Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Ganz nüchtern und objektiv berichtet der Evangelist Lukas von der Kreuzigung und Grablegung Jesu. Er berichtet von den Ereignissen, die beobachtet, und von den Worten, die gesprochen wurden. Daran wird deutlich: Unser Glaube gründet nicht auf menschlichen Gedanken und Gefühlen, sondern auf Tatsachen. Diese Tatsachen wollen wir uns jetzt vor Augen führen. Wir wollen dabei aber nicht wie Unbeteiligte einen Geschichtsbericht hören. Denn so wahr die Ereignisse von Golgatha einmalig und wirklich in der Menschheitsgeschichte stattgefunden haben, so wahr haben sie bis zum heutigen Tag für uns auch ihre aktuelle Bedeutung. Betrachten wir den Gottessohn in dieser Geschichte, so können wir damit Gott ins Herz sehen, wie er bis heute über uns Menschen empfindet. Betrachten wir die Menschen in dieser Geschichte, so können wir in ihnen wie in einem Spiegel unser eigenes Herz sehen – wie es ohne Gott aussieht und wie es sich unter dem Kreuz Jesu verändert.
„Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken.“
Hier sind die Qualen der grausamsten antiken Hinrichtungsart in einem Wort zusammengefasst, in dem Wort „kreuzigen“ nämlich. Langsam und qualvoll gehen die Leiber der Verurteilten zugrunde, vor aller Augen. Aber nicht die leibliche Qual der Kreuzigung ist es, die den Gottessohn hier so hart drückt. Leiblich gesehen haben es die beiden Mitverurteilten genauso schwer. Leiblich gesehen müssen viele Gefolterte oder Schwerkranke bis zum heutigen Tag so leiden wie Jesus. Nein, Jesus muss zusammen mit diesen leiblichen Qualen die Strafe für alle Sünden der Welt tragen. Er nimmt damit den Zorn des Vaters auf sich, der sich über die ganze Welt ergießen müsste. Darum ist das Kreuz Christi mehr als ein Zeichen der Solidarität Gottes mit allen Leidenden, für das man es oft ausgibt. Es ist das Zeichen dafür, wieviel Zorn wir mit unserer Schuld verdient haben und wieviel uns Gott erspart, indem er's seinem Sohn auflegt.
„Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“
Hier sehen wir unserem Heiland und damit auch unserem himmlischen Vater direkt ins Herz: Selbst unter diesen unsäglichen Qualen, die man ihm bereitet, ist sein Herz voller Liebe! Er will, dass alle gerettet werden. Die Folterknechte wissen nicht, was sie tun, wissen nicht, dass sie Gottes Sohn ans Kreuz bringen. Sie sind gefangen in einer finsteren Welt, in der die Auflehnung gegen Gott und seine Ordnung regiert. Jesus tut das, was zu seinem Amt als Hoherpriester des neuen Bundes gehört: Er hält beim Vater Fürsprache für uns arme Sünder, damit wir Vergebung erlangen. Denn auch wenn es nicht unsere Hände waren, die mit schweren Hammerschlägen die Nägel durch Hände und Füße Jesu trieben, so sind es doch unsere Sünden, die ihn ans Kreuz brachten. Jesus hat mit diesen Worten auch für unser finsteres Herz gebetet, dass der Vater es erleuchten möge, und der Vater hat die Bitte erhört: Gott sei Lob und Dank, die Schuld ist uns vergeben!
„Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu.“
So war es damals üblich: Die Verurteilten wurden nackt hingerichtet, und ihre Kleider durften die Soldaten wie Beute untereinander aufteilen. Mit der Kleidung wurden die Gekreuzigten des letzten Rests ihrer Würde beraubt, und das Volk stand daneben und sah zu! So war es auch gedacht: Die Hinrichtung sollte abschreckend wirken. Tut sie diese Wirkung bei uns? Kriegen wir einen Schreck über unsere Sünde, die Jesus ans Kreuz gebracht hat? Oder stehen wir einfach da wie die Volksmassen damals und gaffen; sind wir hier, um ein bisschen sentimentale Karfreitags-Stimmung mitzunehmen, die heute nachmittag schon wieder vergessen ist?
„Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.“
Der Spott der führenden Juden zeigt ihr Unverständnis. Sie verstehen nicht, warum der Helfer und Heiler so vieler Leidender nichts gegen das eigene Leid unternimmt. Sie können nicht einsehen, warum derjenige, der Gottes Sohn und der Messias sein wollte, so ohnmächtig und schändlich zugrunde geht. Der Spott liegt uns fern angesichts des Kreuzes; finden wir aber nicht auch in unserem Herzen das Unverständnis? Warum rettet Jesus uns ausgerechnet durch das schandbare Kreuz? Warum beweist er seine rettende Kraft nicht viel machtvoller; warum lässt er es zu, dass so viele bis zum heutigen Tage nicht glauben? Warum findet sich das Leidenskreuz in so vielfacher Gestalt in der Welt – ein Glaubenshindernis für viele? Wir wissen heute, was die Oberen der Juden damals nicht wissen konnten; wir wissen, warum Jesus sich damals nicht vom Kreuz herab geholfen hat. Darum lasst uns aus dem, was wir noch nicht verstehen, keine Anklage gegen Gott machen. In Gottes Ewigkeit ist die Antwort auf unser Nichtverstehen gut aufgehoben.
„Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber!“
Dem Spott der Juden schließt sich der Spott der römischen Soldaten an. Und Sie denken sich dazu ein grausames Spiel aus. Sie halten Jesus ihren Erfrischungstrunk vor das Gesicht, gerade so weit entfernt, dass er nicht herankommt. Sie tun so, als ob sie ihm dienen wollen, aber sie wollen nur ihren Spott haben. „Bist du der Juden König, so hilf dir selber!“, sagen sie. Dieser grausame Spott steckt auch in unseren Herzen. Wie oft bieten wir Jesus unseren Dienst an, ohne es ernst zu meinen? Zur Konfirmation versprachen wir, ihm bis an unser Ende treu zu sein, und wie oft sind wir ihm seither untreu geworden, wie oft war uns anderes wichtiger als er!
„Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.“
Es ist merkwürdig, wie treffend manchmal die Wahrheit von völlig Ahnungslosen verkündet wird; hier vom römischen Statthalter Pontius Pilatus, der dieses Schild am Kreuz Jesu anbringen ließ. Wie bei anderen zum Tode Verurteilten will er damit ganz einfach die Urteilsbegründung bekannt machen – das gehörte zur Abschreckung der Öffentlichkeit dazu. Und da er nach römischem Recht keine Schuld an Jesus gefunden hat, schreibt er als Urteil einfach das auf, was er von den Juden als Anklage gehört hat: „König der Juden“ habe sich dieser genannt. Den Juden ist diese Überschrift ohne jede weitere Erklärung natürlich ein Ärgernis: Ihr König – ein schandbar zum Tode Verurteilter! Uns aber leuchtet in dieser Überschrift das helle Evangelium entgegen, wir sehen in Gottes Herz: Jesus Christus, der König der Juden, und nicht nur der Juden, sondern der König der ganzen Welt, unser König, der sich nicht zu schade war, für uns seinen Königsthron im Himmel zu verlassen und auf die tiefste Stufe menschlicher Existenz hinabzusteigen! Was für einen König haben wir da, der uns so sehr liebt!
„Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!“
Nicht nur die Obersten der Juden, nicht nur die Soldaten, sondern sogar einer der Mitgekreuzigten lästert Jesus in seiner Qual. Und er möchte auch den dritten am Kreuz in diesen Spott einbeziehen und sagt deshalb: „Hilf dir selbst und uns.“ Dieser aber lässt sich nicht vereinnahmen, sondern…
„wies ihn zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar zu Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“
Bis zum heutigen Tag können wir beobachten, was an den beiden Mitgekreuzigten offenbar wird: Im Leid, im Angesicht des Todes, scheiden sich die Geister. Der eine lästert Gott, der andere findet zur Buße. Er erkennt, dass er zu Recht da hängt, dasss er ein Sünder ist. Er erkennt die Unschuld Jesu, und dass allein Jesus ihm in dieser letzten Not helfen kann. So wendet er sich um Hilfe an ihn. Gebe Gott, dass wir uns wie der Letztere verhalten, wenn große Not über uns kommt, besonders, wenn es die letzte Not ist! Dann wird auch uns das Wort Jesu gelten:
„Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“
Dieses Trostwort verheißt dem Mitgekreuzigten zum einen, dass seine Qual abgekürzt werden wird, denn in der Regel dauerte das Sterben von Gekreuzigten mehrere Tage. Jesus sagt: „Heute noch …“ Zum andern malt ihm Jesus die wunderbare Hoffnung des himmlischen Paradieses vor Augen, die auch dem schlimmsten Verbrecher und Übeltäter gilt, wenn er nur Buße tut.
„Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.“
Finsternis ist ein Zeichen von Gottes Gericht. Die Finsternis, die am Todestage Jesu zwischen l2 und l5 Uhr entstand, lässt sich naturwissenschaftlich nicht erklären; es war keine normale Sonnenfinsternis. Mit dieser Finsternis zeigt Gott der Menschheit vielmehr sein Herz; er zeigt, dass er sein Gericht über die Sünde der Welt auf diesen einen Mann am Kreuz ableitet, an diesem einen Tag. Das Kreuz Jesu ist der Blitzableiter von Gottes Zorn für alle Menschen. Auch das zweite Zeichen Gottes macht dies deutlich: Der Tempelvorhang zerreißt wie von selbst, der das Allerheiligste sonst vor den Blicken der Priester und Tempelbesucher verbarg. Der Zugang zu Gott dem Vater ist nun frei für jedermann durch das Opfer, das der Sohn am Kreuz gebracht hat.
„Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.“
Bis zum letzten Atemzug bleibt Jesus gehorsam und ohne Sünde, bis zum letzten Atemzug hat er Frieden mit seinem himmlischen Vater, obwohl dieser ihn seinen ganzen Zorn schmecken lässt. Nie werden wir das zu tragen haben, was Jesus in dieser Stunde trug. Sollten wir da je mit dem Allmächtigen hadern, wenn er uns ein Kreuz zu tragen gibt? Sollten wir je an seiner Liebe zweifeln? Lasst uns nur getrost in jeder Lage auch unsern Geist in seine Hände legen!
„Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was das geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um.“
Wo Gottes Herz so offenbar zutage tritt wie am Tag der Hinrichtung Jesu, können Menschenherzen nicht dieselben bleiben, wenn sie sich es denn erfassen, was da geschieht. Der römische Zenturio, der die Hinrichtung zu überwachen hat, spürt, dass Jesus kein Verbrecher ist, sondern ein Frommer, ein Gerechter, einer, den Gott lieb hatte. Und die Umstehenden schlagen sich an die Brust als Zeichen der Buße, so wie der Zöllner an seine Brust schlug, der im Tempel betete: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Wer unter dem Kreuz steht und Gott ins Herz schaut, wer am Kreuz Gottes Zorn und Gottes noch viel größere Liebe entdeckt, dessen Herz kann nicht kalt bleiben; er muss seine Sünde erkennen, die groß ist, und Gottes Barmherzigkeit, die noch viel größer ist.
„Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“
Der Evangelist Lukas war kein Augenzeuge der Kreuzigung. Er hat sein Evangelium vielmehr aufgrund sorgfältiger Studien und Befragungen von Zeugen geschrieben; heute würde man sagen: Er hat gründlich recherchiert. Das hat er zu Beginn des Evangeliums auch ausdrücklich versichert. Und so dient dieser Vers zur Bestätigung, dass sein Bericht keine selbst zusammengereimte Geschichte ist, sondern dass es Zeugen dafür gibt, die alles gesehen haben und die es bis zum Erscheinungstag des Evangeliums alles bestätigen können. Noch einmal: Wir haben es hier mit Tatsachen zu tun, die den sicheren Grund unseres Glaubens bilden. Zu diesen Tatsachen gehört es denn auch, was Lukas über das ehrenhafte Begräbnis schreibt, das Jesus trotz seines menschlich so unehrenhaften Todes erhält. Lasst uns zum Abschluss auch diesen Bericht hören – nicht als einen Schlusspunkt, sondern als einen Gedankenstrich, der sich am Sonntag in der herrlichen Osterbotschaft fortsetzt.
„Und siehe, da war ein Mann mit Namen Josef, ein Ratsherr, der war ein guter, frommer Mann und hatte ihren Rat und ihr Handeln nicht gebilligt. Er war aus Arimathäa, einer Stadt der Juden, und wartete auf das Reich Gottes. Der ging zu Pilatus und bat um den Leib Jesu und nahm ihn ab, wickelte ihn in ein Leinentuch und legte ihn in ein Felsengrab, in dem noch nie jemand gelegen hatte. Und es war der Rüsttag, und der Sabbat brach an. Es folgten aber die Frauen nach, die mit ihm gekommen waren aus Galiläa, und beschauten das Grab und wie sein Leib hineingelegt wurde. Sie kehrten aber um und bereiteten wohlriechende Öle und Salben. Und den Sabbat über ruhten sie nach dem Gesetz.“
Amen.
PREDIGTKASTEN |