinschaft nicht,
die jeder Gottesdienst verspricht?
Na gut, dann fällt im Himmelshaus
der Gottesdienst auch für euch aus.“

Liebe Gemeinde, ich bin froh, dass ich nicht in X-Dorf wohne. Ich freue mich, dass wir hier mit großer Regelmäßig­keit unsere Gottes­dienste feiern an allen Sonn‑ und Feiertagen. Ich möchte, dass das auch so bleibt. Ich möchte, dass auch den Anfängen einer Entwicklung wie in X-Dorf gewehrt wird. Darum feiern wir auch dann einen Gottes­dienst zum 4. Advents­sonntag, wenn er auf Heiligabend fällt. Natürlich bin ich mir im Klaren, dass der eine oder andere nicht zu beiden Gottes­diensten an diesem Tag kommen wird. Aber ich denke, es geht auch vielen so wie mir: Ich möchte den Gottes­dienst zum 4. Advent nicht missen. Ich freue mich schon darauf, dann auch in diesem Gottes­dienst meinem Herrn und Heiland zu begegnen, „der da ist und der da war und der da kommt.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1989.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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