Ach, dass du den Himmel zerrissest…

Predigt über Jesaja 63,19 zum 2. Advent

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

„Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ – das ist der Stoßseufzer eines kummer­vollen Herzens. Wenn Gott doch nur bald erscheinen und dem Elend ein Ende machen würde! „Komm doch!“, heißt es auch in vielen Advents­chorälen. „O komm, ach komm vom höchsten Saal, / komm, tröst uns hier im Jammertal“, singen wir mit dem Lied, das unserem Jesaja-Wort nach­gedichtet wurde: „O Heiland, reiß die Himmel auf“. Ja, das ist der Stoßseufzer eines kummer­vollen Herzens, das sich Gottes Hilfe herbeisehnt – so wie man sich an einem trüben Tag danach sehnt, dass die Wolkendecke aufreißt und strahlender Sonnen­schein durch­bricht. „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“

Der Zusammen­hang dieses Wortes macht klar, dass es in die Not der Babylo­nischen Gefangen­schaft der Juden gehört. Jerusalem und der Tempel waren kaputt, die Juden mussten in einem fremden Land fremden Herren dienen. Zu ihren Leiden und Strapazen hatten sie obendrein noch das Empfinden, ihr Gott habe sich als schwach und unterlegen erwiesen gegenüber den Götzen Babylons. Er hatte es zugelassen, dass sein Haus zerstört und sein Volk geknechtet wurde. Die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs waren auf einem Tiefpunkt angelangt; sie waren ver­zweifelt. Sie klagten: „Wenn Gott doch vom Himmel herabkäme mit Macht. Wenn er doch unsere Feinde strafte und und Recht schaffte, uns befreite.“ „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“

Dieser Ruf, dieser Stoßseufzer zieht sich sinngemäß durch die Jahr­hunderte, in denen Gottes Volk unterwegs ist. Mit der Geburt und der Erlösungs­tat des Heilands bekommt diese Erwartung Konturen: Wenn doch Jesus nur bald wiederkäme und uns zu sich nähme! „Ach, dass du den Himmel zer­rissest…“ „Komm, Herr Jesus!“, heißt es im vorletzten Vers der Bibel. „Maranatha!“ beteten die ältesten christ­lichen Gemeinden bei jeder Abendmahls­feier; das ist aramäisch und heißt: „Unser Herr, komm!“ Sie hatten es schwer mit ihrem Glauben, die ersten Christen, denn sie wurden verlacht, verachtet und verfolgt. Der Apostel Paulus bekannte den Philippern: „Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre“ (Phil. 1,23). In den ersten christ­lichen Jahr­hunderten sind manche Märtyrer fröhlich und singend in den Tod gegangen, weil sie wussten: Bald sind all meine Leiden zu Ende, und dann darf ich bei Christus sein. Martin Luther hatte manche innere und äußere Not zu bestehen und sehnte sich den „lieben Jüngsten Tag“ herbei, wie er ihn nannte. Paul Gerhardt, der hoch­begnadete Pastor und Lieder­dichter des 17. Jahr­hunderts, freute sich wie ein Kind auf Christi Wieder­kommen und das himmlische Paradies. Auch er hatte viel zu leiden: Nicht nur, dass man ihn wegen seiner standhaften Haltung zum luthe­rischen Bekenntnis straf­versetzte. Er wusste auch etwas von Krieg und Pest, hatte er doch den 30‑jährigen Krieg miterlebt. Und er wusste, was es heißt, Frau und Kinder zu verlieren. Auf diesem Hintergrund versteht man seinen Trostvers noch besser, den wir in der Adventszeit häufig singen: „Das schreib dir in dein Herze, / du hoch­betrübtes Heer, / bei denen Gram und Schmerze / sich häuft je mehr und mehr: / Seid unverzagt, ihr habet / die Hilfe vor der Tür; / der eure Herzen labet / und tröstet, steht allhier.“

Im vorigen Jahrhundert wurden schwarze Afrikaner von räube­rischen Seefahrern und Kolonial­mächten gefangen genommen und wie Vieh auf Schiffen nach Amerika trans­portiert. Dort verkaufte man sie als Sklaven. Sie gehörten sich nicht mehr selbst und mussten schwerste Arbeit tun. Wie die Juden in der Babylo­nischen Gefangen­schaft mussten sie im fremden Land fremden Herren dienen. Wir können uns ihre Leiden kaum vorstellen. Vielleicht hat der eine oder andere von euch den Roman „Onkel Toms Hütte“ gelesen; da kann man etwas davon erahnen. Diese schwarzen Sklaven waren Christen und sehnten sich von ganzem Herzen aus ihrem Jammertal in den Himmel. Ganz wunderbar geben ihre Lieder bis zum heutigen Tag Zeugnis davon, die berühmten Spirituals. „Swing low, sweet chariot, coming for to carry me home“ – „Komm herab, liebliche Himmels­kutsche, und trage mich nach Hause.“ Oder: „Rock my soul in the bosom of Abraham“ – „Wiege meine Seele in Abrahams Schoß“. Oder: „Oh when the Saints go marching in“ – „Wenn die Heiligen in den Himmel einziehen, dann, Herr, lass mich doch dabeisein.“ Ob die Musiker noch etwas von dem tiefen Stoßseufzer wissen, der sich hinter diesem Lied verbirgt, wenn sie es als Unter­haltungs­musik spielen? „Ach, dass du den Himmel zerrissest!“ „Komm, reiß mich aus diesem Jammertal!“

Und du, du stehst vielleicht auch in dieser langen Reihe derer, die sich aus dem Elend der Welt in den Himmel sehnen. Es mag sein, dass kaum einer etwas weiß von deinem Kummer. Aber du sehnst dich nach einem besseren Leben. Resigniere nicht, sondern mach dir den Stoßseufzer aus dem Jesajabuch zu eigen: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Ja, Christus wird dich hören; er wird einst kommen und dich zu sich in den Himmel nehmen – damit darfst du dich trösten. Und es ist der einzige dauerhafte Trost, der auch über den Tod hinweg­tröstet. Christus wird kommen. Und damit du das besser glauben kannst und in der Vorfreude gestärkt wirst, kommt er heute schon in den wunderbar tröstlichen Worten der Bibel, in seinem Leib und Blut beim Altar­sakrament sowie auch im Trost der Mit­christen. Wenn du leiden musst und nicht weißt, wie es weitergehen soll in deinem Leben, dann lass diesen Stoßseufzer auch von deiner Seele gen Himmel gehen. Mach dir dieses gott­gewirkte Gebet zu eigen: „Ach, dass du den Himmel zerrissest!“ Komm, Herr Jesus, und führe mich in die ewige Seligkeit!

Es mag aber sein, dass du das alles nicht verstehen kannst. Sicher, du hast es so gelernt, dass Jesus einmal wiederkommt und dass wir Gott auch darum bitten sollen. Aber vielleicht ist dein Herz gar nicht dabei. Vielleicht sagt dir dieses Wort aus dem Jesajabuch ebensowenig wie die Advents­bitte: „O komm, ach komm vom höchsten Saal, / komm, tröst uns hier im Jammertal.“ Vielleicht findest du das Leben ja ganz schön und würdest es nicht als Jammertal bezeichnen. Vielleicht hast du es dir hier ganz gut ein­gerichtet und genießt dein Leben. Vielleicht empfindest du so, wie der christliche Lieder­macher Manfred Siebald getextet hat: „Wir haben es uns gut hier ein­gerichtet; / der Tisch, das Bett, die Stühle stehn, / der Schrank, mit guten Dingen voll­geschichtet. / Wir sitzen, alles zu besehn. / Dann legen wir uns ruhig nieder / und löschen, müd vom Tag, das Licht / und beten laut: Herr, komm doch wieder! / Und denken leise: Jetzt noch nicht.“ Ja, so geht es vielen Christen, vor allem jüngeren Leuten. Sie wissen, dass sie sich eigentlich nach dem Himmel sehnen sollten, aber sie wollen erstmal was vom Leben haben. Kinder reden ja bekanntlich die Wahrheit. So hat schon manches kleine Kind seinen Eltern gesagt: Ich möchte gern sterben, damit ich im Himmel bin; da ist es doch so schön. Manchmal sind die Eltern dann entsetzt und halten ihr Kind für nicht ganz normal. Aber sie könnten auch ganz gelassen antworten: Du hast recht, im Himmel ist es wirklich schöner. Aber wir müssen warten, bis Jesus uns zu sich holt. Er weiß nämlich am besten, wann der richtige Zeitpunkt da ist.

Ja, die Tatsache, dass Jesus einmal wieder­kommt, gerät leicht aus dem Blickfeld. Ist dir die Vorstellung unangenehm, er könnte morgen schon kommen, oder noch vor Weih­nachten, bevor alle Türchen des Advents­kalenders offen sind, bevor du deinen Weihnachtsstollen verzehrt hast? Und was hat dir dann der Stoßseufzer aus Jesaja zu sagen: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab“? Es ist ja schließlich ein Wort Gottes, das du als Christ nicht einfach abtun kannst. Nun, wenn du keine Sehnsucht nach Christi Wieder­kommen und nach dem Himmel verspürst, kann und will dir dieses Wort eine Lehre und Mahnung sein. Während es dem Leidenden und Seufzenden ein Trost ist, gibt es dem Lebens­lustigen und Sorglosen zu bedenken: Sieh zu, dass du so beten lernst! Denn das vollkommene Heil wirst du niemals hier auf Erden finden, es kann nur aus dem Himmel kommen. Es mag sein, dass du eine Zeitlang herrlich und in Freuden lebst und meinst, du kommst eigentlich auch ohne Gott ganz gut zurecht. Aber früher oder später wirst du merken, dass dieses Lebens Freuden nur flüchtig und vorüber­gehend sind. Und wenn du dann nicht gen Himmel blicken gelernt hast auf den wieder­kommenden Christus, wird da nur Ver­zweiflung sein. Versuche also, in die Advents­bitte hinein­zuwachsen: „Komm, Herr Jesus!“, und: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Denn dann kümmerst du dich um das Aller­wichtigste – um das Einzige, was bleibt. Auch wenn es dir gut geht, kannst du lernen, dich auf den Himmel zu freuen. Du kannst sagen: Hier auf Erden ist es schön, aber das ist nur vorüber­gehend. Im Himmel wird es noch schöner sein, und zwar für immer. Darum will ich mich darauf einstellen und bereit werden, all das hier los­zulassen, um die Hände frei zu haben für den größeren Schatz im Himmel.

Liebe Gemeinde, lasst uns also alle miteinander beten lernen: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ – die Traurigen als hoffnungs­vollen Trost, die Zufriedenen als Besinnung auf das Wesent­liche. Ja, komm bald, Herr Jesus! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum