Einheit in der Liebe

Predigt über Philipper 2,1‑4 zum 7. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Die christliche Gemeinde in der grie­chischen Stadt Philippi war eine Muster­gemeinde. Der Apostel Paulus be­scheinigte ihr das in seinem Brief: Da ist „Ermahnung in Christus“, schreibt er, da ist „Trost in der Liebe“, „Gemein­schaft des Geistes“, „herzliche Liebe und Barmherzig­keit“. Trotzdem möchte Paulus, dass das Gemeinde­leben noch besser wird. Dazu ermuntert er in den folgenden Sätzen, die man so zusammen­fassen kann: Strebt nach der völligen Einheit in der Liebe!

Ich weiß nicht, ob unsere Gemeinde sich mit der Gemeinde in Philippi messen könnte. Ähnlich­keiten sind durchaus vorhanden: Es gibt auch bei uns „Ermahnung in Christus“ – in Predigt, Seelsorge, Kinder­arbeit und Gesprächen. Es gibt auch bei uns „Trost in der Liebe“, wenn sich Gemeinde­glieder zum Beispiel in Not und Krankheit gegenseitig besuchen. Es gibt auch bei uns „Gemein­schaft im Geist“, nämlich hier im Gottes­dienst und auch sonst immer dann, wenn wir uns um Gottes Wort versammeln. Auch „Liebe und Barmherzig­keit“ sind zu finden; Gemeinde­glieder helfen einander in mancherlei Weise. Aber dennoch: Sind wir eine Muster­gemeinde? Ich will die Frage offen lassen. Denn selbst wenn wir eine Muster­gemeinde wären, gälte doch immer noch diese Er­munterung: Strebt nach der völligen Einheit in der Liebe! Es kann und soll immer noch besser werden.

Fühlt ihr euch durch dieses Wort unter Druck gesetzt? Viele von euch bringen ja große Opfer an Zeit, Kraft und Geld für unsere Gemeinde. Wird denn immer noch mehr gefordert? Ist das nicht ein ganz un­evange­lischer Leistungs­druck?

Schauen wir genau hin, was da steht: „So macht meine Freude vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt…“ „Macht mir diese Freude“, sagt Paulus, „tut mir diesen Gefallen.“ Er fordert nicht, er übt keinen Druck aus, sondern er bittet ganz freundlich. Er kann sich ja darauf verlassen: Die Gemeinde ist in der Lehre des Evangeliums gefestigt. Die Philipper wissen alle: Jesus hat uns durch sein Blut erlöst und von aller Schuld befreit; nur der Glaube an ihn macht selig, die guten Werke tun's nicht. Die Philipper stehen nicht in der Gefahr, sich durch ihr Handeln den Himmel verdienen zu wollen, sie haben ja Gottes Liebe in Jesus erfahren. Aber sie wollen diesem Herrn gern dienen – nicht aus Zwang, sondern aus Dank und Liebe. Sie haben Gutes von Gott empfangen und wollen deshalb ihr Leben in seinen Dienst stellen. Dabei hilft ihnen Paulus, wenn er sagt: Tut mir den Gefallen, strebt nach der völligen Einheit in der Liebe.

Wenn ihr dem barm­herzigen Herrn mit eurem Leben Dank abstatten wollt, dann sagt Paulus auch euch: Tut mir den Gefallen und tut Gott diesen Gefallen und tut schließlich auch euch selbst diesen Gefallen, strebt nach der völligen Einheit in der Liebe! Druck wird hier nicht ausgeübt, und um Leistung geht es eigentlich auch nicht. Zwar soll das Gemeindeleben immer besser werden. Aber es geht gar nicht darum, dass immer noch mehr Aktivitäten gestartet werden, immer noch mehr Ehrenämter erfunden, immer noch mehr Geld gesammelt, immer noch mehr Besuche gemacht. Es geht vielmehr darum, dass die völlige Einheit in der Liebe angestrebt wird. Was auch immer das dann für Folgen haben wird, es werden segens­reiche Folgen sein.

