Nutze deine Chance

Predigt über Johannes 12,36 zum Letzten Sonntag nach Epiphanias

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Eine betagte Frau verbringt ihren Lebensabend im Kreis der Familie. Täglich hat sie Kinder und Enkel um sich. Die alte Dame merkt, wie ihre Kräfte abnehmen. Die Füße wollen nicht mehr so recht. Lesen kann sie nur noch große Schrift mithilfe einer Lupe – aber nicht zu lange, das strengt zu sehr an. Auch das Gehör hat nach­gelassen. Der normalen Unter­haltung kann sie nicht mehr folgen. Überhaupt ist sie durch das Alter so geschwächt, dass sie die meiste Zeit in ihrem Lehnstuhl am Ofen sitzt.

Ihr jüngster Enkelsohn geht noch zur Schule. Sie sagt ihm: Nutze deine Schulzeit! Eine so schöne Zeit kommt nicht wieder im Leben. In der Schule kannst du viele gute Sachen lernen. Auch hast du viel Zeit zum Spielen und lange Ferien. Nutze deine Schulzeit! Der Enkel kann das gar nicht verstehen. Er empfindet die Schulzeit nicht als eine besondere Chance. Er stöhnt über die Schule wie alle Alters­genossen, und die Freizeit vergeht ihm viel zu schnell.

Die ältere Enkelin studiert. Ihr sagt die alte Dame: Nutze deine Studien­zeit! In meiner Jugend war es etwas ganz Besonderes, wenn jemand studieren durfte, und für Mädchen kam das sowieso nicht in Frage. Außerdem bist du ungebunden, kannst Reisen machen, kannst die Welt entdecken. Nutze deine Studien­zeit! Die Enkelin kann das gar nicht verstehen. Das Brüten über den Büchern belastet sie. Ob sie einen ent­sprechenden Arbeits­platz finden wird, erscheint ihr fraglich.

Der Sohn der Frau, Mitte fünfzig, ist in seinem Beruf voll ein­gespannt. Seine Mutter sagt ihm: Nutze die Zeit, solange du noch arbeiten kannst! Nutze die Zeit, solange du noch gesund bist! Nutze die Zeit, solange deine Kinder noch im Haus sind! Wenn du erst mal so alt bist wie ich, musst du auf vieles verzichten. Der Sohn kann das schon ein wenig besser verstehen. Er merkt selbst, dass er nicht mehr so leistungs­fähig ist wie früher. Er sieht, dass seine Kinder Chancen haben, die er nicht hatte. Aber er ist froh, dass er noch gesund ist und arbeiten kann. Noch. Dem Ruhestand sieht er mit gemischten Gefühlen entgegen.

Liebe Brüder, liebe Schwestern, habt ihr euch in einer dieser Personen wieder­gefunden? Ihr Kinder und jungen Leute, kennt ihr das auch, dass Ältere euch gute Ratschläge für eure Lebens­situtation geben möchten? Ihr Älteren, denkt auch ihr manchmal mit etwas Wehmut an frühere Zeiten zurück, als ihr noch un­gebundener ward, noch gesünder, noch leistungs­fähiger? Denkt ihr vielleicht, ihr hättet manche Chance von damals besser nutzen sollen, ihr hättet dieses Zeit besser auskosten sollen? Und versucht ihr, den Jüngeren das klar zu machen? „Nutze den Tag“, heißt ein Sprichwort, das der römische Dichter Horaz erfand. Es gibt Zeiten und Chancen im Leben, die kommen nicht wieder, die muss man entweder sogleich nutzen, oder man hat eine Gelegenheit verpasst. Wer klug ist, erkennt die Chancen seines Lebens und nutzt sie.

Auch was das Wohlergehen unserer Seele anbetrifft, gibt es Chancen, die wir nutzen sollten. Unser Herr Jesus Christus selbst fordert uns dazu auf: „Glaubt an das Licht, solange ihr's habt“, ruft er uns zu. Was meint er mit Licht? Damit meint er sich selbst. „Ich bin das Licht der Welt“, sagte er (Joh. 8,12). „Glaubt an das Licht“, das bedeutet: Glaubt an Jesus. Was aber heißt „glauben“? Nicht nur: etwas für wahr halten. Nicht nur: Katechismus­lehren kennen und ihnen zustimmen. Nicht nur: aus Gewohnheit bestimmte christliche Rituale ab­solvieren. An Jesus Christus glauben heißt: ihn suchen, ihm nachfolgen, mit ihm leben. Die Chance dazu hat keiner von uns auf unbegrenzte Zeit; spätestens die Todesstunde ist der Schluss­pfiff. „Glaubt an das Licht, solange ihr's habt.“ Nutzt eure Chance, mit dem Herrn Jesus Christus immer enger zusammen­zuwachsen.

