Kleider machen Leute

Predigt über Galater 3,26‑27 zum 6. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

„Kleider machen Leute“, lautet ein Sprichwort. Es ist zugleich der Titel einer berühmten Novelle von Gottfried Keller. Die Hauptperson in dieser Novelle ist ein arbeits­loser Schneider­geselle, der per Anhalter reist und von einer feudalen Kutsche mitgenommen wird. Sein kostbarster Besitz ist der selbst­geschneider­te Frack, den er trägt. Als die Kutsche bei einem Dorfgasthof Pause macht, hält man den gut gekleideten jungen Mann für einen Grafen und bewirtet ihn fürstlich. Er beteuert zwar immer wieder: „Ich bin kein Graf“, aber der Wirt und die Dorf­bewohner halten an ihrer Meinung fest, denn sie sind durch die vornehme Kleidung zu stark be­eindruckt. Zumindest im ersten Teil der Novelle be­wahrheitet sich also ihr Titel „Kleider machen Leute“.

Das Sprichwort und die Geschichte vom ver­meintlichen Grafen kann uns deutlich machen, was Paulus in den beiden eben gehörten Versen des Galater­briefes zum Ausdruck brachte. Er schrieb: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“

Wer ist der arme Schneider­geselle? Das bin ich, der sündige Mensch. Wer ist der Frack? Das ist der Herr Jesus Christus – ohne Sünde, vollkommen in seiner Liebe und in seinem Gehorsam. Ihn habe ich mit der Taufe angezogen, er ist mein eigent­liches Taufkleid. Und wer betrachtet mich mit diesem kostbaren Gewand? Der himmlische Vater selbst schaut auf mich. Er sieht in mir nun nicht mehr den armen sündigen Menschen, sondern er sieht mich an wie seinen ein­geborenen Sohn, der von keiner Sünde wusste, und tut mir Gutes in Ewigkeit. Ja, er lässt mich den Himmel erben. „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Söhne“, schrieb Paulus wörtlich und machte damit die Verbindung zu Gottes ein­geborenem Sohn Jesus Christus ganz deutlich.

Nicht, dass sich der himmlische Vater durch unser Taufkleid täuschen lässt. Nein, an diesem Punkt findet der Vergleich mit der Novelle ein Ende. Der Allmächtige weiß genau, wer wir sind und wie es in unserem Herzen ausssieht. Er weiß es sogar besser als wir selbst, machen wir selbst uns doch oft genug etwas vor und verstecken die bösen Regungen unseres Herzens sogar vor uns selbst. Der Allmächtige dagegen macht sich nichts vor. Aber in seiner grenzen­losen Güte hat er bei sich beschlossen und uns feierlich verkündet: Ich will dich getauften Menschen nicht mehr so ansehen, wie du in deiner Bosheit und Erbärmlich­keit dastehst, denn dann müsste ich dich für alle Ewigkeit verdammen. Ich will dich nur nach dem Gewand beurteilen, das du seit deiner Taufe trägst: Das Gewand meines Sohnes Jesus Christus. Paulus schrieb: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“

Was in diesem Bild so wunderbar zum Ausdruck kommt, ist die Bedeutung des Wortes „Recht­fertigung“. Christus hat mit seinem Opfer am Kreuz dafür gesorgt, dass wir in Gottes Augen wie Gerechte dastehen, also wie Leute, die keine Sünde haben. Unsere Erlösung besteht nicht darin, dass wir durch Taufe und Glaube bessere Menschen werden (obwohl auch das geschieht), unsere Erlösung besteht vielmehr darin, dass Gott uns wie bessere Menschen beurteilt, weil wir das Gewand Jesu Christi tragen. Er verurteilt uns nicht, wie wir es verdient haben, sondern er lässt uns seine Kinder sein und gibt uns Anteil am Erbe des ewigen Lebens. Er schenkt uns einen Platz im Paradies. Ja, das ist Recht­fertigung. Und das ist auch Christsein. Unser Christsein hängt nicht davon ab, wie wir unser Leben führen – da ist der eine weiter, der andere steckt noch in den Anfängen eines christ­lichen Lebens. Unser Christsein hängt eigentlich nur davon ab, ob wir dieses wunderbare Gewand tragen, das uns mit der Taufe geschenkt wurde: das Gewand der Gerechtig­keit Jesu Christi.

Es gibt andere Stellen in der Heiligen Schrift, die das mit demselben Bild ausdrücken. Beim Propheten Jesaja heißt es: „Gott hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtig­keit gekleidet“ (Jesaja 61,10). Und das bekannte Gleichnis vom Verlorenen Sohn gipfelt darin, dass der Vater dem reumütig Heim­gekehrten das beste Gewand anziehen lässt, das er im Kleider­schrank hat. Ja, Kleider machen Leute. Der Ungehorsam des Sohnes wird durch die Kleidung nicht rückgängig gemacht, und unter dem Festkleid steckt ein aus­gezehrter Körper, gezeichnet von den Spuren der Sünde. Aber der Vater sieht in dem schönen Gewand nur den Sohn, den er lieb hat, der zurück gekommen ist und mit dem er immer zusammen sein möchte. Das möchte auch Gott: für immer zusammen sein mit uns. Darum kam Jesus in die Welt und opferte sich für unsere Schuld. Darum hat er uns in der Taufe die Kleider des Heils angezogen und den Mantel der Gerechtig­keit, nämlich das Heil und die Gerechtig­keit seines Sohnes Jesus Christus.

Nun ist es aus­gesprochen gefährlich, die Botschaft von der Recht­fertigung so ungeschützt zu ver­kündigen. Schon damals, als Paulus den Galater­brief schrieb, wurde ihm vor­geworfen: Du verleitest ja die Menschen zum Sündigen! Du schaffst ja das Gesetz ab! Wenn man zum Seligwerden nur zu glauben braucht und sich nicht auch selbst ein bisschen Mühe geben muss, dann hat doch keiner mehr einen Anreiz, sich ordentlich zu benehmen! Diese Argumente gibt es bis heute. Dennoch ist es wichtig, das Evangelium ganz un­einge­schränkt zu verkündigen und Gottes Zusage nicht zu verwässern, die da lautet: Jeder, der in der Taufe Christus angezogen hat und dieses Heilsgewand im Glauben trägt, wird selig, auch, wenn da noch so große Schuld in seinem Leben ist.

Freilich hat schon Paulus mit Nachdruck darauf hin­gewiesen: Wer die Kleider des Heils im Glauben trägt, der will gar nicht mehr sündigen. Und anders­herum: Wer noch sündigen will und wem seine Sünden nicht leid tun, der glaubt nicht wirklich an Christus, der trägt nicht wirklich dieses Gewand, sondern der macht sich nur was vor. Warum das so ist, lässt sich auch sehr schön mit dem Bild des Gewandes erklären. Der Schneider­geselle in Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“ fühlte sich in der Rolle des Grafen äußerst unwohl. Das lag daran, dass er diese Rolle nicht bejahte. Es gibt ähnliche Be­obachtungen in heutiger Zeit. Die Kleidung ist ja eben doch viel mehr als Schutz vor Kälte, Nässe und Blöße. Geht es euch nicht manchmal auch so: Da kauft man ein Kleidungs­stück und hofft, dass man sich daran gewöhnt. Aber man trägt es kaum, es hängt fast nur im Schrank. Man fühlt sich einfach nicht wohl darin. Oder ein kleines Mädchen probiert Mutters feine Garderobe an; aber schnell werden die Sachen wieder ausgezogen, weil das Kind in ihnen nicht richtig spielen und toben kann. Oder da sind Kostüm­feste, wo sich ganz normale Menschen wie Cowboys, Clowns oder Ballerinen anziehen – aber meistens verhalten sie sich nicht so, wie es das Kostüm erwarten lässt, sondern sie verhalten sich weiterhin so, wie sie sich sonst immer verhalten.

Ich will damit sagen: Auf Dauer kann man Kleidung nur dann tragen, wenn man sich darin wohlfühlt, wenn man eine Beziehung dazu entwickelt, wenn Wesen und Eigenart der Kleidung ent­sprechen. Dasselbe gilt für das Kleid Jesus Christus, das ich mit der Taufe bekommen habe. Dieses Kleid hat eine wunderbare Stoff­qualität, eine wunderbare Form, ein wunderbares Muster. Die Qualität ist Liebe, die Form Gottes­furcht, das Muster Demut. An Christus glauben heißt nun, dieses Kleid gern tragen und dauerhaft anbehalten. Wer nicht glaubt, wer mit Jesus nichts anfangen kann, wem Liebe, Gottes­furcht und Demut nichts bedeuten, der wird sich im Christus-Gewand unwohl fühlen und es sich bald vom Leib reißen. Dann aber hat er nichts mehr, was ihn vor dem himmlischen Vater recht­fertigen und selig machen könnte. Wer aber an Jesus glaubt, der wird diese Kleidung gern tragen, wird sich über sie freuen und wird auch immer mehr in sie hinein­wachsen. Qualität, Form und Muster des Gewandes werden ihn immer mehr prägen, so wie festliche Kleidung oftmals ganz von selbst zu festlichem Benehmen führt. Liebe, Gottes­furcht und Demut werden ihren Träger prägen, sodass sie bald nicht mehr nur außen am Kleid zu finden sind, sondern im eigenen Herzen.

Ja, durch das Kleid der Gerechtig­keit und den Mantel des Heils erfüllt Gott auch die andere Zusage, die er mit dem Evangelium gegeben hat: dass er uns nämlich ein neues Herz schenken will. Und so gilt denn für uns Christen in ganz besonderer und ganz wörtlicher Weise, was der Volksmund sagt: „Kleider machen Leute“. Ja, die Kleider des Heils machen Christen­leute und Gottes­kinder! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1988.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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