Keinem von uns ist Gott fern

Predigt über Apostelgeschichte 17,27 zur Jahreswende

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

„Keinem von uns ist Gott fern“, ruft Gottes Wort uns an der Schwelle eines neuen Jahres zu. „Keinem von uns“ – das gilt ganz allgemein für alle Menschen. Wir fragen: Wo ist denn Gott, wenn er keinem fern ist? Auf diese Frage hat die Bibel viele Antworten. Der Höchste wohnt im Himmel – natürlich. Er ist aber auch auf Erden: Wo zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind, ist Gott in seinem ein­geborenen Sohn mitten unter ihnen. Er begegnet uns auch im hilfe­bedürftigen Nächsten. Im Heiligen Abendmahl empfangen wir Leib und Blut Christi. Ein jüdischer Rabbi sagte einmal zu einem Kind: „Ich gebe dir einen Taler, wenn du mir sagst, wo Gott ist.“ Da soll das Kind geantwortet haben: „Und ich gebe dir tausend Taler, wenn du mir sagen kannst, wo er nicht ist.“ Das stimmt, liebe Gemeinde: Gott ist überall, all­gegenwärtig – auch das gehört zu seiner Allmacht. Aber ist dann unser Bibelwort zum neuen Jahr nicht eine Binsen­weisheit: „Keinem von uns ist Gott fern?“ Das ist doch selbst­verständ­lich, wenn er überall ist!

Wenn wir die ver­schiedenen Antworten auf die Frage „Wo ist Gott?“ bedenken und wenn wir weiter in der Bibel danach forschen, dann müssen wir fest­stellen: Es gibt ver­schiedene Arten von Gottes Gegenwart. Gott ist nicht einfach nur anwesend oder abwesend, wie wir es von einem Menschen sagen können. Gottes Gegenwart kann ganz unter­schiedlich aussehen.

Da ist erstens Gottes All­gegenwart, die wir mit seiner Allmacht glauben und bekennen. „Der Himmel und aller Himmel Himmel können ihn nicht fassen“, bezeugt die Heilige Schrift (2. Chro­nik 2,5). Und Gott sagt von sich selbst: „Bin ich's nicht, der Himmel und Erde erfüllt?“ (Jesaja 23,24). Das heißt freilich noch nicht, dass man viel von Gott merkt. Es kann ein Mensch durch die Welt gehen und behaupten, es gebe Gott nicht, obwohl Gott ihn von allen Seiten umgibt. In seiner All­gegenwart kann Gott einem Menschen durchaus fern erscheinen.

Aber nun ist da zweitens die Gegenwart Gottes, die man in der Welt spüren kann. Das ist die Gegenwart Gottes, die mit den fünf Sinnen und mit dem Verstand erfahrbar ist – zum Beispiel an Gottes Geschöpfen. Wer die Natur beobachtet, kann immer wieder staunen, wie weise der Schöpfer alles geordnet hat. Wenn jemand sagt, dass Gott ihm bei einem Wald­spaziergang begegnet, dann ist das nicht falsch; tatsächlich erkennen wir den Schöpfer an seinen Geschöpfen. Das bedeutet natürlich nicht, dass ein Wald­spaziergang den Gottes­dienst ersetzt (dazu komme ich später noch). Die Weite des Himmels, die Weite des Meeres, die mächtigen Berge, das Sternenzelt – all das öffnet uns die Augen für den All­mächtigen; er lässt uns darin seine Gegenwart spüren.

Auch durch Lebens­erfahrung können wir Gottes Nähe erkennen. Geht in Gedanken doch einmal das vergangene Jahr durch und überlegt euch, wieviel ihr auf eurem Lebensweg von Gottes Gegenwart gemerkt habt. Wie reich hat er euch versorgt mit Essen, Trinken, Kleidung und allem, was man zu Leben braucht! Wieviele Kilometer habt ihr im Auto und in anderen Verkehrs­mitteln zurück­gelegt, und er hat euch beschützt! Aus wieviel Not und Kummer hat er euch heraus­geholfen und damit eure Gebete erhört! Ja, auch das zurück­liegende Jahr war ein annus Domini, ein „Jahr des Herrn“, das können die meisten von euch gewiss dankbar bestätigen. Gott führt einen jeden von uns auf guter Straße, und darüber hinaus lenkt er die Völker und Gene­rationen im großen Maßstab. Der Apostel Paulus sagte einmal in einer Missions­predigt: „Gott hat aus einem Menschen das ganze Menschen­geschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat fest­gesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen.“ Paulus machte seinen Hörern dann weiter klar, dass die Völker in ihrer Geschichte Gottes wunderbares Handeln erkennen können. Und dann sagte Paulus den Satz, den wir jetzt hier bedenken: „Keinem von uns ist Gott fern.“ Wir verstehen nun besser, was damit gemeint ist. „Keinem von uns ist Gott fern“, das heißt: Jeder Mensch kann etwas von Gottes Gegenwart erfahren in seinem Leben. Jeder kann merken, wie Gott ihn persönlich und sein Volk und die ganze Menschheit führt. Jeder kann die Wunder der Schöpfung bestaunen und den Schöpfer dahinter erkennen. „Keinem von uns ist Gott fern.“

