Wachen und Warten

Predigt über Markus 13,33‑37 zum Ewigkeitssonntag

Liebe Gemeinde!

Das Gleichnis vom Hausherrn und seinen Knechten könnte eigentlich noch weiter­gehen: Der Hausherr kommt endlich von seiner Reise zurück und findet alles in bester Ordnung vor. Die Knechte haben sorgfältig die Aufgaben erfüllt, die er ihnen aufgetragen hatte. Der Türhüter ist hellwach auf seinem Posten und begrüßt den Hausherrn schon von weitem. Dieser freut sich sehr, dass man munter ist und ihn erwartet. Er ruft alle Knechte zusammen und sagt: Jungs, ihr habt eure Sache gut gemacht, darum lasst uns jetzt erstmal ein Fest feiern.

Na ja, zugegeben – ein Guts­besitzer­haushalt mit Knechten und einem Türhüter ist uns nicht mehr so vertraut wie den Menschen in biblischer Zeit. Vielleicht sollte man das Gleichnis heute lieber so erzählen: Der Chef einer Firma will eine längere Auslands­reise unter­nehmen. Vorher versammelt er alle leitenden An­gestellten zu einer Be­sprechung. Meine Herren, sagt er, ich vertraue Ihnen jetzt meinen Betrieb an. Ich lasse Ihnen freie Hand bei allen Ent­scheidun­gen, die in Ihre jeweilige Zuständig­keit fallen. Aber seien Sie wachsam, machen Sie Ihre Arbeit gut! Beobachten Sie den Markt und die Preise! Achten Sie auf Effektivi­tät! Wenn ich wieder­komme, möchte ich schwarze Zahlen sehen. Kurz bevor er das Firmen­gebäude verlässt, wendet er sich an den Pförtner: Seien Sie wachsam! Wenn ich wieder­komme, möchte ich nicht erleben, dass Sie über der Zeitung ein­geschlafen sind. Nach langer Zeit kehrt der Chef von seiner Reise zurück. Sein erster Gang führt ihn ins Firmen­gebäude. Frisch und munter begrüßt ihn der Pförtner in der Loge. Die leitenden An­gestellten eilen herbei und beweisen, dass auch sie nicht geschlafen haben: Aus den mit­gebrachten Akten können sie belegen, dass sie ihre Aufgaben gut erfüllt haben und dass der Betrieb floriert. Der Chef sagt ihnen fröhlich: Meine Herren, Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Darum wollen wir jetzt erstmal ein bisschen feiern.

Soweit das Gleichnis in seiner modernen Fassung. Lasst uns nun nach der Bedeutung fragen, nach der anderen Seite des Gleichheits­zeichens gewisser­maßen. Der Betrieb gleicht der Christen­heit auf Erden. Man kann auch sagen: der „einen heiligen christ­lichen Kirche“, die wir vorhin im Glaubens­bekenntnis bekannt haben. Der Chef ist Jesus Christus, der Gottessohn, das Haupt der Gemeinde, der Herr der Kirche, der König aller Könige. In seinen Erdentagen hat er den Jüngern vieles gesagt und anvertraut, darunter auch dies: Seid wachsam, bis ich wieder­komme. Tut das, was ich euch gesagt habe; erfüllt den Auftrag, den ich euch gegeben habe; werdet nicht müde, bis ich wieder­komme! Dann kam der Tag der Himmel­fahrt, und dann redete Jesus nicht mehr leiblich zu seinen Jüngern. Wir wissen zwar, dass er trotzdem unter uns ist, auch jetzt in diesem Gottes­dienst – er ist gegenwärtig durch den Heiligen Geist, wenn auch unsichtbar. Aber Jesus gibt uns in unserer Zeit keine direkten Anweisungen und keine neuen Aufträge für unser Leben. Vielmehr gilt uns heutigen Jüngern immer noch dasselbe Wort, das die Jünger damals empfingen: „Seid wachsam, bis ich wieder­komme.“

