Gott und den Menschen ins Herz sehen

Predigt über Lukas 23,33‑56 zum Karfreitag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ganz nüchtern und objektiv berichtet der Evangelist Lukas von der Kreuzigung und Grablegung Jesu. Er berichtet von den Er­eignissen, die beobachtet, und von den Worten, die gesprochen wurden. Daran wird deutlich: Unser Glaube gründet nicht auf mensch­lichen Gedanken und Gefühlen, sondern auf Tatsachen. Diese Tatsachen wollen wir uns jetzt vor Augen führen. Wir wollen dabei aber nicht wie Un­beteiligte einen Geschichts­bericht hören. Denn so wahr die Ereignisse von Golgatha einmalig und wirklich in der Menschheits­geschichte statt­gefunden haben, so wahr haben sie bis zum heutigen Tag für uns auch ihre aktuelle Bedeutung. Betrachten wir den Gottessohn in dieser Geschichte, so können wir damit Gott ins Herz sehen, wie er bis heute über uns Menschen empfindet. Betrachten wir die Menschen in dieser Geschichte, so können wir in ihnen wie in einem Spiegel unser eigenes Herz sehen – wie es ohne Gott aussieht und wie es sich unter dem Kreuz Jesu verändert.

„Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädel­stätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken.“

Hier sind die Qualen der grausamsten antiken Hinrichtungs­art in einem Wort zusammen­gefasst, in dem Wort „kreuzigen“ nämlich. Langsam und qualvoll gehen die Leiber der Ver­urteilten zugrunde, vor aller Augen. Aber nicht die leibliche Qual der Kreuzigung ist es, die den Gottessohn hier so hart drückt. Leiblich gesehen haben es die beiden Mit­verurteilten genauso schwer. Leiblich gesehen müssen viele Gefolterte oder Schwer­kranke bis zum heutigen Tag so leiden wie Jesus. Nein, Jesus muss zusammen mit diesen leiblichen Qualen die Strafe für alle Sünden der Welt tragen. Er nimmt damit den Zorn des Vaters auf sich, der sich über die ganze Welt ergießen müsste. Darum ist das Kreuz Christi mehr als ein Zeichen der Solidarität Gottes mit allen Leidenden, für das man es oft ausgibt. Es ist das Zeichen dafür, wieviel Zorn wir mit unserer Schuld verdient haben und wieviel uns Gott erspart, indem er's seinem Sohn auflegt.

„Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“

Hier sehen wir unserem Heiland und damit auch unserem himmlischen Vater direkt ins Herz: Selbst unter diesen unsäglichen Qualen, die man ihm bereitet, ist sein Herz voller Liebe! Er will, dass alle gerettet werden. Die Folter­knechte wissen nicht, was sie tun, wissen nicht, dass sie Gottes Sohn ans Kreuz bringen. Sie sind gefangen in einer finsteren Welt, in der die Auflehnung gegen Gott und seine Ordnung regiert. Jesus tut das, was zu seinem Amt als Hoher­priester des neuen Bundes gehört: Er hält beim Vater Fürsprache für uns arme Sünder, damit wir Vergebung erlangen. Denn auch wenn es nicht unsere Hände waren, die mit schweren Hammer­schlägen die Nägel durch Hände und Füße Jesu trieben, so sind es doch unsere Sünden, die ihn ans Kreuz brachten. Jesus hat mit diesen Worten auch für unser finsteres Herz gebetet, dass der Vater es erleuchten möge, und der Vater hat die Bitte erhört: Gott sei Lob und Dank, die Schuld ist uns vergeben!

„Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu.“

So war es damals üblich: Die Ver­urteilten wurden nackt hin­gerichtet, und ihre Kleider durften die Soldaten wie Beute unter­einander aufteilen. Mit der Kleidung wurden die Ge­kreuzigten des letzten Rests ihrer Würde beraubt, und das Volk stand daneben und sah zu! So war es auch gedacht: Die Hinrichtung sollte ab­schreckend wirken. Tut sie diese Wirkung bei uns? Kriegen wir einen Schreck über unsere Sünde, die Jesus ans Kreuz gebracht hat? Oder stehen wir einfach da wie die Volksmassen damals und gaffen; sind wir hier, um ein bisschen sentimen­tale Karfreitags-Stimmung mit­zunehmen, die heute nachmittag schon wieder vergessen ist?

„Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.“

Der Spott der führenden Juden zeigt ihr Un­verständnis. Sie verstehen nicht, warum der Helfer und Heiler so vieler Leidender nichts gegen das eigene Leid unternimmt. Sie können nicht einsehen, warum derjenige, der Gottes Sohn und der Messias sein wollte, so ohnmächtig und schändlich zugrunde geht. Der Spott liegt uns fern angesichts des Kreuzes; finden wir aber nicht auch in unserem Herzen das Un­verständnis? Warum rettet Jesus uns aus­gerechnet durch das schandbare Kreuz? Warum beweist er seine rettende Kraft nicht viel macht­voller; warum lässt er es zu, dass so viele bis zum heutigen Tage nicht glauben? Warum findet sich das Leidens­kreuz in so vielfacher Gestalt in der Welt – ein Glaubens­hindernis für viele? Wir wissen heute, was die Oberen der Juden damals nicht wissen konnten; wir wissen, warum Jesus sich damals nicht vom Kreuz herab geholfen hat. Darum lasst uns aus dem, was wir noch nicht verstehen, keine Anklage gegen Gott machen. In Gottes Ewigkeit ist die Antwort auf unser Nicht­verstehen gut aufgehoben.

„Es ver­spotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber!“

Dem Spott der Juden schließt sich der Spott der römischen Soldaten an. Und Sie denken sich dazu ein grausames Spiel aus. Sie halten Jesus ihren Erfrischungs­trunk vor das Gesicht, gerade so weit entfernt, dass er nicht herankommt. Sie tun so, als ob sie ihm dienen wollen, aber sie wollen nur ihren Spott haben. „Bist du der Juden König, so hilf dir selber!“, sagen sie. Dieser grausame Spott steckt auch in unseren Herzen. Wie oft bieten wir Jesus unseren Dienst an, ohne es ernst zu meinen? Zur Kon­firmation versprachen wir, ihm bis an unser Ende treu zu sein, und wie oft sind wir ihm seither untreu geworden, wie oft war uns anderes wichtiger als er!

„Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.“

Es ist merkwürdig, wie treffend manchmal die Wahrheit von völlig Ahnungs­losen verkündet wird; hier vom römischen Statthalter Pontius Pilatus, der dieses Schild am Kreuz Jesu anbringen ließ. Wie bei anderen zum Tode Ver­urteilten will er damit ganz einfach die Urteils­begründung bekannt machen – das gehörte zur Ab­schreckung der Öffentlich­keit dazu. Und da er nach römischem Recht keine Schuld an Jesus gefunden hat, schreibt er als Urteil einfach das auf, was er von den Juden als Anklage gehört hat: „König der Juden“ habe sich dieser genannt. Den Juden ist diese Überschrift ohne jede weitere Erklärung natürlich ein Ärgernis: Ihr König – ein schandbar zum Tode Ver­urteilter! Uns aber leuchtet in dieser Überschrift das helle Evangelium entgegen, wir sehen in Gottes Herz: Jesus Christus, der König der Juden, und nicht nur der Juden, sondern der König der ganzen Welt, unser König, der sich nicht zu schade war, für uns seinen Königsthron im Himmel zu verlassen und auf die tiefste Stufe mensch­licher Existenz hinab­zusteigen! Was für einen König haben wir da, der uns so sehr liebt!

„Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!“

Nicht nur die Obersten der Juden, nicht nur die Soldaten, sondern sogar einer der Mit­gekreuzigten lästert Jesus in seiner Qual. Und er möchte auch den dritten am Kreuz in diesen Spott einbeziehen und sagt deshalb: „Hilf dir selbst und uns.“ Dieser aber lässt sich nicht ver­einnahmen, sondern…

„wies ihn zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar zu Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“

Bis zum heutigen Tag können wir beobachten, was an den beiden Mit­gekreuzigten offenbar wird: Im Leid, im Angesicht des Todes, scheiden sich die Geister. Der eine lästert Gott, der andere findet zur Buße. Er erkennt, dass er zu Recht da hängt, dasss er ein Sünder ist. Er erkennt die Unschuld Jesu, und dass allein Jesus ihm in dieser letzten Not helfen kann. So wendet er sich um Hilfe an ihn. Gebe Gott, dass wir uns wie der Letztere verhalten, wenn große Not über uns kommt, besonders, wenn es die letzte Not ist! Dann wird auch uns das Wort Jesu gelten:

„Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Dieses Trostwort verheißt dem Mit­gekreuzigten zum einen, dass seine Qual abgekürzt werden wird, denn in der Regel dauerte das Sterben von Ge­kreuzigten mehrere Tage. Jesus sagt: „Heute noch …“ Zum andern malt ihm Jesus die wunderbare Hoffnung des himmlischen Paradieses vor Augen, die auch dem schlimmsten Verbrecher und Übeltäter gilt, wenn er nur Buße tut.

„Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.“

Finsternis ist ein Zeichen von Gottes Gericht. Die Finsternis, die am Todestage Jesu zwischen l2 und l5 Uhr entstand, lässt sich natur­wissenschaft­lich nicht erklären; es war keine normale Sonnen­finsternis. Mit dieser Finsternis zeigt Gott der Menschheit vielmehr sein Herz; er zeigt, dass er sein Gericht über die Sünde der Welt auf diesen einen Mann am Kreuz ableitet, an diesem einen Tag. Das Kreuz Jesu ist der Blitz­ableiter von Gottes Zorn für alle Menschen. Auch das zweite Zeichen Gottes macht dies deutlich: Der Tempel­vorhang zerreißt wie von selbst, der das Aller­heiligste sonst vor den Blicken der Priester und Tempel­besucher verbarg. Der Zugang zu Gott dem Vater ist nun frei für jedermann durch das Opfer, das der Sohn am Kreuz gebracht hat.

„Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.“

Bis zum letzten Atemzug bleibt Jesus gehorsam und ohne Sünde, bis zum letzten Atemzug hat er Frieden mit seinem himmlischen Vater, obwohl dieser ihn seinen ganzen Zorn schmecken lässt. Nie werden wir das zu tragen haben, was Jesus in dieser Stunde trug. Sollten wir da je mit dem All­mächtigen hadern, wenn er uns ein Kreuz zu tragen gibt? Sollten wir je an seiner Liebe zweifeln? Lasst uns nur getrost in jeder Lage auch unsern Geist in seine Hände legen!

„Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was das geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um.“

Wo Gottes Herz so offenbar zutage tritt wie am Tag der Hinrichtung Jesu, können Menschen­herzen nicht dieselben bleiben, wenn sie sich es denn erfassen, was da geschieht. Der römische Zenturio, der die Hinrichtung zu überwachen hat, spürt, dass Jesus kein Verbrecher ist, sondern ein Frommer, ein Gerechter, einer, den Gott lieb hatte. Und die Umstehenden schlagen sich an die Brust als Zeichen der Buße, so wie der Zöllner an seine Brust schlug, der im Tempel betete: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Wer unter dem Kreuz steht und Gott ins Herz schaut, wer am Kreuz Gottes Zorn und Gottes noch viel größere Liebe entdeckt, dessen Herz kann nicht kalt bleiben; er muss seine Sünde erkennen, die groß ist, und Gottes Barmherzig­keit, die noch viel größer ist.

„Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“

Der Evangelist Lukas war kein Augenzeuge der Kreuzigung. Er hat sein Evangelium vielmehr aufgrund sorg­fältiger Studien und Befragungen von Zeugen ge­schrieben; heute würde man sagen: Er hat gründlich recher­chiert. Das hat er zu Beginn des Evangeliums auch aus­drücklich versichert. Und so dient dieser Vers zur Be­stätigung, dass sein Bericht keine selbst zusammen­gereimte Geschichte ist, sondern dass es Zeugen dafür gibt, die alles gesehen haben und die es bis zum Erscheinungs­tag des Evangeliums alles bestätigen können. Noch einmal: Wir haben es hier mit Tatsachen zu tun, die den sicheren Grund unseres Glaubens bilden. Zu diesen Tatsachen gehört es denn auch, was Lukas über das ehrenhafte Begräbnis schreibt, das Jesus trotz seines menschlich so un­ehrenhaften Todes erhält. Lasst uns zum Abschluss auch diesen Bericht hören – nicht als einen Schluss­punkt, sondern als einen Gedanken­strich, der sich am Sonntag in der herrlichen Oster­botschaft fortsetzt.

„Und siehe, da war ein Mann mit Namen Josef, ein Ratsherr, der war ein guter, frommer Mann und hatte ihren Rat und ihr Handeln nicht gebilligt. Er war aus Arimathäa, einer Stadt der Juden, und wartete auf das Reich Gottes. Der ging zu Pilatus und bat um den Leib Jesu und nahm ihn ab, wickelte ihn in ein Leinentuch und legte ihn in ein Felsengrab, in dem noch nie jemand gelegen hatte. Und es war der Rüsttag, und der Sabbat brach an. Es folgten aber die Frauen nach, die mit ihm gekommen waren aus Galiläa, und beschauten das Grab und wie sein Leib hinein­gelegt wurde. Sie kehrten aber um und bereiteten wohl­riechende Öle und Salben. Und den Sabbat über ruhten sie nach dem Gesetz.“

Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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