Vom Opfer

Predigt über Hebräer 10,10 zum Sonntag Judika

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Was bedeutet eigentlich „Opfer“? Wenn ein Kind seiner Mutter ein wertvolles Geburtstags­geschenk kauft, dann sagt die Mutter vielleicht: Da hast du wohl dein ganzes Taschengeld geopfert! Mit „opfern“ meint sie eine un­eigen­nützi­ge Tat, zu der das Kind sich freiwillig überwunden hat. Dieser alltägliche Gebrauch des Wortes „Opfer“ hat mit dem biblischen Begriff allerdings wenig zu tun. Ich hoffe, dass auch keiner das Dankopfer der Kollekte so versteht, als müsste man sich erst dazu überwinden und als täte es einem im Stillen doch ein bisschen leid um den Schein. Das Opfer im biblischen Sinn hat auch nichts mit heidnischen Opfern zu tun. Heiden wollen mit ihren Opfern die Götter in gute Laune bringen, damit sie einen beschützen und beschenken. Mag sein, dass mancher Zeitgenosse aus demselben Grund Gutes tut und für kirchliche oder mildtätige Zwecke spendet – als kleine Rück­versiche­rung gewisser­maßen, falls am lieben Gott doch was dran sein sollte, damit er auch wirklich lieb ist.

In der Bibel bedeutet „Opfer“ etwas anderes, und das wollen wir jetzt näher betrachten. Luthers enger Mitarbeiter Philipp Melanchthon hat in der Apologie des Augsburger Bekennt­nisses ge­schrieben: „Was Opfer und was nicht Opfer ist, dies ist nützlich und gut allen Christen zu wissen.“ Das steht immerhin in einer luthe­rischen Bekenntnis­schrift! Im weiteren Verlauf dieses 24. Ar­tikels unter­scheidet Melanchthon dann zwei Haupt­gruppen von Opfern im biblischen Sinn: erstens Versühn­opfer, zweitens Dankopfer.

Was ist ein Versühn­opfer? Man kann es sich mit Schulden klarmachen. Wenn ein Mensch gegen Gottes Willen verstößt, dann trägt er Gott gegenüber eine Schuld, dann hat er sozusagen Schulden bei Gott. Diese Schulden müssen bezahlt werden. Aber wie können sie bezahlt werden? Durch ein Opfer – näml ich durch ein Versühn­opfer. Ein Versühn­opfer ist Schulden­tilgung bei Gott. Melanchthon schreibt dazu: „Durch dieses Opfer wird genug getan für Pein und Schuld, Gottes Zorn gestillt und versühnt, und Vergebung der Sünden erlangt.“

Nun gibt es in Wahrheit nur ein einziges solches Versühn­opfer auf der ganzen Welt, ein einziges für alle Zeiten, das ist das Opfer Jesu am Kreuz. Christus ist das Gotteslamm, das die Sünden der ganzen Welt auf sich genommen hat durch seinen Tod. Jesus allein hat die Schuldsumme erworben, mit der alle Schulden beim himmlischen Vater bezahlt werden können; Jesus allein konnte es. Er ist das einzige Versühn­opfer, das es gibt. So steht es auch im Hebräer­brief, in unserem Textwort: „Wir sind geheiligt ein für allemal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi.“

Nun ist aber im Alten Testament auch von Tieropfern zur Ent­sündigung die Rede. Was für eine Bedeutung haben die neben dem Opfer Jesu? Der Hebräer­brief macht mit wortreichen Erklärungen deutlich, dass all diese Tieropfer nur zeichenhaft das Opfer Jesu angekündigt haben. Darum heißt Jesus das „Lamm Gottes“. Die Tieropfer des Alten Testaments waren keine eigen­ständigen Versühn­opfer, sondern sie ver­kündigten den Gläubigen vor Christus die Vergebung der Sünden, die Christus dann durch seinen Tod erworben hat. Mit dem Karfreitag hatten die Opfer des Alten Bundes und damit der ganze Tempelkult ihre Bedeutung verloren. Gott zeigte das an, indem er just zur Todesstunde des Herrn den Vorhang im Tempel­heiligtum zerreißen ließ. Nicht die Tieropfer des Alten Testaments waren somit Gottes letzter und eigent­licher Wille zur Vergebung der Sünden, sondern das Opfer Christi am Kreuz. Deshalb lesen wir im Hebräer­brief: „Nach diesem Willen sind wir geheiligt ein für allemal durch das Opfer des Leibes Jesu.“

Ebensowenig wie es vor dem Tod Christi ein wirkliches Versühn­opfer gab, kann es danach eines geben; das ist ganz klar. Aber unsere menschliche Natur kann uns hier einen Streich spielen. Schnell kann sich bei uns der Gedanke ein­schleichen: Gott, ich tu dies und das für dich, und dann wirst du mir wohl die Schuld vergeben und gnädig sein. Wir haben die unselige Neigung, dass wir uns bei Gott die Schulden von niemand anderem bezahlen lassen wollen und dass wir allerlei An­strengungen unter­nehmen, sie selbst zu bezahlen. Allerdings sind das vergebliche An­strengun­gen.

Wie gesagt, so etwas schleicht sich schnell ein, gerade auch bei sogenannten guten Christen. Zum Beispiel ist es ganz gefährlich, den Gottes­dienst­besuch oder den Abendmahls­gang als eine Leistung anzusehen, mit der man seine Schuld bei Gott begleichen könnte. Leider fördert die römisch-katholische Kirche mit ihrer Lehre vom Messopfer diesen Irrtum, und das ist neben anderen der ent­scheidende Grund, warum wir bei aller Liebe zur Ökumene mit der römisch-katholi­schen Kirche keine offizielle Kirchen­gemein­schaft haben. Die katholische Kirche lehrt bis heute, dass im Abendmahl das Opfer Jesu unblutig wiederholt werde und als solches, das heißt als neu wieder­holtes Versühn­opfer, Vergebung der Sünden bewirke – sogar noch nach­träglich für Verstorbene in der sogenannten Totenmesse. Luther, Melanchthon und die anderen Re­formatoren verwarfen diese unbiblische Lehre, und das hat in unseren Be­kenntnis­schriften seinen Nieder­schlag gefunden.

Der 24. Ar­tikel des Augsburger Bekennt­nisses trägt die Über­schrift: „Von der Messe“. Damit ist die Feier des Heiligen Abendmahls gemeint. Wir sehen: Am Begriff „Messe“ ist an sich nichts Anrüchiges, er wird ja hier und anderswo in unseren Bekenntnis­schriften verwendet. Im 24. Ar­tikel des Augsburger Be­kenntnis­ses heißt es: „Zweifellos ist eine Unter­weisung notwendig, damit alle wissen, wie das Sakrament recht zu gebrauchen ist. Erstens: Die Heilige Schrift bezeugt an vielen Stellen, dass es kein anderes Opfer für die Erbsünde und für alle anderen Sünden gibt als allein den Tod Christi. Denn es steht im Hebräer­brief, dass sich Christus ein für allemal geopfert und dadurch für alle Sünden genug getan hat.“ Damit wird Bezug genommen auf unser Textwort: „Wir sind geheiligt ein für allemal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi.“ Weiter heißt es im Augsburger Bekenntnis: „Zweitens: Paulus lehrt, dass wir vor Gott Gnade durch den Glauben und nicht durch Werke erlangen. Im Gegensatz dazu ist es ein offenbarer Missbrauch der Messe, wenn man meint, durch dieses Werk Gnade zu erreichen.“ In der Bibel bezeichnen „Werke“ immer reliöse Eigen­leistung. Der Gottes­dienst und das Abendmahl werden als solche Eigen­leistungen miss­verstanden, wenn man sie als Versühn­opfer ansieht. Und schließlich heißt es im Augsburger Bekenntnis: „Drittens: Das heilige Sakrament ist nicht dazu eingesetzt, um ein Opfer für die Sünden dar­zubringen, denn dieses Opfer ist bereits geschehen, sondern dazu, dass unser Glaube dadurch erweckt und die Gewissen getröstet werden. So erfahren sie durch das Sakrament, dass ihnen durch Christus Gnade und Vergebung der Sünden zugesagt sind. Deshalb fordert dieses Sakrament Glauben und wird ohne Glauben vergeblich gebraucht.“ Ein Sakrament ist etwas anderes als ein Opfer – das macht Melanchthon denn auch ergänzend in der Apologie deutlich, in der Ver­teidigungs­schrift des Augsburger Be­kenntnis­ses. Kurz, das ist das wunderbare am Abendmahl: dass es uns den Glauben erweckt – den Glauben nämlich an das einmalige Versühn­opfer Christi, und dass wir durch diesen Zuspruch, diese Zueignung der Gnade reich getröstet werden.

