Das Weizenkorn

Predigt über Johannes 12,24‑26 zum Sonntag Lätare

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Kennt ihr dieses unangenehme Gefühl, dieses merkwürdige Kribbeln im Magen, diese Angst in den Tagen davor? Beispielsweise die Angst der Tage vor der Klassen­arbeit oder vor der Prüfung oder vor einer Bewährungs­probe? Den einen packt sie mehr, den andern weniger, aber jeder kennt sie – diese Angst in den Tagen und Stunden davor. Sie nagt und frisst, sie ist ein bisschen wie Sterben, und die bestandene Bewährungs­probe ist danach wie eine kleine Auf­erstehung.

Auch Jesus kannte diese Angst. Er hatte sogar Todesangst in den Tagen und Stunden davor, so heißt es in der Bibel. Jesus war eben auch ganz Mensch. Aber die Prüfung, die auf ihn wartete, verlangte Über­mensch­liches von ihm: Unter Folter­qualen, Spott und Todeskampf sollte er alles Elend dieser Welt tragen. Was heißt tragen – er sollte daran zerbrechen! Erst nachdem er ganz unten war – wirklich ganz unten! – , sollte es zur Auf­erstehung kommen. Unsere Prüfungen sind leicht, weil wir uns darin bewähren können; und auch wenn sie schief gehen, kommen wir in jedem Fall mit heiler Haut davon. Jesu Prüfung bestand darin, sich nicht bewähren zu dürfen, sondern leiden zu müssen, sterben zu müssen, menschlich gesehen auf der ganzen Linie scheitern zu müssen. Und da hatte er Angst vor, Todesangst.

Aber Jesus wusste, dass er sich von seiner Angst nicht treiben lassen durfte. Ent­scheidend wichtig war es ihm vielmehr, in den Tagen davor seinen Jüngern noch einmal das Wichtigste mitzugeben. Sie sollten später nicht nur über Jesu Angst und Leiden predigen, sondern vor allem darüber, warum er diesen Weg gehen musste. Darum sagte er ihnen wenige Tage vor dem schwär­zesten Freitag der Welt­geschichte: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“

Was den Jüngern an Gottes Willen nicht in den Kopf wollte und was vielen Menschen bis heute nicht in den Kopf will, zeigt dieses Gleichnis als etwas ganz Selbst­verständ­liches. Jesus ist das Weizenkorn. Er muss ersterben; er muss in die Erde, in den Tod. Wenn nicht, dann würde er sein Leben zwar bewahren, aber allein bleiben. Keiner sonst könnte dann ewiges Leben haben. Wenn Jesus aber stirbt, bringt er viel Frucht, viele neue lebendige Weizen­körner: Menschen nämlich, die eine lebendige Beziehung zu Gott dem Vater haben wie er selbst und die auch ewig leben wie er.

Liebe Weizen­körner (so will ich euch darum jetzt nennen, denn das ist ja dasselbe wie Brüder und Schwestern), was dem einen Weizenkorn recht war, muss uns andern billig sein. Das ist das Geheimnis der Nachfolge: Wie Jesus sein Leben drangegeben hat für uns, so sollen auch wir unser Leben für ihn einsetzen. Darum heißt es in der Jesusrede weiter: „Wer sein Leben lieb hat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben.“ Damit ist natürlich nicht gemeint, dass wir unser irdisches Leben verachten sollen. Das deutsche Wort „hassen“ ist hier ein wenig irre­führend. Jesus meinte: Wir sollen unser Leben hintenan stellen, es nicht so wichtig nehmen, es zurück­stellen hinter der großen Aufgabe, die Christus uns gibt, nämlich Frucht zu bringen für das ewige Leben. Wenn wir das tun, werden wir die Fülle des Lebens und das ewige Leben geschenkt bekommen; wenn wir unser irdisches Leben aber gierig festhalten wollen, dann nicht. Das hängt damit zusammen, dass unser Leben in geheimnis­voller Verbindung mit Jesus steht: Er ist das erste Weizenkorn, wir sind die nach­folgenden Weizen­körner, die er als Frucht gebracht hat. Er sagte: „Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.“