Und doch ist damit noch nicht das Letzte und Ent­scheidende über Gottes Gegenwart gesagt. Denn „nicht fern“ ist etwas anderes als „ganz nah“. Einem Schrift­gelehrten sagte Jesus einmal: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Markus 12,34), aber er meinte damit zugleich: Du bist eben auch noch nicht angekommen im Reich Gottes. Gott ist nicht fern von uns in der Natur, in der Menschheits­geschichte und in der täglichen Fürsorge für uns, aber er ist darin noch nicht ganz nah. Es wird ja oft genug gerade im Blick auf das Schicksal von Menschen und Völkern gefragt: Wo bleibt Gott? Der jüdische Philosoph Hans Jonas hat in seinem Vortrag „Der Gottes­begriff nach Auschwitz“ erklärt, er könne in Gott nun nicht mehr den Herrn der Geschichte sehen. Schlimme Erdbeben und andere Natur­katastro­phen werfen die Frage auf: Ist unsere Welt denn wirklich eine gute Schöpfung, an der man die Güte des Schöpfers erkennen kann? Das Nicht-fern-Sein Gottes wird durch solche Erfahrungen in Frage gestellt. Ich will jetzt nicht auf die Frage eingehen, warum Gott solches zulässt; darüber habe ich oft genug gepredigt und werde es auch ein andermal wieder tun. Von der Bibel her wissen wir, dass das etwas mit unserer Schuld zu tun hat und mit Gottes Zorn. Aber auch Martin Luther hat sehr treffend erkannt und fest­gestellt, dass der zornige Gott letztlich ein verborgener Gott ist, ein Gott voller Rätsel, ein Gott, vor dem wir uns fürchten. Der Gott, der „nicht fern“ von uns ist, weil er in Schöpfung und Geschichte seine Macht zeigt, der ist doch letztlich ein verborgener Gott; bei ihm werden wir nicht die letzte Ruhe und Geborgen­heit finden.

Darum lasst uns nun die dritte Art der göttlichen Gegenwart bedenken, die uns hier weiter­hilft. Es ist der Fleisch gewordene Gott: Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist. Hier haben wir keinen verborgenen Gott mehr, sondern den „offenbaren Gott“, so Luther. Der Gott, der in Schöpfung und Geschichte nicht fern ist, der treibt uns dazu, nach ihm zu fragen, nach ihm zu suchen, uns um ihn zu bemühen – so wie es die griechi­schen Hörer der Paulusrede mit ihrem aufwendigen Götzen­dienst versucht hatten. Der Gott, der uns in Christus ganz nah ist, der lässt uns dabei einen Schatz entdecken. Bei Christus entdecken wir: Gott ist die Liebe, lauter Liebe! Gott ist die Liebe, die sich verzehrt und sich aufopfert und uns ewig selig macht. Darum: Überall, wo uns Christus begegnet, ist uns Gott nicht nur nicht fern, sondern ganz, ganz nah! Wir können ruhig und geborgen in ihm sein – auch dann noch, wenn die Erfahrungen in Schöpfung und Geschichte uns am Glauben irremachen wollen.

Darum lasst uns immer Christus vor Augen haben, wenn wir Gott suchen. Paulus machte den Hörern seiner Missionspredigt klar, dass Gott nicht fern ist, und ruft sie dann zur Buße auf. Er ruft sie auf zum Glauben an den Mann, dem Gott alles anvertraut hat und der einmal zum großen Gerichtstag wieder­kommen wird. Buße tun – das heißt nichts anderes, als Gott in Jesus Christus suchen. Buße tun heißt Verlangen haben nach der Vergebung der Sünden. Solche Vergebung haben wir überall da, wo Christus uns seine Gegenwart verheißen hat: In der Taufe, im ver­kündigten Wort, im Zuspruch der Sünden­vergebung, im Gottes­dienst, im Heiligen Abendmahl, in der Gemein­schaft mit anderen Christen. Ja, überall dort ist Gott nicht nur nicht fern, sondern ganz nah. Dort können wir seiner Nähe gewiss werden, und zwar seiner tröstlichen und liebevollen Nähe.

Zugleich aber soll unser Blick zu unsern Mitmenschen gehen, denen Gott auch nicht fern ist, die aber den ganz nahen Gott in Christus noch nicht gefunden haben. Lasst uns Zubringer­dienste zu Christus leisten im Verwandten- und Bekannten­kreis! Viele wissen doch von Gott oder ahnen zumindest etwas von ihm, suchen ihn und fragen nach ihm. Wir wollen ihnen ganz einfach bezeugen, wo sie Antwort bekommen und Gott finden: in Jesus Christus – denn da ist Gott ganz nah denen, die an ihn glauben!

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, ich wünsche euch für das neue Jahr, dass ihr in eurem Leben erfahren könnt: Gott ist nicht fern. Versprechen kann ich euch das aber nicht – es mag sein, dass Nöte und An­fechtungen auf euch warten, die euch den Blick für seine Schöpfer­güte trüben wollen. Eines aber kann ich euch ver­sprechen: Dass Gott euch auch im neuen Jahr in seinem Sohn Jesus Christus ganz nah sein will und dass ihr den offenbaren Gott hier im Gottes­dienst finden werdet, in Wort und Sakrament. Keinem von uns ist Gott fern, und er ist uns ganz nah in seinem lieben Sohn. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1988.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum