Freude, die niemand wegnehmen kann

Predigt über Johannes 16,21‑23a zum Sonntag Jubilate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn heute eine Frau ein Kind erwartet, bereitet sie sich meistens sehr gewissen­haft darauf vor. Sie geht regelmäßig zum Arzt, macht Schwanger­schafts­gymnastik, pflegt eine gesunde Lebens­weise, liest die passenden Sachbücher und lässt sich beraten. Aber wenn es soweit ist, wenn die Wehen einsetzen, wenn sie im Kreißsaal liegt und die Geburt beginnt, dann muss sie Schmerzen erleiden, da hilft alles Vorbereiten nichts. Eine Hebamme erzählte mir einmal, dass einfache Frauen, etwa Frauen aus armen Ländern oder Frauen mit Migrations­hintergrund, viel lockerer an eine Geburt herangehen als zum Beispiel gründlich vor­bereitete Aka­demike­rinnen; die würden leicht verkrampfen und es besonders schwer haben. Nun, gleich ob viel Vor­bereitung oder wenig, bis zum heutigen Tage gilt, was Jesus als allgemeine menschliche Erfahrung so formu­lierte: „Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen.“ „Ihre Stunde“, damit ist die von Gott fest­gesetzte Stunde gemeint, in der sie gebären soll. Und Gott war es auch, der Eva und all ihren Töchtern nach dem Sündenfall den Geburts­schmerz auferlegt hat, ebenso wie er Adam und all seinen Söhnen die Disteln und Dornen des Ackers, also ihre täglichen Arbeits­mühe, auferlegte. Wenn eine Frau bei der Geburt starke Schmerzen hat, dann ist das also etwas ganz Natür­liches. Es ist un­umgänglich, es ist ein Zeichen Gottes, das uns auf den Boden der Tatsachen zurückruft und daran erinnert: Wir sind von der Sünde gezeichnet.

Auch der zweite Teil des Satzes, den Jesus sagte, gibt eine allgemeine menschliche Erfahrung wieder: „Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“ Wer unter euch Mutter ist, kann es vielleicht bestätigen: Der schönste Augenblick im Leben einer Frau ist es, wenn sie gerade ein Kind zur Welt gebracht hat. Sie bekommt dann das kleine Wesen in den Arm gelegt und denkt voll Freude: Da bist du nun also, mein Kleines! Du bist mein Kind, ich darf jetzt für dich da sein. Was wir miteinander wohl alles erleben werden? Vor lauter Freude sind die Schmerzen der Geburt vergessen, auch wenn der weibliche Körper noch einige Tage braucht, um sich wieder zu erholen. Und das ist wohl auch eine Freude, die kein Mann und keine kinderlose Frau völlig nach­vollziehen kann – die Freude einer jungen Mutter darüber, „dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“

Jesus aber, der die Herzen aller Menschen kennt, weiss um diese größte Freude einer Mutter und nimmt sie als Bild für eine andere Freude, die er seinen Jüngern kurz vor seinem Tod verheißen hat. Er sagte ihnen: „Und auch ihr habt nun Traurig­keit; aber ich will euch wieder­sehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“

Das Bild und seine Deutung sind leicht ver­ständlich; es geht uns Christen leicht ein, tröstet uns in den schmerz­lichen Erfahrungen dieser Welt und schenkt uns die fröhliche Hoffnung der ewigen Seligkeit. Ja, wir haben nun Traurig­keit, und je älter ein Mensch wird, desto mehr nimmt sie gewöhnlich zu. Lebens­träume bleiben unerfüllt; Ent­täuschungen kommen; Kinder bleiben nicht klein und niedlich, sondern machen Kummer; die Leistungs­fähigkeit des Körpers nimmt ab; Ver­schleiß­erscheinun­gen und chronische Er­krankungen stellen sich ein; schließlich heißt es immer wieder Abschied nehmen: vom Beruf, von lieben Menschen der eigenen Generation, vom freizügigen Umherfahren und Reisen, endlich vom Leben überhaupt. Aber dieser letzte Schmerz, diese letzte Angst, dieser letzte Kampf ist eigentlich ein Geburts­schmerz – der Geburts­schmerz zu Gottes neuer Welt. Da wird dann vergessen sein, was uns hier auf Erden belastete. „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird“, so versprach es Gott durch den Propheten Jesaja (Jes. 65,17). Und während die Freude der jungen Mutter vorüber­gehend ist, während sie auf manchen Kummer gefasst sein muss, den sie mit ihrem Kind später haben wird, so ist die Freude des neuen Lebens bei Gott eine ewig ungetrübte Freude – eine Freude, „die niemand von euch nehmen soll“, wie Jesus sagte.

Noch eine andere Besonder­heit wird diese Freude aus­zeichnen. „An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen“, führte Jesus weiter aus. Wie viele Fragen an unseren Herrn schleppen wir in diesem Leben noch mit uns herum! Wenn wir uns mit Gottes Wort ernsthaft be­schäftigen oder wenn wir diese Welt im Licht von Gottes Wort verstehen wollen, stoßen wir immer wieder an die Grenzen unserer Erkenntnis. Im hellen Licht der Ewigkeit aber wird uns keine Frage mehr dunkel bleiben, es wird uns wie Schuppen von den Augen fallen, und wir werden staunen, wenn als unsere Probleme dieser Welt wie Seifen­blasen zerplatzen werden.

Liebe Gemeinde, eigentlich war ich jetzt ein wenig vorschnell in der Deutung dieser Worte Jesu. Ich habe zu schnell so getan, als ob Jesus diese Sätze unmittelbar zu uns heute geredet hätte. Das ist gefährlich. Vielleicht ist die Situation, in die hinein Jesus damals redete, gar nicht mit der unsrigen ver­gleichbar. Lasst mich also an dieser Stelle zurück­blenden in die Zeit, zu der Jesus dies gesagt hat. Die Verse sind Teil der sogenannten Abschieds­reden Jesu. Das sind sozusagen die Tischreden, die er unmittelbar nach der Einsetzung des Heiligen Abendmahls hielt. Er sprach sie demnach an demselben Tag, als er verraten und verhaftet wurde, einen Tag vor seiner Hin­richtung. Vorher hatte er den Jüngern an­gekündigt, dass sie ihn nach einer kleinen Weile nicht mehr sehen können und dass sie ihn dann nach einer weiteren kleinen Weile wiedersehen werden. Die Jünger hatten nichts kapiert und nach­gefragt. Und da erzählte ihnen Jesus das Gleichnis mit der schwangeren Frau. Wenn wir uns das vor Augen führen, erkennen wir, dass Jesus mit dem Freudentag des Wieder­sehens seine Auf­erstehung gemeint hat. Dem Geburts­schmerz entsprechen dann die drei ent­setzlichen Tage, an denen die Jünger auf­geschreckt von ihrem verhafteten Meister flohen, ihn verrieten und sich sehr fürchteten. Als sie dann aber den Auf­erstandenen sahen, war die Freude um so größer. Und da kapierten sie auch erst, warum das alles so geschehen musste. Jesus musste ja sterben und auf­erstehen, damit er die Sünden der Welt sühnen konnte. Jesus musste ja sterben und auf­erstehen, damit die Prophe­zeiungen des Alten Testaments erfüllt würden. Jesu musste ja sterben und auf­erstehen, weil der Vater ihn zu diesem Zweck in die Welt gesandt hatte. Dann, nach Ostern, kapierten die Jünger Gottes frohe Botschaft, das Evangelium, und konnten es weiter­sagen. Sie brauchten ihren Meister dann nichts mehr zu fragen, sondern konnten im Gegenteil der Welt ihre größte Frage be­antworten, nämlich die Frage nach Schuld, Leid und Tod. Und diese Osterfreude war eine Freude, die ihnen niemand mehr wegnehmen konnte, auch nicht mit Peitschen­hieben, Kerkerhaft und Foltertod. Diese Freude sollte ihnen in alle Ewigkeit erhalten bleiben.

