Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Vielleicht waren die ersten Christen bessere Zuhörer als wir. Jedenfalls muss ich für meinen Teil zugeben, dass ich beim ersten Durchlesen dieses Abschnitts aus dem Kolosserbrief kaum etwas begriffen habe vom Inhalt. Ich musste mir den Inhalt erst mühsam erarbeiten. Euch wird es sicher nicht anders gegangen sein, als ihr diese Worte eben gehört habt. Darum möchte ich zuerst einmal den Zusammenhang erläutern, in dem dieser Text steht, und ihn dann in übersichtliche Stücke zerlegen.
Also zunächst zum Zusammenhang. Paulus lobte die Gemeinde in Kolossä für ihren Glauben und für ihre christliche Liebe. Er schrieb aber nicht: „Bleibt, wie ihr seid!“, sondern er betete dafür, dass sie noch besser werden, sowohl in guten Werken als auch in der Erkenntnis von Gottes Willen – in „aller geistlichen Weisheit und Einsicht“, wie er schrieb. Ja, wir sollen stets geistlich wachsen, sowohl im Denken als auch im Handeln. Paulus betete aber nicht nur um solches Wachstum, sondern er förderte es auch durch Gottes Wort, das er den Kolossern in diesem Brief predigte. In der ersten Hälfte führte er sie tiefer ein in die Geheimnisse des Glaubens, und in der zweiten Hälfte gab er ihnen Tipps für den christlichen Lebenswandel.
Unser Abschnitt steht in der ersten Hälfte, im theoretischen Teil sozusagen. Ausgangspunkt dafür ist, wie könnte es anders sein, die Grundlage aller christlichen Erkenntnis, die wichtigste Botschaft, das Evangelium: „Gott hat uns errettet von der Nacht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines lieben Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.“ Das ist die wunderbare Tat, für die wir Gott nie genug loben und preisen können: Als wir geboren wurden, standen wir unter der Gewalt des Teufels, der uns verderben wollte. Aber in der Taufe hat uns der himmlische Vater herausgerissen aus der Macht der Finsternis und uns zu seinen lieben Kindern gemacht. Er hat uns eingebürgert in das wunderbare, strahlend helle Reich seines lieben Sohnes. Alles, was Paulus nun schreibt in den folgenden sechs Versen, das sagt er von diesem lieben Sohn, von Jesus Christus. Ja, Paulus nimmt sich hier viel Zeit und Pergament, um von Christus zu schreiben, denn das ist ihm am allerwichtigsten. Wir heutigen Christen wollen in dieser schnelllebigen Zeit immer allzu rasch zu anderen Themen übergehen, wie man als Christ leben soll zum Beispiel, oder wie wir dem Missionsbefehl nachkommen können. Von Paulus können wir lernen: Es ist gut und wichtig, ausführlich über unseren Herrn nachzusinnen, das Geheimnis Christi in Ruhe zu betrachten, uns anbetend darin zu verlieren.
Was lehrt Paulus nun aber in diesem Abschnitt von unserem Herrn? Es lässt sich in einem kurzen Satz zusammenfassen: Jesus ist der Größte! Jesus ist der König aller Könige, der Herr aller Herren! Jesus ist der Erste, der Oberste, der Mächtigste! Jesus steht über allem und über allen! Jesus ist der einzige der den Titel „Mister Universum“ wirklich verdient!