Soweit vom Sakrament und von Christi einmaligem Versühn­opfer. Die andere Art Opfer ist das Dankopfer. Dankopfer werden Gott von all denen dar­gebracht, die durch das Versühn­opfer mit dem himmlischen Vater versöhnt sind. Das sind die Heiligen, zu denen wir auch gehören, die wir getauft sind und an Jesus glauben. Heilige sind wir deshalb, weil das Versühn­opfer Christi uns dazu gemacht hat, wie wir im Hebräer­brief lesen: „Wir sind geheiligt ein für allemal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi.“ „Heilig“ heißt „zu Gott gehörend“, und zu dem gehören wir ja um Christi Opfer willen.

Wo wir nun Heilige sind und Glauben haben, da bringt dieser Glaube auch Früchte. Denn der Glaube sitzt nicht faul hinter dem Ofen, sondern er ist ein „geschäftig Ding“, wie Luther sagte. Alles, was nun aus dem Glauben heraus getan wird, also alle Früchte des Glaubens, sind Dankopfer. Alles, was aus dem Glauben heraus getan wird, wird aus Freude und Dank für den All­mächtigen getan. Die Kollekte am Ausgang und der Kirch­beitrag sind solche Dankopfer; sie werden aus Freude und Dank an Gott gegeben, der uns erlöst hat; jedenfalls sollen sie aus keinem anderen Grund gegeben werden. Auch unsere Antwort auf Gottes Wort und Sakrament, nämlich unser Singen, Beten und Loben, ist ein Dankopfer. „Dankbare Lieder sind Weihrauch und Widder“, dichtete Paul Gerhardt. So ist auch ein großer Teil unserer Gottes­dienst-Liturgie ein Dankopfer des Glaubens. Und weil uns ja gerade im Heiligen Abendmahl das einmalige Sühnopfer Christi so deutlich vor Augen geführt wird, ist die Abendmahls­feier von besonders reich­haltiger Liturgie umrahmt, also von einem besonders reich­haltigen Dankopfer. Vielleicht denkt mancher: Warum muss das bloß so lange dauern mit der Abendmahls­liturgie, das könnte man doch auch viel kürzer machen! Man könnte schon, aber man will nicht, denn wer an Christus glaubt, der will Gott doch reichlich danken für seine großartigen Gaben!

Aber nicht nur Kollekte und Liturgie, sondern das ganze Christen­leben soll ein Dankopfer sein, ein Leben aus dem Glauben an Jesus Christus heraus. Die tägliche Arbeit, ein liebes Wort, jedes Werk der Nächsten­liebe ist Dankopfer, wenn es aus gläubigem Herzen kommt. Und sage keiner, diese Dankopfer seien dem Singen und Beten unter­geordnet. Jesus sagte in der Bergpredigt ganz deutlich: „Wenn du deine Gabe opferst (gemeint ist das Dankopfer im Gottes­dienst), und dir fällt ein, dass dein Bruder mit dir böse ist, dann geh erstmal hin und versöhne dich mit deinem Bruder“ (Matth. 5,23‑24). Vom Abendmahl steht da nichts, es ist also nicht nur der Lobpreis in der Abendmahls­liturgie gemeint, sondern jeder Gottes­dienst. Also: Ein rechtes und Gott wohl­gefälliges Dankopfer ist es, mit den Mitmenschen in Frieden zu leben, soweit wir das können. Übrigens sagte Jesus nicht: Wenn du Streit hast, dann bleibe weg vom Altar, sondern er sagte: Geh hin, versöhne dich, und dann komm wieder an den Altar!

Soweit unsere kleine Betrachtung über das Opfer. Ich denke, wir alle merken, wie hilfreich es ist, sich das einfach einmal vor Augen zu stellen. Wir werden dann mit neuer Freude und Dankbarkeit erfüllt über das einmalige, einzig­artige Sühnopfer des Gottes­lammes Jesus Christus. Und wir bekommen neue Freudig­keit, unser ganzes Leben dem Herrn zum Dankopfer zu weihen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1989.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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