Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Was bedeutet eigentlich „Opfer“? Wenn ein Kind seiner Mutter ein wertvolles Geburtstagsgeschenk kauft, dann sagt die Mutter vielleicht: Da hast du wohl dein ganzes Taschengeld geopfert! Mit „opfern“ meint sie eine uneigennützige Tat, zu der das Kind sich freiwillig überwunden hat. Dieser alltägliche Gebrauch des Wortes „Opfer“ hat mit dem biblischen Begriff allerdings wenig zu tun. Ich hoffe, dass auch keiner das Dankopfer der Kollekte so versteht, als müsste man sich erst dazu überwinden und als täte es einem im Stillen doch ein bisschen leid um den Schein. Das Opfer im biblischen Sinn hat auch nichts mit heidnischen Opfern zu tun. Heiden wollen mit ihren Opfern die Götter in gute Laune bringen, damit sie einen beschützen und beschenken. Mag sein, dass mancher Zeitgenosse aus demselben Grund Gutes tut und für kirchliche oder mildtätige Zwecke spendet – als kleine Rückversicherung gewissermaßen, falls am lieben Gott doch was dran sein sollte, damit er auch wirklich lieb ist.
In der Bibel bedeutet „Opfer“ etwas anderes, und das wollen wir jetzt näher betrachten. Luthers enger Mitarbeiter Philipp Melanchthon hat in der Apologie des Augsburger Bekenntnisses geschrieben: „Was Opfer und was nicht Opfer ist, dies ist nützlich und gut allen Christen zu wissen.“ Das steht immerhin in einer lutherischen Bekenntnisschrift! Im weiteren Verlauf dieses 24. Artikels unterscheidet Melanchthon dann zwei Hauptgruppen von Opfern im biblischen Sinn: erstens Versühnopfer, zweitens Dankopfer.
Was ist ein Versühnopfer? Man kann es sich mit Schulden klarmachen. Wenn ein Mensch gegen Gottes Willen verstößt, dann trägt er Gott gegenüber eine Schuld, dann hat er sozusagen Schulden bei Gott. Diese Schulden müssen bezahlt werden. Aber wie können sie bezahlt werden? Durch ein Opfer – näml ich durch ein Versühnopfer. Ein Versühnopfer ist Schuldentilgung bei Gott. Melanchthon schreibt dazu: „Durch dieses Opfer wird genug getan für Pein und Schuld, Gottes Zorn gestillt und versühnt, und Vergebung der Sünden erlangt.“
Nun gibt es in Wahrheit nur ein einziges solches Versühnopfer auf der ganzen Welt, ein einziges für alle Zeiten, das ist das Opfer Jesu am Kreuz. Christus ist das Gotteslamm, das die Sünden der ganzen Welt auf sich genommen hat durch seinen Tod. Jesus allein hat die Schuldsumme erworben, mit der alle Schulden beim himmlischen Vater bezahlt werden können; Jesus allein konnte es. Er ist das einzige Versühnopfer, das es gibt. So steht es auch im Hebräerbrief, in unserem Textwort: „Wir sind geheiligt ein für allemal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi.“
Nun ist aber im Alten Testament auch von Tieropfern zur Entsündigung die Rede. Was für eine Bedeutung haben die neben dem Opfer Jesu? Der Hebräerbrief macht mit wortreichen Erklärungen deutlich, dass all diese Tieropfer nur zeichenhaft das Opfer Jesu angekündigt haben. Darum heißt Jesus das „Lamm Gottes“. Die Tieropfer des Alten Testaments waren keine eigenständigen Versühnopfer, sondern sie verkündigten den Gläubigen vor Christus die Vergebung der Sünden, die Christus dann durch seinen Tod erworben hat. Mit dem Karfreitag hatten die Opfer des Alten Bundes und damit der ganze Tempelkult ihre Bedeutung verloren. Gott zeigte das an, indem er just zur Todesstunde des Herrn den Vorhang im Tempelheiligtum zerreißen ließ. Nicht die Tieropfer des Alten Testaments waren somit Gottes letzter und eigentlicher Wille zur Vergebung der Sünden, sondern das Opfer Christi am Kreuz. Deshalb lesen wir im Hebräerbrief: „Nach diesem Willen sind wir geheiligt ein für allemal durch das Opfer des Leibes Jesu.“
Ebensowenig wie es vor dem Tod Christi ein wirkliches Versühnopfer gab, kann es danach eines geben; das ist ganz klar. Aber unsere menschliche Natur kann uns hier einen Streich spielen. Schnell kann sich bei uns der Gedanke einschleichen: Gott, ich tu dies und das für dich, und dann wirst du mir wohl die Schuld vergeben und gnädig sein. Wir haben die unselige Neigung, dass wir uns bei Gott die Schulden von niemand anderem bezahlen lassen wollen und dass wir allerlei Anstrengungen unternehmen, sie selbst zu bezahlen. Allerdings sind das vergebliche Anstrengungen.
Wie gesagt, so etwas schleicht sich schnell ein, gerade auch bei sogenannten guten Christen. Zum Beispiel ist es ganz gefährlich, den Gottesdienstbesuch oder den Abendmahlsgang als eine Leistung anzusehen, mit der man seine Schuld bei Gott begleichen könnte. Leider fördert die römisch-katholische Kirche mit ihrer Lehre vom Messopfer diesen Irrtum, und das ist neben anderen der entscheidende Grund, warum wir bei aller Liebe zur Ökumene mit der römisch-katholischen Kirche keine offizielle Kirchengemeinschaft haben. Die katholische Kirche lehrt bis heute, dass im Abendmahl das Opfer Jesu unblutig wiederholt werde und als solches, das heißt als neu wiederholtes Versühnopfer, Vergebung der Sünden bewirke – sogar noch nachträglich für Verstorbene in der sogenannten Totenmesse. Luther, Melanchthon und die anderen Reformatoren verwarfen diese unbiblische Lehre, und das hat in unseren Bekenntnisschriften seinen Niederschlag gefunden.
Der 24. Artikel des Augsburger Bekenntnisses trägt die Überschrift: „Von der Messe“. Damit ist die Feier des Heiligen Abendmahls gemeint. Wir sehen: Am Begriff „Messe“ ist an sich nichts Anrüchiges, er wird ja hier und anderswo in unseren Bekenntnisschriften verwendet. Im 24. Artikel des Augsburger Bekenntnisses heißt es: „Zweifellos ist eine Unterweisung notwendig, damit alle wissen, wie das Sakrament recht zu gebrauchen ist. Erstens: Die Heilige Schrift bezeugt an vielen Stellen, dass es kein anderes Opfer für die Erbsünde und für alle anderen Sünden gibt als allein den Tod Christi. Denn es steht im Hebräerbrief, dass sich Christus ein für allemal geopfert und dadurch für alle Sünden genug getan hat.“ Damit wird Bezug genommen auf unser Textwort: „Wir sind geheiligt ein für allemal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi.“ Weiter heißt es im Augsburger Bekenntnis: „Zweitens: Paulus lehrt, dass wir vor Gott Gnade durch den Glauben und nicht durch Werke erlangen. Im Gegensatz dazu ist es ein offenbarer Missbrauch der Messe, wenn man meint, durch dieses Werk Gnade zu erreichen.“ In der Bibel bezeichnen „Werke“ immer reliöse Eigenleistung. Der Gottesdienst und das Abendmahl werden als solche Eigenleistungen missverstanden, wenn man sie als Versühnopfer ansieht. Und schließlich heißt es im Augsburger Bekenntnis: „Drittens: Das heilige Sakrament ist nicht dazu eingesetzt, um ein Opfer für die Sünden darzubringen, denn dieses Opfer ist bereits geschehen, sondern dazu, dass unser Glaube dadurch erweckt und die Gewissen getröstet werden. So erfahren sie durch das Sakrament, dass ihnen durch Christus Gnade und Vergebung der Sünden zugesagt sind. Deshalb fordert dieses Sakrament Glauben und wird ohne Glauben vergeblich gebraucht.“ Ein Sakrament ist etwas anderes als ein Opfer – das macht Melanchthon denn auch ergänzend in der Apologie deutlich, in der Verteidigungsschrift des Augsburger Bekenntnisses. Kurz, das ist das wunderbare am Abendmahl: dass es uns den Glauben erweckt – den Glauben nämlich an das einmalige Versühnopfer Christi, und dass wir durch diesen Zuspruch, diese Zueignung der Gnade reich getröstet werden.