Liebe Gemeinde, unter diesem Blickwinkel betrachtet, leben wir als Jünger Jesu Christi heute schon in der Freuden­zeit, also in der Zeit nach dem Geburts­schmerz. Wir haben ja unseren lebendigen Herrn jetzt bei uns; er begegnet uns durch Wort und Sakrament. Wir haben die Frohe Botschaft, dass uns durch seinen Tod nichts mehr von Gott trennt und die ewige Seligkeit geschenkt wird. Wir brauchen ihn nichts mehr zu fragen, denn wir wissen ja alles, was zu unserem Heil nötig ist: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du gerettet!“ (Apostel­gesch. 16,31) Wir wissen, dass Tod und Leid in dieser Welt ihren Stachel verloren haben für die, die Jesu Jünger sind. Wir können gewiss sein, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Wir können niemals tiefer fallen als in die Hände Gottes. Ja, wir haben es beneidens­wert gut! Wir haben allen Grund, Lob- und Danklieder zu singen! Diese Freude kann uns niemand wegnehmen, sie steht so felsenfest wie Gottes Eid, mit dem er sie uns zugesagt hat. Wir leben in der nach­österlichen Freuden­zeit, die den Jüngern damals erst angekündigt wurde.

Sollte nun etwa die Deutung, die ich vorhin gegeben habe, abwegig sein? Und wie kommt es, dass diese Freude oft genug nicht durch­schlägt bei uns, dass die kleinen und großen Probleme dieses Lebens uns so leicht nieder­geschlagen machen können? Es kommt daher, dass wir noch „im Fleisch“ sind, wie die Bibel es formuliert. Wir leben im Glauben, noch nicht im Schauen. Wir sehen den auf­erstandenen Christus als Sieger über alles Elend dieser Welt erst mit Glaubens­augen, noch nicht mit leiblichen Augen. Dieser Glaube ist zuweilen sehr schwach und an­gefochten. Wenn ein Mensch von nichts anderem geprägt wäre als von dem Glauben an seinen auf­erstandenen Herrn, könnte ihn nichts in dieser Welt anfechten. Er könnte immer loben und danken, egal, was ihm zustößt. Er wüsste ja ganz sicher, dass dieser Welt Leiden zeitlich und leicht sind. Er wüsste, dass er ganz geborgen ist bei Gott. Weil aber nun einmal unser Glaube angefochten und schwach ist, macht uns vieles in dieser Welt ängstlich und verzagt. Weil der Glaube angefochten und schwach ist, können auch Christen oftmals nicht singend und lachend in den Tod gehen, sondern quälen sich sehr in diesem letzten Kampf, empfinden Geburts­schmerz zur Auf­erstehung. Kurz: Wir leben in der Zeit des Schon und zugleich des Noch-Nicht.

Wir merken also, dass beide Deutungen der Worte Jesu ihre Berechti­gung haben: Die Deutung auf den ersten Ostermorgen hin und die Deutung auf den Jüngsten Tag hin. Beides steht ja auch in un­mittelbarem Zusammen­hang: Ostern ist der Tag der Auf­erstehung Jesu Christi, der Jüngste Tag ist der Auf­erstehungs­tag der übrigen Menschen. Christus ist der „Erstling“ geworden „unter denen, die da schlafen“, heißt es in der Bibel (1. Kor. 15,20); er hat die Auf­erstehung zum Leben demonstra­tiv vorweg­genommen. An Jesus können wir erfahren, wie es uns am Jüngsten Tag ergehen wird. Und mit der Auf­erstehung Jesu ist auch die nie enden wollende Freude für die Jünger bereits vorweg­genommen, die uns am Jüngsten Tag in ganzer Fülle erfassen wird. Wir leben im Schon und zugleich im Noch-Nicht. Wir haben schon die Freude des Evan­geliums: Der Geburts­schmerz des Karfreitags liegt hinter uns; unser Herr lebt nun in alle Ewigkeit; Gottes Gute Nachricht von der Sünden­vergebung ist klar am Tage. Anderer­seits haben wir noch den Geburts­schmerz der Leiden dieser Welt. Darum singen wir heute am Sonntag Jubilate: „In dir ist Freude – in allem Leide, o du süßer Jesu Christ.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

 


 

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