„Einheit in der Liebe“, das hört sich nun freilich an wie ein schönes Sonntags-Schlagwort. Ist so etwas überhaupt möglich in einer christ­lichen Gemeinde – in unserer Gemeinde? „Seid eines Sinnes; habt gleiche Liebe; seid einmütig und ein­trächtig; tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen; in Demut achte einer den andern höher als sich selbst; ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ Es hört sich doch fast ein wenig weltfremd an, wie eine Utopie. Aber wir brauchen vor diesem Wort nicht zu kapitu­lieren. Denn sie soll uns ja geschenkt werden, diese Einheit in der Liebe. Gott hat es uns ver­sprochen. Wenn wir meinen, bei uns könne keine völlige Einheit in der Liebe entstehen, dann würden wir den Heiligen Geist für einen Schwächling halten. Der will uns doch zurüsten zu solcher Einheit in der Liebe. Und er tut es auch durch Gottes Wort. Nur einen Vers nach unserem Bibel­abschnitt schenkt uns der Heilige Geist den Schlüssel zu solchem Gemeinde­leben: „Ein jeder sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war …“ – und dann folgt die aus­führliche Be­schreibung von Christi Er­niedrigung und Erhöhung, jener berühmte Christus­psalm, der jetzt nicht ausgelegt werden soll, weil er eine eigene Predigt wert ist. „Ein jeder sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.“

Freilich, es gibt keine Regeln und Gesetze, die man nur mechanisch zu befolgen brauchte und die dann automatisch zur Einheit in der Liebe führten. Auch die Zehn Gebote stecken nur einen Rahmen ab. Aber wenn wir Ernst machen mit dem Satz: „Ein jeder sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war“, dann wird sich Erstaun­liches tun. Unsere Gemein­schaft mit ihm soll nur immer enger werden, dann werden sein Geist, seine Lebens­haltung, seine Liebe in uns wachsen. Wie man einen Radio­empfänger mit Finger­spitzen­gefühl auf einen Sender abstimmt, so soll unser Leben auf Jesus Christus abgestimmt sein. Und wenn das bei uns allen geschieht, wenn jedes Gemeinde­glied den Sender Jesus Christus möglichst klar empfängt, dann machen wir alle dieselbe Musik, auch wenn wir ganz unter­schiedliche Radios sind. Ja, dann ist die vollkommene Einheit da.

Ich möchte jetzt noch ein wenig davon reden, was das für Aus­wirkungen haben kann. „Seid eines Sinnes, habt gleiche Liebe, seid einmütig und ein­trächtig“, bat Paulus. Von Jesus wissen wir: Er war seinem himmlischen Vater ganz und gar gehorsam, ja, er war in seinem Willen eins mit ihm. Er teilt die brennende Liebe des Vaters zu uns Menschen; Vater und Sohn haben dieselbe Liebe. So erhob Jesus oft in seinem Erdenleben die Augen zum Himmel, redete im Gebet mit seinem Vater und empfing Trost sowie auch Weisung von ihm.

Wir haben die Frucht von seiner Liebe und seinem Gehorsam erfahren, dürfen durch Taufe und Glaube Gottes Kinder sein. Wir wissen also etwas von dem Segen, den es bringt, mit Gottes Willen in Einklang zu stehen. Und so soll denn auch unser haupt­sächliches Bestreben dahin gehen, dass wir nach oben blicken und den Willen des himmlischen Vaters erfragen. Das soll auch in allen Ent­scheidungen und Weichen­stellungen für das Gemeinde­leben geschehen. Ich bin überzeugt: Auch in kleinen, fast all­täglichen Dingen können wir durch den Aufblick nach oben eins werden in unseren Be­schlüssen. Zwar finden wir keine Patent­lösungen und keine fertigen Antworten auf solche Fragen in der Bibel, und die kann ich in der Predigt auch nicht bieten. Aber wir können Gott bitten, dass er uns seinen Willen zeigt. Dann können wir miteinander reden und aufeinander hören, wie denn Gottes Wort und Wille in einer bestimmten Sache anzuwenden seien. Und schließlich können wir auf einer Gemeinde­versammlung darüber abstimmen, wie gehandelt werden soll. Das Gebet ist dabei das Wichtigste, das Miteinander-Reden das Zweit­wichtigste, das Abstimmen erst das Drittwichtigste. Wir haben keine Demokratie in der Gemeinde, sondern eine Theokratie: Gottes Wille gibt den Ausschlag, nicht der Wille der Mehrheit! Und so wird denn eine eventuelle Minderheit in unseren Gemeindeversammlungen auch immer gefragt, ob sie bereit ist, den Mehrheitsbeschluss mitzutragen und ihn als Gottes Weg zu bejahen. Wenn dies nicht der Fall ist, muss geduldig weiter gesucht werden, weiter gebetet und weiter geredet. Die Einmütigkeit und die Übereinstimmung mit dem Willen des himmlischen Vaters ist ein ganz kostbares Gut. Leitmotiv ist dabei immer die Liebe, die auch den Vater und den Sohn verbindet: Die unbedingte Liebe zu den Menschen, die für alle das Heil und die Erlösung sucht.

