Nur das Kreuz

Predigt über 1. Korinther 2,1‑10 zum 2. Sonntag nach Epiphanias

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Lasst uns mal im Geist eine Umfrage machen. Ich gehe auf die Straße und frage jeden, den ich treffe: Was ist Ihrer Meinung nach die Aufgabe der Kirche? Der Erste antwortet: Die Kirche soll sich um die kümmern die Hilfe brauchen – die Kranken, Be­hinder­ten, Traurigen, Einsamen, De­pressi­ven, Alten; sie soll ihnen Trost und Lebenshilfe geben. Ich denke im Stillen: Wie soll ich als Pastor all diese Hilfe geben? Ich habe weder Psychologie noch Medizin studiert. Ich kann auch nicht besser mit Leidenden umgehen als andere Menschen. Der Zweite antwortet: Die Kirche soll der Jugend Werte vermitteln; sie soll bei der Erziehung mithelfen, dass einmal anständige Menschen daraus werden. Ich denke im Stillen: Wie soll ich erziehen helfen, wo ich doch selbst noch keine Kinder habe? Und was ist mit „an­ständigen Menschen“ gemeint? Und ist dann wirklich das Ent­scheidende erreicht? Der Dritte antwortet: Die Kirche muss ihrem gesell­schafts­politischen Auftrag nachkommen. Sie muss Stellung nehmen zu den brennenden Fragen unserer Zeit; sie muss den Mund auftun in Sachen Hunger, Krieg, Umwelt­schutz und Atom­energie. Ich denke im Stillen: Was soll ich als Vertreter der Kirche zu all diesen Fragen sagen? Ich habe mir in vielen Dingen selbst noch kein festes Urteil gebildet. Die Welt ist ja kompli­ziert; da gibt es für alles ein Für und ein Wider. Ich weiß doch nicht besser Bescheid in diesen Fragen als andere Menschen.

Liebe Gemeinde, ich stehe nach dieser Umfrage ratlos da und will gerade anfangen, mich ein bisschen zu schämen, weil ich all diese Erwartungen nicht be­friedigend erfüllen kann. Für so viele und so vieles habe ich keinen passenden Rat im Schubfach und kann mich nur selbst an der Rat­losig­keit beteiligen. Aber da trifft mich ein Satz aus Gottes Wort; ein Satz aus dem Abschnitt des 1. Ko­rinther­briefes, den ich eben vorgelesen habe. Da schrieb der Apostel Paulus den Korinthern: „Ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Ge­kreuzig­ten.“ Dieser Satz tröstet mich in meiner Rat­losig­keit und weist mich zugleich auf die einzige wirkliche Aufgabe der Kirche hin, zugleich auch auf die einzige wirkliche Aufgabe ihrer öffent­lichen Vertreter: nämlich Jesus Christus den Ge­kreuzigten vor Augen zu halten. Paulus wollte keine großen Worte machen in Korinth, er wollte auch keine weisen Erkennt­nisse vermitteln, er wollte nur weiter­geben, was er von Jesus wusste. Ja, das war der einzige Wissens­vorsprung, den er bei diesen Menschen geltend machte. Er gab keine Kommentare zu den Lehrsätzen der berühmten Philosophen seiner Zeit, er äußerte sich nicht zur politischen Lage angesichts der Übermacht des römischen Weltreichs, er gab auch keine Erziehungs­tipps und führte keine Psycho­therapie durch. Er schrieb: „Ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Ge­kreuzig­ten.“ Nur darum geht es, auch heute noch: um das altbekannte Evangelium von Jesus Christus, das wir nötiger haben als das tägliche Brot.

Was sagt denn das Kreuz Christi? Ich möchte es in eine Gleichnis­geschichte kleiden. Nimm an, du fährst im Auto durch eine Stadt. Du bist mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache. Du fährst zügig, vielleicht mit 70 Kilometern pro Stunde. Da springt am Zebra­streifen ein kleines Mädchen vor dein Auto. Du kannst es nicht fassen, hast eine Schreck­sekunde; dann steigst du aufs Bremspedal, die Reifen quietschen – aber es ist zu spät. Du hast ein Menschen­leben aus­gelöscht. Du wirst vor Gericht gebracht, man beschuldigt dich der fahr­lässigen Tötung. Der Tatbestand ist offen­sichtlich. Und dann kommt das Urteil. Ich weiß nicht, wie hart in so einem Fall die Strafe ausfallen würde. Aber nehmen wir einmal an, es würde dich schwer treffen. Nehmen wir einmal an, dieses Urteil würde dein Leben ver­pfuschen, deine kleine heile Welt zum Einstürzen bringen. Das Urteil ist gesprochen und rechts­kräftig; du bist starr und weißt doch genau: Du hast es verdient. Aber nun geschieht etwas ganz Un­wahrschein­liches: Ein Fremder betritt den Gerichts­saal und geht mit ent­schlossenem Schritt auf den Richter­tisch zu. Er stellt sich vor den Richter hin, der gerade das Urteil verlesen hat, und sagt mit ruhiger Stimme: Ich werde die Strafe absitzen. Ich bin bereit, für diesen da den Urteils­spruch zu tragen mit allen Konse­quenzen. Er soll den Gerichts­saal als freier, un­bescholte­ner Mensch verlassen. Er muss lediglich mit dieser Regelung ein­verstanden sein. Und dann geschieht das Unglaub­liche: Der Richter lässt sich auf diesen Vorschlag ein und nimmt das Angebot des Fremden an, stell­vertretend für dich die Strafe abzubüßen.

Liebe Gemeinde, der Fremde ist Jesus Christus. Was Jesus am Kreuz erlitten hat, das ist die Strafe, die du mit deiner Schuld vor Gott verdient hast. Wir brauchen jetzt gar nicht lange darüber zu disku­tieren, ob du die Strafe verdient hast, ob Tod und Hölle nicht viel zu grausam sind. Wer sind wir schon, dass wir mit Gott rechten könnten? Lies nur aufmerksam in der Bibel, wie du eigentlich in Gottes Augen sein solltest, und dann vergleiche es ehrlich damit, wie du in Wirklich­keit bist. Dein Gewissen wird dann schon Gott recht geben müssen, der dich schuldig spricht. Aber dann kommt das großartige Wort vom Kreuz, das großartige Evangelium. Christus tritt für dich ein und trägt deine Strafe. Du kannst als freier, un­bescholte­ner Mensch vor Gott stehen; wie einer, der nie gesündigt hat. Gott lässt sich auf diese Lösung ein, ja, er er hat sie sogar selbst in die Welt gesetzt, weil er uns trotz allem sehr liebt. Du brauchst nur ja zu sagen zu dem, was dir seit der Taufe gilt: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Du brauchst nur an das Evangelium zu glauben, an den Mann am Kreuz, der dann auch auf­erstanden und in die ewige Seligkeit voraus­gegangen ist. Dorthin wirst du ihm nachfolgen, wenn du ihm vertraust – so, als wäre da nie eine Sünde in deinem Leben gewesen. Ist das nicht phan­tastisch?

Ja, dieses Wort vom Kreuz ist das Einzige, was in der Kirche und in ihrer Ver­kündigung letztlich zählt. Und die Kirche ist auch die einzige Ein­richtung, die diese Botschaft weitersagen kann. Die Kirche – das sind die Menschen, die getauft sind und an Jesus Christus glauben; die Menschen, die durch den Heiligen Geist erleuchtet sind; die Menschen, unter denen Gott sich seine Leute für den Dienst der Ver­kündigung auswählt. Paulus schrieb: „Wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist,… uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist.“ Das Wort vom Kreuz ist insofern ein Geheimnis, als dass wir seinen Sinn nicht mit unserem Verstand erfassen können. Wir können uns seinen Sinn nur von Gott schenken lassen zusamment mit dem Glauben. Wer nicht bereit ist, sich von Gott mit Glauben beschenken zu lassen, dem wird dieses Geheimnis göttlicher Weisheit völlig rätselhaft bleiben, ja sogar un­vernünftig oder lächerlich erscheinen. Dass Gottes Sohn für unsere Schuld sterben musste, das kann man logisch nicht begreifen. Manche sagen offen: Das kann doch nicht wahr sein!, und viele andere denken im Stillen so. Aber ist nicht gerade das ein Hinweis darauf, dass es von Gott kommt? Welcher Mensch hätte sich so etwas ausgedacht, was der Vernunft total gegen den Strich geht? Und wie hätte es sich ohne Zutun von oben in der ganzen Welt ausbreiten können – nachdem eine Handvoll armseliger, schwäch­licher, verzagter und zum großen Teil sogar un­gebildeter Menschen es zu predigen begann? Paulus schrieb: „Ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit über­redenden Worten mensch­licher Weisheit.“ Nein, es ist ganz und gar Gottes Botschaft, die Botschaft vom Mann am Kreuz, und Gott weckt auch den Glauben daran. Noch einmal Paulus: „Mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit über­redenden Worten mensch­licher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschen­weisheit, sondern auf Gottes Kraft.“