Wenn Jesus wieder­kommt, dann wird das mit großer Pracht und Herrlich­keit geschehen. Alle Toten werden dann wieder lebendig werden. Alle werden erkennen: Das ist der Chef, das ist der Gottessohn, das ist der König aller Könige. Dann wird er Gericht halten über alle Menschen. Zu denen, die ihm als Jünger treu geblieben sind, wird er dann sagen: Jungs, ihr habt eure Sache gut gemacht! Jetzt kommt ihr in den Himmel, jetzt feiern wir ein Fest, das nie aufhört! Oder, um es mit Worten der Bibel zu sagen: „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!“ (Matth. 25,34) Das ist die ewige Seligkeit, der Himmel. Das ist der Zielpunkt, die Vollendung eines Christen­lebens. Und weil der heutige Sonntag unsern Blick besonders auf dieses Ziel richtet, nenne ich ihn auch lieber Ewigkeits­sonntag als Toten­sonntag.

Wir Christen, wir Jünger Jesu, rechnen fest damit, dass unser Herr wieder­kommt. Wir warten auf diesen Tag, wir leben auf ihn zu. Jesus hat es mehrmals deutlich gesagt und fest ver­sprochen, dass er wieder­kommen wird. Die Bibel lässt keinen Zweifel daran, dass der Jüngste Tag kommen wird, und mit ihm Gottes Gericht über Lebende und Tote. Im Glaubens­bekenntnis haben wir eben laut aus­gesprochen, was unsere Überzeugung ist: „Christus wird kommen, zu richten die Lebendigen und die Toten“; und: „Ich glaube an die Auf­erstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.“ Ja, wir warten auf das Ziel und die Vollendung unseres Christen­lebens im Himmel. Wenn es dieses Ziel nicht gäbe, wäre alle christliche Ver­kündigung vergeblich; es brauchte dann keine Kirche zu geben. Der Apostel Paulus sagte klar: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen“ (1. Kor. 15,19).

Deshalb ist mir völlig un­verständ­lich, was ich neulich in der Zeitung gelesen habe. Eine Umfrage des Allens­bacher Instituts für Meinungs­forschung hat ergeben: Von den Katholiken in der Bundes­republik Deutschland glaubt nur jeder Zweite an die Auf­erstehung und das ewige Leben, von den Pro­testanten sogar nur jeder Vierte. Was ist denn mit den übrigen 50 beziehungs­weise 75 Prozent? Haben die denn nie ihre Bibel gelesen? Haben die denn nie zugehört im Gottes­dienst? Haben die denn nie das Glaubens­bekenntnis mit­gesprochen? Oder haben sie geheuchelt, als sie es mit­gesprochen haben? Warum nennen sie sich Christen, wenn sie so einen ent­scheidenden christ­lichen Glaubens­satz ablehnen?

Wir leben zweifellos in der Zeit einer er­schüttern­den Glaubens­krise. Ich muss annehmen, dass Zweifelnde auch unter denen sind, die mir jetzt zuhören. Vielleicht bereitet es diesen Zweifelnden ja selbst Not, dass sie nicht an Christi Wieder­kommen, die Auf­erstehung und den Himmel glauben können. Diesen Zweifelnden sage ich jetzt: Beweisen kann ich zwar nicht, dass Christus wieder­kommt; niemand kann das beweisen. Aber es kann auch niemand beweisen, dass er nicht wieder­kommt. Einen deutlichen Hinweis für die Auf­erstehung haben wir in der Tatsache, dass praktisch alle Völker und Religionen ein Weiterleben nach dem Tod kennen. Gott hat ihnen allen die Ahnung der Auf­erstehung ins Herz gegeben, so verschieden die Lehren der Religionen im Einzelnen auch aussehen mögen. Aber wirkliche Gewissheit finden wir nur im Vertrauen auf Gottes Wort und das Versprechen Jesu Christi. Ach, wenn wir doch nur mehr Vertrauen hätten zu dem, was Gott uns in der Bibel sagt!

