Der Mittler des neuen Bundes

Predigt über Hebräer 9,15 zum Karfreitag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Beim Stichwort Erbschaft können uns frohe, aber auch traurige Dinge einfallen. Traurig ist an einer Erbschaft der Umstand, dass jemand verstorben ist; meistens hat er dem Erben recht nahe gestanden. Froh machen kann der plötzliche materielle Segen einer Erbschaft. Traurig sind dann wieder die Streitig­keiten, die manchmal unter den Erben auftreten, wie zum Beispiel bei zwei Brüdern zur Zeit Jesu. Einer kam zum Herrn und sagte: „Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile.“ Jesus wies ihn ab und sagte ihm: „Ich bin nicht euer Erb­schlichter“ (Lukas 12,13-14). Nein, Jesus ist wirklich nicht in die Welt gekommen, um bei unsern klein­karierten mensch­lichen Streite­reien Schieds­richter zu spielen. Wenn der Erbstreiter von damals gewusst hätte, wozu Jesus wirklich gekommen ist, dann hätte er ihn nicht mit solchen Lappalien belästigt.

Aber wozu ist Jesus wirklich gekommen? Er kam nicht als Erb­schlichter, sondern als Erb­lasser! Er kam, um uns durch seinen Tod zu Erben so unschätzbar großer Güter zu machen, dass hinter ihnen jede menschliche Erbschaft verblasst. Wenn das der Erbstreiter von damals gewusst hätte! Wir wissen es, liebe Gemeinde. Wir wissen von dem großen Erbe, das durch Jesu Tod uns gehört. Wir haben es nicht nötig, um menschliche Erbschaften zu streiten oder überhaupt um die Dinge dieses Lebens. Das sind kleine Fische; das will Gott uns nebenher dazugeben zu dem großen Erbe. Wir haben es in keiner Weise nötig, uns selbst zu behaupten, unser Recht durch­zusetzen, uns Besitz oder Macht oder Ehre zu erkämpfen. Wir haben eine Erbschaft gemacht, mit der wir für immer ausgesorgt haben. Das einzige Problem, das wir noch haben, ist dies: Wir vergessen diese Erbschaft leicht. Darum wollen wir uns heute erneut an die Geschichte von der großen Erbschaft erinnern, die wie ein Märchen klingt und doch keins ist.

Es geht da um einen König und um sein Volk. Der König liebt sein Volk über alles. Er tut alles erdenklich Gute für sein Volk. Wir kennen Geschichten mit Königen, die zu besonderen Gelegen­heiten Menschen großzügige Geschenke machten oder die Erfüllung von Wünschen anboten – bis hin zur Hälfte des König­reichs. Dieser König aber bietet allen aus seinem Volk das ganze Königreich an. Er möchte mit ihnen stets innige, herzliche, liebevolle Gemein­schaft haben. Deshalb schließt der König einen Bund mit seinem Volk. Man nennt ihn den „ersten Bund“ oder auch den „alten Bund“. Freilich ist es kein Bund, wie wir ihn kennen. Es handelt sich nicht um einem Vertrag, nicht um ein partner­schaft­liches Abkommen. Vielmehr ist es ein Bund im alten Sinne: Eine Verfügung von seiten des Königs, die sein Verhältnis zu den Untertanen regelt. Das Wort „Bund“ kann in diesem Sinne auch „Testament“ bedeuten. Auch ein Testament ist ja eine einseitige Verfügung, die freilich erst nach dem Tod in Kraft tritt. Der König verfügt für sein Volk den alten Bund, das alte Testament. Er verfügt: Wenn ihr mich als König akzeptiert, wenn ihr mir gehorcht, wenn ihr mir vertraut und wenn ihr meine Gesetze haltet, dann wird es euch para­diesisch gut gehen in meinem Königreich – und das auf unabsehbare Zeit. Wenn ihr aber gegen meine Bundes­regeln verstoßt und ungehorsam werdet, dann müsst ihr Strafe leiden und werdet schließlich aus meinem Königreich vertrieben werden.

Er ist eine wunderbare Verfügung, dieser alte Bund. Wie glücklich könnte das Volk damit leben! Aber die Sache entwickelt sich leider ganz anders. Das Volk wird in großer Mehrheit seinem König untreu. Es gehorcht ihm nicht, es vertraut ihm nicht, es will andere über sich herrschen lassen. Das Volk verachtet seinen König und dessen Bund. Der König seinerseits bleibt dem Bund treu und straft folglich den Ungehorsam. Ja, und dann müsste er eigentlich schließlich das ganze Volk aus seinem Reich ausstoßen; er müsste sich von ihm abwenden. Das hatte er ja in seinem Bund so verfügt und angedroht.

Aber da ist auf der anderen Seite die Liebe zu seinem Volk. Wir können es nicht fassen, aber er hat sein böses Volk immer noch lieb. Und er sehnt sich immer noch nach fried­licher, har­monischer Gemein­schaft mit seinem Volk. Was tut er? Er schließt einen neuen Bund; er setzt eine neue Verfügung. Nicht, dass sich der König selbst untreu wird. Sein alter Bund bleibt nach wie vor bestehen. Er kann und will das nicht mit einer Hand­bewegung wegwischen, was er feierlich und ernsthaft verfügte. Wenn sich schon das Volk nicht an den Bund hält, so will doch er selbst weiter zu seinem Bund stehen. Nein, der alte Bund bleibt. Aber der neue Bund kommt hinzu, baut auf den alten auf und gibt der trostlosen Situation eine unerwartete Wendung. Der neue Bund ist das neue Testament.

Der König hat einen Sohn, der ihm nur Freude macht. Vater und Sohn lieben sich sehr. Der Sohn teilt auch des Vaters Liebe zum abtrünnigen Volk und ist bereit, dem Vater dabei zu helfen, das Volk zurück­zugewinnen. Darum willigt er in den neuen Plan ein, den neuen Bund des Vaters. Dieser Plan sieht so aus: Der Sohn lässt sich stellvertretend für das ganze Volk aus dem Reich seines Vaters verbannen. Er trägt die Strafe des alten Bundes, die nicht er, sondern das Volk verdient hat. Es wird ihm schwer und bitter, aber er tut es – aus Liebe zum Vater und aus Liebe zum Volk. Da lässt der König den neuen Bund ausrufen: Jeder, der seine Schuld bekennt und bereut, jeder, der zu friedlicher und liebevoller Gemein­schaft mit dem König zurück­finden möchte, soll dazu Gelegenheit haben. Er soll nur das Werk des Königssohns annehmen und darauf vertrauen, dass seine Schuld auf diese Weise bereinigt ist. Der König verfügt: Jeder, der ihm und seinem Sohn vertraut, soll Erbe des König­reiches sein, trotz seines Un­gehorsams. An den Ungehorsam will der König nicht mehr denken, weil sein Sohn den getilgt hat. Der Sohn ist die Schlüssel­figur des neuen Bundes – der Mittler, der diesen Bund ermöglicht. Darum holt der König ihn wieder zurück in sein Reich und setzt ihn zum Herrn über das ganze Volk.

Soweit die Geschichte vom König, von seinem Sohn, vom alten und vom neuen Bund. Wie gesagt, es ist kein Märchen, sondern es ist Gottes Geschichte mit seinem Volk Israel und darüber hinaus mit allen Menschen. Gottes Bundes­schlüsse sind kein Denkmodell, durch das wir ein bisschen Trost und Lebenskraft bekommen sollen, sondern sie gelten wirklich; Gott hat sie in heiligem Ernst ge­schlossen. In einem einzigen Satz fasst unser Predigttext diese Geschichte zusammen: „Darum ist Christus der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Über­tretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.“

Der neue Bund, das neue Testament, ist in Kraft getreten durch Jesu Tod. Jesus ist der Erblasser dieses un­schätzbaren Erbes, dass wir in Gottes Königreich für immer leben dürfen – voll Frieden, voll Eintracht, voll Seligkeit, in herrlicher Gemein­schaft mit Gott. Jesus hat sich hinaus­stoßen lassen aus dem Lande der Lebendigen, hinaus aus der Gemein­schaft mit dem Vater, um die Forderungen des alten Bundes an unserer Stelle zu erfüllen. Er schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matth. 27,45). Der Fluch und die Strafe des alten Testaments lagen auf ihm – das ist das schreck­liche Geschehen des Kar­freitags. Und das ist keineswegs nur ein Zeichen von Gottes Solidarität mit den Leidenden, wie es heute oft ausgelegt wird. Nein, es ist Gottes bitterer Ernst, was da auf Golgatha geschah. Da wird sichtbar, was mit uns geschehen würde, wenn es keinen neuen Bund gäbe. Wie glücklich können wir über den neuen Bund sein! Durch den Tod Jesu machen wir die größte Erbschaft, die es gibt: Wir erben den Himmel, die Gemein­schaft mit Gott, in Zeit und Ewigkeit! Wenn uns das deutlich wird, kann es uns nicht mehr besonders wichtig sein, irgendein mensch­liches Erbe oder sonst ein Gut dieser Welt zu erkämpfen. Der König hat seinen einzigen Sohn nicht verschont, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wirklich alles! Uns mangelt ja nichts, das glauben und bekennen wir. Wir sind ja Himmels­erben!

Wisst ihr noch, wie der erste Satz dieser Predigt lautete? Er lautete: Beim Stichwort Erbschaft können uns frohe, aber auch traurige Dinge einfallen. Ich meine, so geht es uns auch heute am Karfreitag, wenn wir an unsere Himmelserbschaft denken. Traurig werden wir, wenn wir daran denken, wie sehr wir unsern lieben König gekränkt und verletzt haben mit unserm Ungehorsam, mit unseren Sünden. Traurig werden wir, wenn wir daran denken, wie teuer Gottes Sohn der neue Bund zu stehen kam, als er unter bittersten Qualen unsere Strafe trug. Froh können wir werden, wenn wir an die große Erbschaft des Himmel­reichs denken, die uns auf diese Weise in den Schoß fällt. Das Schönste jedoch ist, dass der Tod nicht das letzte Wort hat wie bei einer mensch­lichen Erbschaft. Aber das ist bereits das Thema von übermorgen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1988.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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