Genauso­wenig wie dem Meister bleibt seinen Jüngern die Angst erspart oder was sonst noch für menschlich unangenehme Erfahrungen mit dem Weizenkorn-Sein zusammen­hängen – der Frust, die Müdigkeit oder das Nicht-verstanden-Werden. Da gilt es dann, sich nach Jesu Vorbild nicht in Selbst­mitleid und Entmutigung fallen zu lassen, sondern sich auf das Wesentliche zu besinnen. Das Wesentliche steckt im Weizenkorn-Gleichnis drin: Jesus hat sein Leben für uns hingegeben, und wir haben das ewige Leben als Frucht davon. Aber auch: Wenn der Jünger es sich gefallen lässt, als Weizenkorn in die Erde zu gehen und zu sterben, dann ist Frucht verheißen.

Das war bis jetzt alles sehr allgemein geredet, wie es Sonntags­reden so an sich haben. Aber ihr wollt und sollt ja auch noch morgen, am Montag, Weizenkorn sein, und auch weiterhin. Da möchte ich euch mit dem Weizenkorn-Gleichnis etwas Praktisches auf den Weg geben; etwas, das hilft, Angst und Frust zu überwinden; etwas, das Mut macht. Drei Beispiele möchte ich anführen und einen dreifachen Mut machen: erstens Mut, zweitens Demut und drittens Langmut.

Beispiel eins: Mut. Du unterhältst dich mit jemanden, den du gerade kennen­gelernt hast, über dies und das. Irgendwie spürst du, dass du ihm auch etwas von Jesus sagen solltest. Aber es fehlt dir der Mut. Würde dadurch nicht eure gute Unter­haltung kaputt gehen? Würde der andere vielleicht denken: Was ist das für ein komischer Heiliger? Würde er dich für einen Fanatiker oder Sektierer halten? Auf alle Fälle musst du damit rechnen, dass er irgendwie irritiert ist. Hier heißt es Weizenkorn sein und etwas von sich preisgeben – und sei es auch nur das Image, ein ganz normaler Mensch zu sein. Das eigene Leben zurück­stellen bedeutet hier, nicht auf das eigene Ansehen zu achten, sondern darauf, dass das Evangelium Frucht bringen kann. Hat Jesus, das erste Weizenkorn, es nicht auch in Kauf genommen, miss­verstanden oder abgelehnt oder verspottet zu werden? Weizenkorn sein heißt hier auch: vielleicht scheitern, vielleicht ins Fett­näpfchen treten, vielleicht einen roten Kopf kriegen oder mit un­beholfenen Worten seinen Glauben bekennen. Es kommt nicht so sehr darauf an, wie du als Zeuge Jesu Christi dastehst, sondern dass du als Zeuge dastehst. Weizenkorn sein heißt den Mut zum Investieren haben, nichts für sich aufsparen wollen, nicht das Licht unter den Scheffel stellen, nicht das anvertraute Pfund vergraben, sondern damit wuchern. Töricht ist der Bauer, der den Sack mit Saat­getreide in der Scheune stehen lässt, damit er auch in Notzeiten etwas zu essen hat. Töricht ist der Christ, der seinen Glauben für sich behalten will, damit ihn niemand aufgrund seines Zeugnisses ver­unsichert. Das Weizenkorn muss in die Erde und der Zeuge muss unter die Menschen. Die Frucht aber ist dabei verheißen.

