Gottes Straßendienst

Predigt über Jesaja 62,6a.10 zum Reformationstag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

„Nun freut euch, lieben Christen gemein, und lasst uns fröhlich springen!“, so dichtete Martin Luther vor fünfhundert Jahren. Dieselbe Freude dürfen wir heute noch haben und dürfen fröhlich die Straße entlang­springen, die zu Gottes Stadt führt. Gott setzt in seiner großen Liebe und Geduld immer wieder seinen Straßen­dienst ein, damit wir Zugang haben zu seiner Stadt. Er sorgt für Wegweiser, er lässt Löcher ausfüllen und Steine wegräumen. Auch durch Martin Luther und seine Mit-Reforma­toren hat er es getan. Ja, wir dürfen fröhlich diese Straße entlang­springen und brauchen uns nicht zu sorgen, dass wir uns verirren. Wir brauchen keine Angst zu haben vor Schlag­löchern und Stolper­steinen. Was hat es aber nun auf sich mit Gottes Stadt, mit dem Weg dorthin und mit dem Straßen­dienst, der diesen Weg instand hält?

Die Stadt ist das geistliche Jerusalem: Gottes Stadt ist heute überall da, wo Gott sich mit seiner Liebe und Gnade zeigt. Diese Stadt heißt auch „Zion“, „Reich Gottes“ oder „Himmel­reich“. In dieser Stadt herrscht Frieden. Niemand will dem anderen etwas Böses, niemand streitet. In dieser Stadt herrscht Freude. In allen Straßen singt man Loblieder, aus allen Häusern tönt Lachen, an allen Ecken stehen die Menschen fröhlich beisammen. In dieser Stadt herrscht Liebe. Jeder ist für den anderen da, und jeder freut sich über den anderen. Gott ist der Herr dieser Stadt. Sein Friede, seine Freundlich­keit und seine Liebe strahlen wie Sonnenlicht in dieser Stadt.

Gott lädt alle Menschen in seine Stadt ein. Alle möchte er bei sich haben. Alle sollen sich in dieser Stadt wohlfühlen und freuen. Gott hat keine Angst, dass es zu viele werden oder dass seine Stadt überfremdet wird von Menschen, die von weit herkommen. Alle sind willkommen.

Wie aber kommt man in diese Stadt? Nur ein Weg führt dorthin. Und dieser Weg heißt Jesus Christus. Es ist Gottes Sohn, der von sich sagte: „Ich bin der Weg“ (Joh. 14,6). Wie aber können Menschen den Weg in diese Stadt finden, und wie können sie darauf gehen? Dazu setzt Gott seinen Straßen­dienst ein. Er tat es immer wieder in der Geschichte der Menschen. Im Buch des Propheten Jesaja werden diejenigen, die diese Arbeit tun, „Wächter“ genannt. Gott spricht: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen.“ Verkündigen sollen sie, diese Wächter, einladen, oder (bildlich gesprochen) den Weg zur Stadt bereiten. Gott sagt ihnen nämlich: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“

Ich sehe im Geiste die ersten Wächter diesen Weg ab­schreiten, den ältesten Straßen­dienst Gottes. Es sind die Propheten aus alt­testament­licher Zeit. Ich sehe da einen Jeremia vor mir, einen Micha, einen Jesaja und wie sie alle heißen. An sie ergeht Gottes Ruf: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore!“ Ja, sie selbst sind auch in die heilige Stadt geladen, sie sollen nicht draußen bleiben. Vielmehr sollen sie den anderen Menschen vorangehen und ein Beispiel geben. Und so haben sie es auch getan. Sie haben es getan, indem sie Gott vertrauten, indem sie bei ihm und bei seinem Wort Trost und Geborgen­heit fanden. Jeremia hatte wohl wie kaum ein anderer zu leiden. Aber er nahm immer wieder Zuflucht bei Gott im Gebet und konnte bekennen: „Dein Wort ward meine Speise, so oft ich's empfing“ (Jer. 15,16). An die Propheten erging auch der Ruf: „Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg!“ Ja, sie sollten den Weg ebnen, damit die Menschen ihrer Zeit zur Stadt gehen können. Da gab es genug Schlag­löcher und Steine, die zum Verhängnis wurden: verhärtete Herzen zum Beispiel, die nicht auf Gott vertrauten, oder fremde Götter, die zum Abfall verführten. Darum riefen die Propheten zur Buße, zur Abkehr vom Eigensinn und Götzen­dienst, zur Hinwendung zu Gott. Und an die Propheten erging auch der Ruf: „Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ Ja, mit ihren Weis­sagungen über das Kommen des Erlösers sollten sie einen Wegweiser aufstellen hin zu dem einzigen Weg – hin zu dem, der sagte: „Ich bin der Weg.“ Gott sei Lob und Dank für dieses großartige Zeugnis!