Dass Jesus wieder­kommt, ist in der Bibel klar bezeugt; aber wann er wieder­kommt, ist ungewiss. Er hat seinen Jüngern keinen Termin genannt, er hat nur gesagt: „Ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“ Immer wenn Menschen versucht haben, den Zeitpunkt zu errechnen, haben sie sich hoffnungs­los blamiert. Ein geistiger Vorvater der Adventisten und der Zeugen Jehovas, William Miller, hat es mal versucht. Nach seinen Be­rechnungen erwartete man Jesus am 22. Ok­tober l844 zurück. Viele verließen ihre Arbeits­plätze oder schlossen ihre Geschäfte. Bauern ließen ihre Ernte auf den Feldern stehen, um sich auf diesen Tag vor­zubereiten und andere darauf hin­zuweisen. Als Jesus am angegebenen Tag dann ausblieb, war die Ent­täuschung groß.

Wann Christus wieder­kommt, ist ungewiss, und zwar ungewiss nach beiden Seiten hin: Er kann eher kommen, als wir denken, er kann aber auch länger ausbleiben. Erinnern wir uns an das Gleichnis! Die An­gestellten könnten nach der Abreise des Chefs sagen: Jetzt legen wir uns erstmal auf die faule Haut und tun gar nichts. Und wenn der Chef unerwartet früh wieder­kommt, dann kommt das böse Erwachen nach dem Büroschlaf. Oder sie könnten sich voll in ihre Arbeit hinein­knien, aber am Ende doch müde und lustlos werden, weil der Chef überhaupt nicht mehr wieder­zukommen scheint. Geht es so nicht uns heutigen Christen? Es ist immerhin zweitausend Jahre her, seit Christus versprochen hat, wieder­zukommen. Werden wir da nicht müde und lustlos? Fangen wir nicht an zu zweifeln? „Seht euch vor, wachet“, ruft Christus auch uns zu durch die Bibel. „Ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“ Es kann viel länger dauern, als man meint. Bei Gott gilt ja ein anderes Zeitmaß als bei den Menschen; bei ihm können tausend Jahre so kurz wie ein einziger Tag sein.

Aber auch das andere gilt heute noch: Es kann schneller gehen, als wir denken. Vielleicht kommt Christus noch in diesem Jahr. Vielleicht kommt er noch heute wieder. Und auch wenn der Jüngste Tag noch viele Jahre entfernt ist, so kann doch für einen jeden von uns die Todesstunde ganz nah sein. Die Todesstunde aber bringt uns sogleich zum Tag der Auf­erstehung und vor Gottes Gericht. Die Todesstunde ist sozusagen der persönliche Jüngste Tag für den Sterbenden. Keiner von uns kann sagen, ob er noch ein Jahr leben wird. Und ich bin mir ziemlich sicher: Unter all denen, die mir jetzt zuhören, werden einige den nächsten Ewigkeits­sonntag nicht mehr erleben – vielleicht ich selbst auch nicht, denn es sterben ja nicht nur alte Menschen. Ja, der Jüngste Tag kann schneller kommen, als wir denken. Wie viele junge Menschen haben sich gesagt: Wenn ich alt bin, werde ich an Gott denken und zur Kirche gehen; aber jetzt möchte ich erstmal mein Leben genießen. Und dann haben sie es genossen und sind mit dem Auto ein bisschen zu schnell durch die Kurve gefahren und gegen einen Baum geprallt und gestorben. Und dann standen sie plötzlich vor Jesus, der wieder­kommt, zu richten die Lebenden und die Toten. „Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“

Wie geht das nun aber eigentlich, das Wachen? Was sollen wir tun? Wachen heißt zunächst einmal warten. In der deutschen Sprache sind beide Wörter sogar verwandt: wachen und warten. Das Warten gehört zum Wesen des Christen – das Warten auf die Rückkehr des Herrn. „Wir warten dein, o Gottessohn“ singen wir jetzt am Ende des Kirchen­jahres. Ein Christ ist immer im Wartestand. Manch einer hat die Christen deswegen ausgelacht – zum Beispiel der irische Schrift­steller und Nobel­preisträger Samuel Beckett mit seinem Theater­stück „Warten auf Godot“. Unschwer kann man erraten, dass er mit Godot Gott meinte. Das Bemerkens­werte an diesem Stück ist, dass in der Handlung eigentlich überhaupt nichts passiert. Es treten da nur Leute auf, die untätig warten.