Liebe Gemeinde, wenn ich heute ganz einfach dasselbe weitergebe wie Paulus damals, nämlich Jesus Christus den Gekreuzigten, dann tue ich es im Vertrauen auf eben diese Kraft. Ich habe das Zutrauen, dass Gott durch die Kreuzesbotschaft euren Glauben stärkt und euch so den Weg des ewigen Lebens führt. Hohe Weisheit und große Worte kann ich nicht anbieten. Für Lebens­hilfe, Erziehung und gesell­schafts­politisches Engagement fühle ich mich nicht sach­kundiger als ihr. Aber eines will ich euch nicht ver­schweigen: Wenn ihr den Mann am Kreuz den Herrn eures Lebens sein lasst und wenn ihr Gott darum bittet, dass euch das Wort vom Kreuz immer mehr durch­dringt, dann wird sich schon in dieser Welt und in eurem all­täglichen Leben etwas ändern. Ihr werdet dann nämlich in den Nöten und Problemen dieser Welt Wesent­liches von Un­wesent­lichem unter­scheiden können. Krankheit, Traurig­keit, Leid und Tod werden euch nicht mehr verzweifelt fragen lassen: Gott, wie kannst du das zulassen?, sondern ihr werdet immer klarer erkennen, dass das Kreuz zum Christen­leben dazugehört. Ein Jünger Jesu soll das Kreuz annehmen und auf sich nehmen, wie sein Meister es getan hat. Er soll es geduldig tragen bis zur Vollendung in Herrlich­keit. Paulus hat das auch gelernt. Er hat seine chronische Krankheit aus Gottes Hand angenommen. Er hat viel Hass, Verfolgung und Unfälle auf seinen Reisen erlitten. Er musste unter Furcht und Zittern predigen. Er wusste: Das persönliche Kreuz gehört zur Botschaft vom Kreuz Christi dazu. Gott hat den Seinen viel zu sagen durch das Kreuz: Es lehrt sie beten. Es lehrt sie Geduld. Es lehrt sie, nicht so sehr der eigenen Kraft zu vertrauen, sondern Gottes Kraft. Es lehrt sie, über Gottes Hilfe fröhlich und dankbar zu werden. Es lehrt sie, andere zu trösten. Es lehrt sie, von einer ver­gänglichen Welt Abschied zu nehmen und auf die un­vergäng­liche zu schauen. Soviel Gutes bedeutet das Kreuz uns Christen, dass es uns auch im persön­lichen Leben lieb und wert werden kann, auch wenn der alte Adam dabei seufzt. Und wenn das Kreuz Christi über deinem Leben steht, dann wird auch klar, worauf es bei der Leitung und Erziehung der Jugend ankommt. Es kommt ja letztlich nur auf Eines an: dass die jungen Menschen Jesus lieb gewinnen; dass sie erfahren, was der Mann am Kreuz für sie getan hat; dass sie ihm vertrauen; dass sie nach seinem Willen fragen. Wenn das der Fall ist, dann ist alles gut. Dann mögen Jugendliche sich noch so verrückt kleiden und gebärden, dann mögen sie noch so ver­schlungene Wege gehen und über die Älteren den Kopf schütteln. Dann ist es nicht wichtig, ob sie nach unseren Maßstäben anständig sind, ob sie eine solide Ausbildung und einen guten Arbeits­platz haben. Wenn sie nur den Mann am Kreuz lieb gewinnen!

Wenn das Kreuz über deinem Leben steht, deutet sich auch Antworten für andere Probleme an. Wenn du dich von Gott so sehr geliebt weißt, hast du es zum Beispiel nicht nötig, durch Leistung und Erfolg zu glänzen; du bist ja ein Erbe des ewigen Lebens. Und du weißt auch, dass du nicht krampfhaft und ängstlich für dich zu sorgen brauchst, weil der Vater im Himmel dich versorgt. Du wirst dann frei, für andere zu sorgen. Du brauchst dann deine Freude auch nicht im Unter­haltungs­angebot dieser Welt zu suchen, sondern du wirst deine Freude in der Gemein­schaft mit Gott und seiner Gemeinde haben. Das sind nur ein paar An­deutungen. Ent­scheidend wichtig bleibt das Eine: dass wir wissen und glauben, was Jesus am Kreuz für uns getan hat. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1988.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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