Ich sehe im Geiste die nächsten Wächter diesen Weg ab­schreiten, die nächste Abteilung von Gottes Straßen­dienst. Es sind die Apostel, die ersten Jünger unseres Herrn Jesus Christus. Ich sehe da einen Matthäus vor mir, einen Simon Petrus, einen Apostel Paulus und wie sie alle heißen. Auch an sie erging Gottes Ruf: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore!“ Ja, zuerst durften sie selbst die heilige Stadt betreten, durften unmittelbar den Beginn von Gottes Reich erleben: Sie waren Tag und Nacht mit Jesus zusammen, hörten sein Wort, erlebten die Zeichen seiner Herrlich­keit, wurden unter seiner Gegenwart zur Gemeinde. Matthäus, der ehemalige Zöllner, durfte aus einem Leben voll Sünde und Betrug heraus­treten, durfte die Sündenlast hinter sich lassen und in Gottes Reich eintreten: Jesus hatte ihn ja in die Nachfolge gerufen und ihm damit alle Schuld vergeben. Und als die Apostel nach Jesu Auf­erstehung als Boten ausgesandt wurden, da galt ihnen das Wort: „Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg!“ Jesus, der Weg in Gottes Stadt, war ja nun erschienen; und doch galt es Hindernisse zu beseitigen, Schlag­löcher zu füllen und Steine weg­zuräumen, damit die Menschen auch fröhlich auf diesem Weg gehen konnten. Da räumte zum Beispiel Paulus mit Wortgewalt den mächtigen Klotz der Werk­gerechtig­keit aus dem Weg, nämlich den gefähr­lichen Irrtum, man müsse sich durch die Erfüllung der Gebote den Zugang zu Gottes Stadt sauer verdienen. „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben, setzte Paulus dagegen (Römer 3,28). Und die Apostel beherzigten auch diese Anweisung Gottes an seinen Straßen­dienst: „Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ Sie taten alles, um die gute Nachricht von Jesus unter allen Nationen und Voksgruppen zu verbreiten. Sie setzten dafür sogar ihr Leben aufs Spiel. Und so richteten sie für Unzählige einen Wegweiser auf für den Weg zum Reich Gottes. Wie herrlich hat Gott das alles gemacht! Wie wunderbar hat er alles gefügt, dass Menschen nach Jerusalem finden!