Diese Liebe ist kein sentimentales Gefühl, sondern in gewisser Hinsicht eine Selbstaufgabe. Paulus entfaltete das in zwei Versen. Er schrieb: „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ Ja, so hat es Jesus vorgemacht; er hat sich selbst aufgeopfert – und das für Menschen, die es keineswegs verdient haben. Denn wie gehen wir auch heute noch oftmals mit ihm um? Was ist uns wichtig im Leben? Unsere Gesundheit, unsere Familie, unser Beruf, unser Geld, unser Vergnügen, unser Urlaub, unser gesicherter Lebens­abend, und wenn wir es nebenbei noch so mitnehmen können, auch noch unser Seelenheil. Und was hat Jesus für solche Menschen geopfert? Den Gebrauch seiner göttlichen Herrlich­keit, als er Mensch wurde, seinen Reichtum, seine Ehre, seine Freude, seine Ruhe, seine Gesundheit, sein Leben! Führen wir uns das doch immer wieder ganz deutlich vor Augen, stellen wir diesen Sender ganz scharf ein! Kann uns dann noch etwas anderes wichtig sein außer seinem Willen, seinem Wort, seiner Liebe, seinem Auftrag, seiner Mission, seiner Kirche, seinem Dienst und dem Dienst am Nächsten? Nein, auch in Kirche und Gemeinde können wir dann nicht anders als das eigen­nützige Denken aufgeben. Die Gemeinde ist dann kein Dienst­leistungs­betrieb mehr für mich, wo ich je nach Bedürfnis etwas für mein Seelenheil bekomme. Sie ist auch kein Verein, wo ich als Mitarbeiter Ansehen und Ehre verdienen kann. Sie ist der Leib Christi, in den ich durch Gottes Barmherzig­keit hinein­genommen bin, in dessen Einheit ich aufgehen kann und Liebe üben darf. Wenn hier jeder das Seine suchen würde, gäbe es nur Zank und Streit. Wenn hier aber jeder sich selbst zurücknimmt und das anstrebt, was dem andern dient, dann herrschen Liebe und Eintracht. Wer sich in die Einheit der Gemeinde einbringt, wird dann auch erfahren, wie seine Seele reich beschenkt wird, wie sie heil wird und wie reich und glücklich es macht, dienen zu dürfen. So bewahr­heitet sich in der Gemein­schaft des Leibes Christi das Wort des Herrn: „Wer sein Leben sucht, wird es verlieren, wer es aber verliert um meinet­willen, der wird es finden“ (Lukas 9,24).

Liebe Brüder und Schwestern, lassen wir uns durch diese Worte des Apostels Paulus anreizen, immer wieder aufs neue die Einheit in der Liebe zu suchen! Lasst uns immer engere Gemein­schaft mit unserm Herrn Jesus Christus anstreben, lasst uns nach oben schauen, lasst uns unseren Empfänger auf diesen Sender abstimmen! Lasst uns Zeit haben für Gottes Wort, für das Gebet und für die Gemein­schaft in der Gemeinde! Nur so kommen wir weiter auf dem Weg der Nachfolge, auf den wir von Jesus Christus gerufen sind – den Weg der Einheit und der Liebe. Er wird in der voll­kommenen ewigen Gemein­schaft aller Gottes­kinder sein Ziel finden – dann ganz geborgen in den Liebesarmen unsers himmlischen Vaters. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1988.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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