Wo finden wir diese Chance? Wo haben wir das Licht? Jesus selbst ist das Licht, aber wir haben nur einen zuverlässigen Zugang zu ihm: die Bibel. Nur in der Bibel können wir erfahren, wer er ist. Alle anderen Infor­mationen über ihn müssen von der Bibel abgeleitet sein, oder sie sind reine menschliche Speku­lation. Jesus erscheint uns nicht in Visionen, er redet nicht zu uns durch innere Stimmen, aber er begegnet uns in der Bibel. Da leuchtet dieses Licht, wie es schon im Psalm heißt: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, und ein Licht auf meinem Wege“ (Psalm 119,105).

Unsere große Chance besteht also darin, dass wir das Wort der Bibel haben. Vielleicht ist uns das schon viel zu selbstverständ­lich, als dass wir uns bewusst sind, was für ein großer Schatz das ist. Vielleicht geht es uns so wie dem kleinen Enkel, der die Chance seiner Schulzeit nicht recht zu schätzen weiß, oder wie der großen Enkelin, die ihr Studium gar nicht als ein besonderes Vorrecht empfindet. Vielleicht schätzen wir die Bibel viel zu gering, weil wir sie nie schmerzlich vermissen mussten, weil wir uns so ein Buch auch nie sauer zu erarbeiten brauchten oder lange darauf zu warten hatten.

Mach dir diese Chance ruhig einmal bewusst! Jeder kann sich in unserem Land eine Bibel leisten. Zu Luthers Zeit musste ein Lehrer seinen halben Jahreslohn für eine Bibel opfern. Ja, jeder kann sich in unserm Land eine Bibel kaufen. Es gibt immer noch Länder, in denen man lange nach einer Bibel suchen und fragen muss, in denen man lange darauf warten muss, ja, in denen der Kauf einer Bibel sogar verboten ist. Bei uns gibt es unzählige ver­schiedene Bibel­ausgaben: im Großdruck für schwache Augen, mit Bildern, in einfacher Sprache für Kinder oder mit Er­klärungen. Es gibt eine Fülle von Hilfs­büchern, um die Bibel zu verstehen. Jeder hat ohne Mühe die Möglich­keit, zu seinem Pastor zu gehen oder ihn anzurufen, wenn er Fragen zur Bibel hat. Was für eine große Chance, im Glauben an Jesus zu wachsen, weiter­zukommen und das Licht zu ergreifen, das Gott in unserer Welt leuchten lässt!

Nutzt du diese Chance? Hast du die Bibel auch nur ein einziges Mal ganz durch­gelesen? Liest du täglich in ihr? Studierst du in ihr, arbeitest du mit ihr? Streichst du dir Stellen an? Betest du um den Heiligen Geist, dass du alles recht verstehst? Machst du dir die Mühe, deine Fragen zu klären? Hast du Freude daran, weiter­zukommen in Gottes Wort? Nutze die Chance! „Glaubt an das Licht, solange ihr's habt!“ Es mögen Zeiten kommen, wo das Bibellesen nicht mehr so leicht geht, wo die Augen und der Verstand nicht mehr mitmachen, vielleicht auch, wo nicht mehr so leicht Bibeln zu kriegen sind.