Ich sehe im Geiste weitere Wächter diesen Weg ab­schreiten, weitere Straßen­arbeiter Gottes. Sie tun es den Propheten und Aposteln nach. Es sind all diejenigen, die das Wort der Propheten und Apostel, das Wort der Heiligen Schrift, weiter­gesagt haben und noch heute weiter­sagen. Ich sehe Priester und Bischöfe, Prediger und Pastoren, dazu viele andere, die einfach nicht schweigen können, weil ihr Herz voller Freude ist. Und ich sehe unter ihnen Martin Luther mit den anderen Reforma­toren, mit Philipp Melanchthon zum Beispiel oder mit Johannes Bugenhagen. Sie wurden in eine Zeit hinein­geboren, in der die Straße in einem ver­wahrlosten Zustand war: Schlag­löcher und Stolper­steine gab es da jede Menge, und die Wegweiser waren verschmutzt und zu­gewachsen, kaum noch lesbar. Ja, das war der beklagens­werte Zustand der mittel­alter­lichen Kirche: das Evangelium war unter mancherlei Irrglauben und Aberglauben ver­schüttet, unter Gesetzlich­keit und kirchlichen Macht­kämpfen. Die Straße, die zu Gottes Stadt führt, musste dringend aus­gebessert werden, dringend renoviert werden, dringend reformiert werden. Und Gott in seiner großen Güte schenkte die Re­formation; sie ist sein Werk: Er selbst sandte Luther und seine Mitstreiter als Wächter und Straßen­dienst aus. „Gehet ein, gehet einen durch die Tore!“, lud er sie zunächst ein, selbst ins Reich Gottes zurück­zufinden. Martin Luther fand diesen Weg durch fleißiges Studium der Bibel. Geplagt von seinem Gewissen und von Höllen­ängsten, fand er den gnädigen Gott in Jesus Christus, fand das Evangelium „allein aus Gnade“ und „allein durch den Glauben“, fand den Weg in Gottes Stadt und das offene Stadttor. Und dann räumte er gründlich auf, damit auch andere den Weg wieder­fänden. „Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg!“ – diesem Auftrag Gottes kam Luther nach. Er schüttete das Schlagloch des Ablass­handels zu. Er räumte den Stolper­stein hinweg, der aus dem Macht­anspruch des Papstes und der Bischöfe bestand. „Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ – auch dies taten die Re­formatoren: Furchtlos bekannten sie sich zu Christus und zum Evangelium der Apostel und Propheten. In alle Welt wurde das Augsburger Bekenntnis verbreitet, das, verfasst von Me­lanchthon, ein mächtiger und deutlicher Wegweiser ist für den Weg Christus hin zu Gottes Stadt. Ja, Gott hat sich mit der Reformation über uns erbarmt und den Weg freiräumen lassen, dass man nun wieder fröhlich dem Vaterhaus entgegen­springen kann. Wie gut er es doch mit uns meint!

Ich sehe schließlich uns Heutige diesen Weg ab­schreiten, uns Pastoren und dazu die ganze Christen­heit unserer Tage, die von Gott zum Straßen­dienst gerufen ist. Ich habe dabei auch besonders unsere kleine lutherische Kirche im Blick, der, zusammen mit dem Bekenntnis­luthertum in der Welt, Großes anvertraut ist. „Gehet ein, gehet ein durch die Tore!“, sagt Gott auch uns. Ja, treten wir auf den Weg Jesus Christus, der in Gottes Stadt führt! Vertrauen wir uns ihm ganz an! Tun wir es täglich! Der Weg ist bereit, das Stadttor steht weit offen, Gott wartet auf uns. Wir brauchen uns um nichts zu sorgen, wir brauchen nicht nach dem Preis zu fragen, wir können ganz einfach zum Vater kommen auf diesem Weg. Aber wenn wir nun fröhlich springend unterwegs sind und wenn wir dann einen Stolper­stein entdecken oder ein Schlagloch oder einen ver­schmutzten Wegweiser, so wollen wir uns gern von Gott einsetzen lassen: „Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ Da gibt es einen großen Stolper­stein in unserer Zeit, das ist die Kritik an der Bibel. Viele Menschen, auch viele Theologen, glauben nicht mehr, dass all ihre Aussagen Gottes Wort sind, völlig wahrhaftig und ver­lässlich, ohne jeden Irrtum. Da gibt es ein tiefes Schlagloch, das ist das Ver­schweigen von Sünde und Vermeiden von Buße. Wer seine Sünde nicht erkennt und wer nicht zur Buße bereit ist, der findet auch seinen Heiland nicht, der kommt nicht ans Ziel. Und da gibt es manchen verdreckten und zu­gewucherten Wegweiser. Da wird über Gott und die Welt gepredigt, da mischt man sich in politische und andere Fragen unserer Zeit ein, aber Christus als der eine Weg in Gottes Reich muss dahinter zurück­stehen. Ja, wir wollen uns hier senden lassen: Das Schild zum Weg Christus soll hell erstrahlen durch unser Reden und Tun, und den Weg wollen wir nach Kräften von Hinder­nissen befreien, damit viele ihn gehen können, damit viele fröhlich und unbeschwert mitspringen können – ohne Sorge, sich zu verirren, ohne Angst vor Schlag­löchern und Stolper­steinen. „Nun freut euch, lieben Christen gemein, und lasst und fröhliche springen!“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1989.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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