Soweit vom Sakrament und von Christi einmaligem Versühnopfer. Die andere Art Opfer ist das Dankopfer. Dankopfer werden Gott von all denen dargebracht, die durch das Versühnopfer mit dem himmlischen Vater versöhnt sind. Das sind die Heiligen, zu denen wir auch gehören, die wir getauft sind und an Jesus glauben. Heilige sind wir deshalb, weil das Versühnopfer Christi uns dazu gemacht hat, wie wir im Hebräerbrief lesen: „Wir sind geheiligt ein für allemal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi.“ „Heilig“ heißt „zu Gott gehörend“, und zu dem gehören wir ja um Christi Opfer willen.
Wo wir nun Heilige sind und Glauben haben, da bringt dieser Glaube auch Früchte. Denn der Glaube sitzt nicht faul hinter dem Ofen, sondern er ist ein „geschäftig Ding“, wie Luther sagte. Alles, was nun aus dem Glauben heraus getan wird, also alle Früchte des Glaubens, sind Dankopfer. Alles, was aus dem Glauben heraus getan wird, wird aus Freude und Dank für den Allmächtigen getan. Die Kollekte am Ausgang und der Kirchbeitrag sind solche Dankopfer; sie werden aus Freude und Dank an Gott gegeben, der uns erlöst hat; jedenfalls sollen sie aus keinem anderen Grund gegeben werden. Auch unsere Antwort auf Gottes Wort und Sakrament, nämlich unser Singen, Beten und Loben, ist ein Dankopfer. „Dankbare Lieder sind Weihrauch und Widder“, dichtete Paul Gerhardt. So ist auch ein großer Teil unserer Gottesdienst-Liturgie ein Dankopfer des Glaubens. Und weil uns ja gerade im Heiligen Abendmahl das einmalige Sühnopfer Christi so deutlich vor Augen geführt wird, ist die Abendmahlsfeier von besonders reichhaltiger Liturgie umrahmt, also von einem besonders reichhaltigen Dankopfer. Vielleicht denkt mancher: Warum muss das bloß so lange dauern mit der Abendmahlsliturgie, das könnte man doch auch viel kürzer machen! Man könnte schon, aber man will nicht, denn wer an Christus glaubt, der will Gott doch reichlich danken für seine großartigen Gaben!
Aber nicht nur Kollekte und Liturgie, sondern das ganze Christenleben soll ein Dankopfer sein, ein Leben aus dem Glauben an Jesus Christus heraus. Die tägliche Arbeit, ein liebes Wort, jedes Werk der Nächstenliebe ist Dankopfer, wenn es aus gläubigem Herzen kommt. Und sage keiner, diese Dankopfer seien dem Singen und Beten untergeordnet. Jesus sagte in der Bergpredigt ganz deutlich: „Wenn du deine Gabe opferst (gemeint ist das Dankopfer im Gottesdienst), und dir fällt ein, dass dein Bruder mit dir böse ist, dann geh erstmal hin und versöhne dich mit deinem Bruder“ (Matth. 5,23‑24). Vom Abendmahl steht da nichts, es ist also nicht nur der Lobpreis in der Abendmahlsliturgie gemeint, sondern jeder Gottesdienst. Also: Ein rechtes und Gott wohlgefälliges Dankopfer ist es, mit den Mitmenschen in Frieden zu leben, soweit wir das können. Übrigens sagte Jesus nicht: Wenn du Streit hast, dann bleibe weg vom Altar, sondern er sagte: Geh hin, versöhne dich, und dann komm wieder an den Altar!
Soweit unsere kleine Betrachtung über das Opfer. Ich denke, wir alle merken, wie hilfreich es ist, sich das einfach einmal vor Augen zu stellen. Wir werden dann mit neuer Freude und Dankbarkeit erfüllt über das einmalige, einzigartige Sühnopfer des Gotteslammes Jesus Christus. Und wir bekommen neue Freudigkeit, unser ganzes Leben dem Herrn zum Dankopfer zu weihen. Amen.
PREDIGTKASTEN |