Und ihr Kinder und jüngeren Christen, macht euch besonders eure Chancen bewusst. Ihr könnt gut Dinge aufnehmen, ihr seid das Lernen gewohnt. Es wird euch später nicht mehr so leicht fallen wie jetzt. Darum lernt fleißig aus Gottes Wort, was ihr nur lernen könnt. Lernt Bibel­stellen und Psalmen. Lernt auch gründlich den Kleinen Katechis­mus, denn da sind die wichtigsten Aussagen der Bibel zusammen­gefasst. Lernt Gesangbuch­lieder – auch in ihnen steckt Gottes Wort, das helle Licht. In den Chorälen prägt es sich nicht nur dem Verstand ein, sondern auch dem Herzen. Ihr habt eine große Chance: Ihr habt einen Kopf, in den noch was reinpasst, und Zeit zum Lernen. Seht also zu, dass etwas Gutes hineinkommt in eure Köpfe – das Beste, was ihr kriegen könnt: Gottes Wort. Ihr Eltern, ihr Paten und alle, die ihr mit Kindern und Jugend­lichen zu tun habt: Helft ihnen beim Lernen, ermuntert sie immer wieder dazu, macht auch selber mit und zeigt ihnen, was für eine großartige Chance das ist. Ihr wisst doch, wie wertvoll euch die Dinge aus Gottes Wort geworden sind, die ihr in jungen Jahren gelernt habt und jetzt noch wisst. Vielleicht denkt ihr sogar: Hätte ich damals bloß mehr gelernt! Sagt den Jüngeren das und helft ihnen, am Lernen dran­zubleiben.

Wie die Bibel und das Auswendig­lernen so ist auch die Gemeinde mit ihren Gottes­diensten eine große Chance, das Licht Christi im Glauben zu ergreifen. Hier begegnet uns der lebendige Herr, hier wird sein Wort durch die von ihm be­auftragten Boten verkündigt und hier wird das Wort durch die heiligen Sakramente Taufe und Abendmahl besonders greifbar. Aber auch hier geht es vielen wie dem kleinen Enkel und der großen Enkelin: Sie merken gar nicht, was für einen Schatz sie mit dem Gottes­dienst und mit der christ­lichen Gemeinde haben, was für eine Chance, was für eine wertvolle Gelegen­heit. Wie leicht ist es heute für uns, zu Fuß oder mit Verkehrs­mitteln zur Kirche zu kommen. Wir leben in einem Land mit Religions­freiheit, wo wir öffentlich in einem schönen Kirch­gebäude zusammen­kommen dürfen – in manchen Ländern ist das nicht erlaubt. Gott hat uns gesunde Glieder geschenkt, sodass wir unser Bett und unsere Wohnung verlassen und in sein Haus kommen können. Wissen wir das wirklich zu schätzen? Ich habe es erlebt, dass einer, der nicht kommen konnte, sich mit Tränen nach dem Heiligen Abendmahl gesehnt hat. Ja, hier bekommt der Liedvers aus unserem Gesangbuch erst seinen Sinn: „Ach wie hungert mein Gemüte, / Menschen­freund, nach deiner Güte; / ach wie pfleg ich oft mit Tränen / mich nach dieser Kost zu sehnen…“ Nutzt du deine Chance? Dankst du Gott von Herzen dafür, dass du kommen kannst? Freust du dich von Herzen darüber? Oder wird es dir oft zur lästigen Pflicht? Lässt du auch schon mal aus Bequemlich­keit einen Gottes­dienst ausfallen? Und wie steht es mit dem Abendmahl? Lässt du dich einladen, wann immer der Herr Christus ruft? Oder muss er dich erst lange bitten? Nutzt doch die Chance, die Gott euch gibt, lasst euch nicht lange bitten! Glaubt an das Licht, solange ihr's habt!

Seht: Wenn jemand alt ist und die Jüngeren dazu auffordert, die Chancen ihrer Jugend zu nutzen, dann können wir das verstehen. Aber auch wenn Menschen die Chancen ihrer Jugend nutzen, bleiben im Alter nur schöne Erinne­rungen davon übrig. Anders ist es mit Gottes Chancen: Wer die Gelegen­heiten nutzt, um im Glauben an Jesus zu reifen, der wird in Ewigkeit etwas davon haben. Christus sagt: „Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, damit ihr Kinder des Lichts werdet.“ Kinder des Lichts – das sind Menschen, die Grund zur Freude haben. Das sind Menschen mit Zuversicht. Das sind Menschen mit Geduld und Gelassen­heit. Das sind Menschen, die in Leid, Not und Krankheit nicht zu verzweifeln brauchen. Das sind Menschen, über die der Tod keine Macht hat. Das sind Menschen, auf die der Himmel wartet. Kinder des Lichts, das sind Kinder Gottes. Jeder darf ein Kind Gottes sein, jeder ist zum Glauben eingeladen. Jedem schenkt Gott Gnadenzeit. Jedem will Gott begegnen in der Bibel und in der Kirche. Jedem gibt Gott die Chance, im Glauben an Jesus zu wachsen. Nutzen wir doch diese Chance. „Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1989.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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