Dabei dürfte doch jedem denkenden Menschen klar sein, dass es einen Unterschied gibt zwischen Warten und Warten. Es ist etwas anderes, ob jemand an der Bus­haltestelle sich die Beine in den Bauch steht und untätig wartet oder ob ein junges Ehepaar ein Kind erwartet und voller Freude sich darauf vor­bereitet. Da wartet man keineswegs untätig, sondern da wird Babywäsche gekauft, da wird ein Zimmer mit einem Bettchen her­gerichtet, da werden Namens­bücher gewälzt. Das Warten der Christen auf Jesus ist wie dieses Warten auf ein Kind: ein ge­schäftiges Warten, voller Vorfreude. Oder um auf das Gleichnis zurück­zukommen: Es ist ein ge­schäftiges Warten, so wie die guten An­gestellten auf die Rückkehr ihres Chefs warten. Sie sind keineswegs untätig, sondern setzen sich ein, um den Betrieb in der Zwischen­zeit so gut wie möglich zu führen. Sie nehmen in dieser Zeit ihre Ver­antwortung wahr, die ihnen vom Chef übertragen wurde, und versuchen, alles in seinem Sinne zu tun.

Was ist denn nun im Sinne unseres Chefs Jesus Christus? Wie sollen wir denn die Wartezeit füIlen? Jesus hat es klar gesagt: zuallererst sollen wir an ihn glauben. Wir sollen darauf vertrauen: Er hat uns durch seinen Tod am Kreuz alle Schuld vergeben und uns zu Kindern Gottes gemacht. Wir sollen uns fest darauf verlassen: Seine Liebe und seine Barmherzig­keit halten uns; sie geben uns, was wir brauchen, machen uns für immer glücklich, für immer selig. Ja, diesen Glauben sollen wir festhalten und darin leben. In diesem Glauben sollen wir wachen und nicht müde werden. Diesen Glauben sollen wir uns immer wieder stärken lassen: sonntags im Gottes­dienst, auch durch das Heilige Abendmahl, und an jedem Tag durch sein Wort in der Bibel. Und diesen Glauben sollen wir dann ausleben: indem wir unsere Mitmenschen lieben, wie er uns geliebt hat. Indem wir uns an seine Weisungen und Gebote halten. Indem wir bereit sind, anderen zu dienen. Dies sind nämlich die Früchte, die unser Glaube hervor­bringt. Ja, so zu glauben und so zu leben heißt wachen, warten, bereit sein für die Rückkehr des Herrn. Und daran sieht man: Die wartenden Christen sind keineswegs untätig in dieser Welt. Ihr Glaube ist keineswegs eine Vertröstung auf das Jenseits, sondern in der Vorfreude auf den Himmel setzen sie sich desto freudiger ein für den Dienst in dieser Welt.

Ja, liebe Gemeinde, lasst uns diesen Glauben festhalten, lasst uns darin leben, lasst uns wachen und warten und vorbereitet sein auf den Tag, wenn unser Herr wieder­kommt. Vielleicht kommt er schneller, als wir es meinen. Vielleicht bleibt er auch länger aus. Kommen wird er bestimmt. Und wenn er lange ausbleibt und du ängstlich fragst: Ob ich es wohl aushalte, bis dahin im Glauben zu wachen?, dann bitte ihn einfach um Kraft. Er will dir ja Glauben schenken, das hat er ver­sprochen. Verlass dich nur auf ihn, wirf alle Sorgen und Zweifel auf ihn. Und freu dich schon – freu dich auf den Tag, an dem er wieder­kommen und dich in sein herrliches Reich nehmen wird. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1989.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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