Die Salbung in Betanien

Predigt über Markus 14,3‑9 zum Sonntag Palmarum

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Zu der Zeit, als ich die Grundschule besuchte und der schulische Religions­unterricht noch Christen­lehre hieß, wurde in meiner Klasse einmal über die biblische Geschichte der Salbung in Betanien gesprochen. Ich erinnere mich noch gut, wie eine heiße Diskussion zwischen uns Schülern und der Lehrerin entbrannte. Die einen sagten: Heute ist Jesus nicht mehr leibhaftig unter uns, darum sollen wir heute mit unserem Geld den Armen dienen. Andere wider­sprachen: Jesus hat doch die Frau in Schutz genommen, die ihn salbte; so ist es richtig, wenn auch heute noch Geld direkt zur Ehre Gottes ausgegeben wird, etwa für schöne Kirch­gebäude, für Blumen­schmuck oder für die Kirchen­musik. Ich weiß nicht mehr genau, wie das Gespräch damals endete. Ich möchte vorerst auch nicht Partei ergreifen für eine dieser beiden Meinungen, denn sonst könnte es geschehen, dass wir über dem vor­schnellen Fragen nach unserm mensch­lichen Verhalten Gottes wunderbares Tun vergessen, das doch in der Bibel die Hauptsache ist.

Führen wir uns die Geschichte von Betanien noch einmal vor Augen: In der Woche nach seinem Einzug in Jerusalem hält Jesus sich tagsüber im Tempel auf. Die Nächte verbringt er jedoch in Betanien, einem östlichen Vorort von Jerusalem. Dort wohnen unter anderem Maria, Marta und ihr Bruder Lazarus, den Jesus von den Toten auferweckt hat. An jenem denk­würdigen Abend der Salbung ist Jesus im Haus eines gewissen Simon zu Gast. Wir wissen kaum etwas über diesen Mann, können aber annehmen, dass Jesus ihn einmal vom Aussatz befreit hat, denn er wird „Simon der Aussätzige“ genannt. Da kommt eine Frau mit einer kleinen weißen Steinvase, die nach Art einer Ampulle kostbares kos­metisches Öl enthält, zebricht das Gefäß und leert den Inhalt über Jesu Haupt aus. Schon die Verpackung macht deutlich, was dann aus­drücklich vermerkt ist: die wohl­riechende Flüssigkeit ist sehr kostbar. Unter den Gästen wird Unmut laut. Die Evange­listen Matthäus und Johannes schreiben, dass es Jesu Jünger sind, und Johannes nennt auch die Frau beim Namen: Es ist Maria, Martas Schwester, die einst zu Jesu Füßen saß und zuhörte. Das kurze Markus­evangelium beschränkt sich auf das Wesentliche und nennt keine Namen. Wie gesagt, Unmut wird laut: Man hätte das teure Nass verkaufen und das Geld den Armen geben können. Zum bevor­stehenden Passafest ist es üblich, den Armen besondere Gaben zukommen zu lassen, damit auch sie sich ein Festessen leisten können. Jesus nimmt die Frau in Schutz und erklärt, dass sie ein gutes und gott­gefälliges Werk getan hat. Er sagt: „Sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis.“