Paulus hat einen besonderen Anlass, dies gerade im Kolosserbrief zu betonen. Die Christen in Kolossä waren nämlich anfällig für philosophische und religiöse Spekulationen, die aus trüben Quellen kamen, nicht aus der Bibel. Da vermutete man die Existenz unbekannter Wesen und Mächte, denen Jesus nicht von vornherein überlegen sei, sondern gegen die er sich noch behaupten müsse. Dagegen setzt Paulus diese Aussagen hier, die wir, wie gesagt, so zusammenfassen können: Christus ist der Größte. Und wenn man Weisheit lernen und Erkenntnis gewinnen will, dann darf man das nicht in menschlicher Philosophie suchen, sondern muss bei Christus anfangen, „in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“, wie Paulus im nächsten Kapitel schreibt. Denn in Christus hat der verborgene unbegreifliche Gott gezeigt, wer er ist. Wir Menschen sollen uns kein Bild von Gott machen, keine eigene Vorstellung, aber Christus ist das Bild, das Gott von sich selbst gemacht hat für uns Menschen. „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“, schreibt Paulus. Wer Christus gesehen hat, hat Gott gesehen. Und wenn wir in der Bibel die Augenzeugenberichte der Christuszeugen lesen, nämlich der Apostel, dann sehen wir durch ihre Augen ebenfalls Christus, und damit Gott selbst. In Christus hat sich Gott abgebildet. Nun können wir leicht verstehen, was gemeint ist mit dieser Aussage: Christus ist der Größte. Denn in Christus hat Gott der Vater sich selbst abgebildet und gezeigt, dass er der Größte ist. Sein Sohn hat gleiches Wesen, gleiche Macht und gleiche Ehre.
Christus ist der Größte – diese Aussage entfaltet Paulus dreifach. Wir können die folgenden Verse in drei Teile gliedern und sie folgendermaßen überschreiben: 1. Christus ist der Herr über die Schöpfung, 2. Christus ist der Herr über die Gemeinde, 3. Christus ist der Herr über den Tod.
Unter der Überschrift „Christus ist der Herr über die Schöpfung“ lesen wir Folgendes: „Er ist der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm.“ Christus, der „Erstgeborene vor aller Schöpfung“ – was bedeutet das? Nun, er ist der „eingeborene“, der „einziggeborene“ Sohn Gottes des Vaters. „Geboren“ bezieht sich dabei nicht auf den Vorgang einer Geburt, denn Jesus ist ja ewig wie der Vater; „geboren“ drückt vielmehr eine Beziehung aus: Jesus hat göttliches Wesen wie der Vater. Er ist Gott dem Vater gleich, tut aber als gehorsamer Sohn nichts anderes als den Willen des Vaters. Weil nun Jesus wahrer Gott ist, ist er auch der Schöpfer aller Dinge: des Himmels, der Erde, der Sterne, der Steine, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, der Engel, sogar des Teufels und der bösen Geister, die einst auch Engel waren, dann aber abgefallen sind. So war Jesus nicht nur vor der Schöpfung da, sondern er steht auch über der Schöpfung. Und er erhält die Schöpfung auch: Sie ist zu ihm hin geschaffen, auf ihn bezogen, kann ohne ihn nicht bestehen. Der „Erstgeborene“, das bedeutet im Sprachgebrauch der Bibel auch: der einen besonderen Vorzug hat, eine besondere Vorrangstellung. Jesus ist nicht nur ein Herr unter vielen, sondern der Herr überhaupt, Schöpfer und Oberhaupt aller „Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten“ (über alles, was „Rang und Namen hat“, würden wir heute sagen), sowohl über die wichtigsten und mächtigsten Menschen auf Erden also auch über die wichtigsten und mächtigsten Geister in der unsichtbaren Welt. Was bedeutet das für uns, liebe Gemeinde? Es bedeutet, dass wir uns als seine Erlösten um nichts in der Welt zu sorgen brauchen. Die Machthaber dieser Welt können nichts ausrichten gegen seinen Willen. Die Zerstörung der Umwelt kann nur so weit fortschreiten, wie er es zulässt. Krankheiten und Gebrechen des Leibes sind auch in seiner Hand. Und wir sind deshalb gut beraten, wenn wir ihm das alles im Gebet immer wieder anbefehlen.
Unter der Überschrift „Christus ist der Herr der Gemeinde“ lesen wir Folgendes: „Er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.“ Wir alle kennen dieses wunderbare Bild des Leibes für Kirche und Gemeinde. Wir selbst sind Glieder an diesem Leib. Unser Haupt führt und leitet uns. Unser Haupt nährt uns und steuert alle lebenswichtigen Vorgänge, damit wir nicht absterben. Sein Wort und sein Sakrament halten uns gesund und lebendig an seinem Leib. Er hat versprochen, dass uns niemand aus seiner Hand reißen wird, und er wird dieses Versprechen auch halten. Wir brauchen uns nicht zu sorgen um den Weg der Gemeinde Gottes in unserer Zeit. Wir brauchen uns nicht zu sorgen um kleine Zahlen, um schwindenden Einfluss, um Geld und Gebäude, um Arbeiter in der Ernte und um menschliche Schwachheit, die auch in der Kirche an allen Ecken spürbar wird. Wir haben ein Haupt, und dieses Haupt ist unser Herr, und dieser Herr ist der Größte! Deshalb sind wir auch in Fragen der Kirche und Gemeinde gut beraten, wenn wir ihm im Gebet immer wieder alles anbefehlen.
Unter der Überschrift „Christus ist der Herr über den Tod“ lesen wir Folgendes: „Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, damit er in allem der Erste sei. Denn es hat Gott wohl gefallen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.“ „Erstgeborener“ bedeutet hier: Weil er menschliche Gestalt angenommen hat, ist er der erste Mensch, der mit erneuertem Leib in die Herrlichkeit des Himmels auferstanden ist. Und es bedeutet darüber hinaus: Er ist die Ursache der Auferstehung zum Leben für uns Menschen, denn mit seinem Tod und Auferstehen hat er dem Tod die Macht genommen. So hat er den Willen des Vaters erfüllt und vollendet. Und darum ist er auch im Himmel, also im Reich der ewigen Herrlichkeit, der Erste und Größte – in der neuen Welt, die auf uns wartet und die uns mit großer Vorfreude erfüllt. Ja, dort wird sich dann sein Werk der Versöhung vollenden. Denn dass durch ihn alles versöhnt wird im Himmel und auf Erden, bedeutet Folgendes: Wir, die wir jetzt schon durch die Taufe zu Gott gehören hier auf Erden, werden dann im Himmel die volle Gemeinschaft mit ihm haben, weil uns dann auch nicht mehr der Schatten einer Sünde von ihm trennen wird. Und die übrigen Geschöpfe, die jetzt in einer gefallenen Welt noch unter der Sünde leiden und ängstlich auf Erlösung harren, werden dann mit-erlöst sein. So wahr uns die Sünden jetzt schon auf Erden gelöst sind durch Gottes Wort, so wahr werden wir im Himmel den Fluch der Sünde völlig los sein. So wahr Gottes Wille jetzt schon auf Erden geschieht, wo sein Wort gepredigt und danach gelebt wird, so wahr wird sein Erlösungswille an uns im Himmel zum Ziel führen. Wenn du dir also Sorgen machst um dein Altwerden oder dein dein Altsein, dein Sterben und das Heil deiner Seele, dann denke daran, dass der Herr Jesus Christus auch der Herr über den Tod ist und dass er sein Erlösungswerk auch an dir zum Ziel bringen will. Vertraue ihm deine Ängste, Sorgen und Zweifel im Gebet an – er wird hören und helfen.
Ja, es sind in der Tat schwere und tiefe Gedanken, die Paulus hier kraft des Heiligen Geistes ausspricht. Wir können sie wohl nicht in ihrer ganzen Tiefe erfassen, schon gar nicht im Rahmen einer kurzen Predigt, wir müssen viel vom Geheimnis Christi einfach unbegriffen stehen lassen; wir können es nur staunend anbeten. Aber bei aller Begrenztheit unserer Erkenntnis sehen wir in diesen Worten doch eines ganz leuchtend klar, und das wollen wir mitnehmen und in unseren Herzen bewegen: Jesus ist der Größte, der Herr über die Schöpfung, der Herr über die Kirche, der Herr über den Tod. Ja, er ist Herr und König über alles – ihm sei Lob und Ehre in Ewigkeit! Amen.
PREDIGTKASTEN |