An dieser Stelle begegnet uns ganz deutlich das, was ich vorhin Gottes wunderbares Tun genannt habe. Deshalb möchte ich von drei Beob­achtungen, die ich in dieser Geschichte mache, die folgende Beobachtung an die erste Stelle setzen: Jesus deutet den Liebes­dienst der Frau als pro­phetisches Zeichen auf sein Begräbnis hin. Es war damals gang und gäbe, Verstorbene mit kostbaren Ölen einzu­balsamie­ren; so hat man es ja auch später mit Jesu Leichnam gemacht. Wenn die Frau nun Jesus ein­balsamiert, als er noch lebt, dann weist das zeichenhaft auf seinen Tod hin und darauf, dass er trotz der schmach­vollen Hinrichtung am Kreuz ein würdiges Begräbnis erhalten wird. Dabei ist es nicht wichtig, ob der Frau das bewusst war; wahr­scheinlich war es ihr nicht bewusst, und sie hat einfach ihrem Herrn etwas Liebes tun wollen. Aber der Prophet ist ja Jesus selbst, und durch seine Deutung wird der Liebes­dienst der Frau zu einer zeichen­haften Weissagung und damit zu einem Mosaikstein in dem wunderbaren Bild alt­testament­licher und neu­testament­licher Leidens­ankündigen des Herrn. Der Dienst der Frau ist ein Mosaikstein in jenem Bild, das da zeigt: Jesus gerät nicht zufällig in Leiden, Tod und Grab, er erleidet keine Panne auf seinem gott­gewollten Weg, sondern sein ganzes Erdenleben findet sein Ziel im Tod; da liegt sein eigent­licher Auftrag. Jesu Tod ist unser Leben, und das war von Anfang an bei Gott so beschlossen und wurde schon im Voraus verkündigt. In der Geschichte von der Salbung schreit alles: Hier ist Gottes Lamm, das die Sünden der Welt trägt, und es schickt sich nun an, seinen bitteren Opferweg zu gehen.

Wir machen nun in Gedanken einen deutlichen Absatz und kommen zur Beobachtung Nummer zwei. Die bezieht sich nun auf mensch­liches Verhalten, und zwar auf das Verhalten der Frau einerseits und auf das Verhalten der Jünger anderer­seits. Die Jünger ärgern sich über die Frau – wie sie sich schon vorher mal über diejenigen ärgerten, die Kinder zu Jesus brachten. Offenbar ist das bis heute eine Lieblings­beschäfti­gung vieler Jünger Jesu geblieben (ich selbst will mich da keineswegs ausnehmen): sich über andere ärgern. Argumente sind immer schnell zur Hand, mit denen man seinen Ärger begründen kann. Die Jünger dachten eigentlich ganz vernünftig: Schade um das teure Öl! Es muss eine Stange Geld gekostet haben, und in ein paar Stunden ist die Wirkung verpufft. Hunderte von Armen hätten sich für dieses Geld eine schönes Festessen leisten können. Un wie reagiert Jesus darauf? Er kommt nicht mit Gegen­argumenten, er nimmt zunächst einmal die Frau in Schutz. Er sagt: Lasst sie in Frieden! Macht ihr keinen Kummer! Wertet ihren Liebes­dienst nicht ab! Sie hat ein gutes Werk getan. Ja, all das ist ein gutes Werk, was aus Liebe zu Jesus getan wird. Und weil Jesus die Herzen Menschen und somit auch das Herz dieser Frau kennt, weiß er um ihre Liebe und kann ihr Tun deshalb ein gutes Werk nennen. Auf diese Weise führt er den Jüngern unangenehm deutlich vor Augen, dass ein wirklich getanes gutes Werk besser ist als hundert gute Werke, die man tun könnte. Er sagt mit leiser Ironie: „Wenn ihr wollt, könnt ihr den Armen allezeit Gutes tun.“ Mir fällt dazu Erich Kästners Reim ein: „Es gibt nichts Gutes, / außer man tut es.“ Damit zeigt sich in dieser Geschichte eine weitere Schwäche, die bis heute unter Jesu Jüngern weit verbreitet ist: Es werden unendlich viele Worte gemacht, was man alles Gutes tun könnte, auch darüber, was vielleicht nicht so gut ist – und unterdessen bleibt vieles Gute ungetan. Was hört und redet man nicht alles über die Probleme in Dorf und Welt, über Einsamkeit, Hunger, bösartige Krankheiten und Familien in Not! Wie sollen wir darauf reagieren? Ich habe keine Strategie und keine Patent­rezepte, ich kann nur eins sagen: Handelt aus dem christ­lichen Glauben heraus, habt die Menschen lieb und zeigt ihnen das – so wie die Frau damals zeigte, dass sie Jesus lieb hat. „Es gibt nichts Gutes, / außer man tut es.“

Erst nach diesen zwei Beob­achtungen wollen wir uns in einer dritten Beobachtung der Frage stellen, was es denn heißt, Jesus heute zu dienen. Sind wir jetzt allein an die Armen gewiesen, oder können wir Jesus direkt etwas Gutes tun, etwa durch Kirchen­schmuck und Musica Sacra? Der ent­scheidende Satz Jesu lautet: „Ihr habt allezeit Arme bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.“ Es ist klar, dass Jesus hier von seiner leibhaftig sichtbaren Anwesenheit auf Erden redet; das geht aus dem Zusammen­hang der Salbung hervor. Es ist deshalb auch klar, dass wir Jesus heute nicht mehr mit irdischen Dingen erfreuen können: Wir können ihm keine Mahlzeit kochen, kein Gewand schneidern und kein Wohnhaus bauen; jedenfalls können wir das nicht direkt. Indirekt können wir es durchaus, indem wir nämlich bedürftigen Mitmenschen mit unseren Gaben dienen. Was einer aus dem Glauben heraus an ihnen tut, das tut er dem Herrn selbst. Wie aber können wir Christus direkt dienen? Gottes Wort lehrt: indem wir ihm als unserm Heiland Vertrauen schenken; indem wir sein Wort gerne hören und lernen; indem wir mit Lob, Dank und Bitte vor ihn treten. Das sind allesamt keine dinglichen Güter, die wir ihm geben können, sondern das läuft letztlich auf eines heraus: unser Herz. Was ist aber mit den Dingen? Was sagen wir zu christ­licher Kunst, Architektur und Musik? Wenn wir es genau überlegen, dienen sie Jesus nicht direkt, sondern – ebenso wie die Werke der Nächsten­liebe – über den Umweg der Menschen. Christus hat bestimmt nicht an einem Kruzifix an sich Gefallen, sondern nur daran, dass Menschen durch Betrachtung dieses Kruzifixes sich besser in das Evangelium vertiefen können. Und ein Kirch­gebäude wäre nutzlos, wenn sich dort keine Menschen zum Gottes­dienst sammeln würden; es wäre in der Tat bloß Geld­verschwen­dung. Und eine Orgel dient nicht zum Lob Gottes, wenn sie nicht dem Spieler und der singenden Gemeinde ein Hilfsmittel für ihr Gotteslob wird. Es ist tatsächlich so: Heute, in der Zeit nach der Himmel­fahrt, können wir Jesus mit materiellen Mitteln niemals direkt dienen. Wer es dennoch versucht, der begeht den Fehler der mittel­alterlichen Mönche, die sich selbst allerlei Opfer ausgedacht haben, um Gott damit zu gefallen. Nein, unsere materiellen Gaben sind jetzt, in der Zeit nach Ostern, aus­schließlich für die Armen da; sei es für die wirtschaft­lich Armen oder für uns selbst, die wir im Glauben und im Gotteslob noch so arm sind. Kirch­gebäude, christliche Kunst oder Musik­instrumente können uns helfen, darin reicher zu werden.

So lehrt uns die Geschichte aus Betanien dreierlei: Erstens, dass die Salbung ein pro­phetisches Zeichen auf das Begräbnis Jesu ist und uns im Glauben gewiss macht, dass Jesus mit seinem Tod den vom Vater vorher­bestimmten Weg zu unserer Erlösung gegangen ist. Zweitens, dass gute Werke aus einem liebenden und glaubenden Herzen ganz fröhlich und einfältig getan werden können, während langes Diskutieren über das Tun des Guten nichts bringt. Drittens, dass Jesus in der heutigen Zeit mit materiellen Gaben nur auf dem Umweg über den Dienst am Menschen gedient werden kann. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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