Beispiel zwei: Demut. Du hast eine Arbeit getan – schlecht und recht, so gut du konntest. Da kommt jemand und kritisiert deine Arbeit; er schimpft vielleicht oder macht grinsend eine abfällige Bemerkung. Vielleicht sagt er dir sogar in aller Ruhe und Freundlich­keit, was er an deiner Arbeit auszusetzen hat. Egal – wie reagierst du? Du gehst auf die Barrikaden, je nach Temperament nur innerlich oder auch äußerlich. Du versuchst, dich vor dem andern und vor dir selbst zu recht­fertigen. Du erklärst, was du dir dabei gedacht hast, wieviel Mühe du dir gegeben hast und warum die Arbeit so schlecht nicht sei. Dein Stolz ist verletzt; du willst das eigene Ich behaupten. Weizenkorn sein heißt hier zurück­stecken, Demut üben, ein Stück sterben. Jesus schimpfte nicht zurück, als man ihn anklagte, obwohl die Anklagen ohne jeden Grund waren. Das wider­spricht natürlich total den heutigen Vor­stellungen von gesunder Selbst­behauptung. „Nur nichts gefallen lassen“, lautet die Devise. Jesus dagegen sagte klar: „Wer sein Leben lieb hat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's erhalten zum ewigen Leben.“ Als Weizenkorn vergibt man sich nichts, wenn man Kritik ruhig einsteckt, sei sie nun berechtigt oder nicht. Wenn sie berechtigt ist, kann man etwas aus ihr lernen, und wenn sie un­berechtigt ist, dann weiß man, dass das Werk für sich selbst spricht. Das geht natürlich nur, wenn man darauf vertraut: Mein Wert hängt nicht davon ab, was ich selbst leiste, sondern mein Wert hängt von Jesus ab und davon, was der für mich getan hat. Die Demütigen und Geringen sind die Größten im Reich Gottes. Das Weizenkorn ist nichts aus sich selbst heraus, sondern es ist die Frucht des Weizenkorns Christus. Jeder Mensch, der sich selbst finden und behaupten will, aber Christus nicht hat, ist arm dran, kann er doch immer nur einen in Sünde ver­strickten Menschen finden, wenn er sich selbst findet. Ist das wohl der Grund, warum im Zeitalter der Selbst­findung und des starken Ich-Bewusst­seins psychische Krankheiten so verbreitet sind?

Beispiel drei: Langmut. Eine kleine Kirchen­gemeinde ist traurig, dass trotz intensiver geistlicher Arbeit so wenig Wachstum zu erkennen ist. Nennen wir sie mal die Zachäus­gemeinde. Seit Jahren bemüht man sich um Menschen­seelen und um Bekanntheit in der Öffentlich­keit, doch der erhoffte Durchbruch bleibt aus. Ein Weizenkorn braucht seine Zeit, um zu einer Pflanze heran­zuwachsen und Frucht zu bringen. Ein Weizenkorn muss also Geduld haben – oder Langmut. Eigenartig, dass das Wort „Langmut“ so aus der Mode gekommen ist. Der Begriff „Geduld“ ist eigentlich flacher als Langmut; Langmut hat mehr etwas von langem Atem. Solchen langen Atem hat Gott mit den Menschen, die immer wieder in dieselben Fallen des Satans hinein­tappen. Zum Beispiel in die Falle der Verzagt­heit, wenn der Erfolg eine Zeitlang ausbleibt. Langmut ist nötig. Vor der Frucht steht das Sterben. Auch die Zachäus­gemeinde macht da keine Ausnahme, auch sie muss erst sozusagen ersterben in äußeren Nöten, inneren An­fechtungen und scheinbar stag­nierender Arbeit. Ja, Langmut ist dem Weizenkorn nötig, denn der Weizen wächst nicht von heute auf morgen. Bei Gott sind ein paar Jahre eine Zeitspanne, über die man gar nicht redet. Wartet erst mal ein paar Jahrzehnte ab! Und dann ist immer noch nicht gesagt, wieviel von der Frucht äußerlich sichtbar sein wird.

Dass aber Frucht kommt, das ist verheißen, da können wir Gott beim Wort nehmen. Er hat gesagt: „Mein Wort wird nicht leer zurück­kehren“ (Jes. 55,11). Und wie das Weizenkorn Jesus Christus nach dem Ersterben zu neuer Ehre und Herrlich­keit gekommen ist, so wird es auch uns gehen, liebe Weizen­körner, die wir seine Frucht sind. Jesus sagte: Wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren“ – freilich nicht als gerechte Bezahlung für den Dienst (das könnte sich keiner erdienen), sondern als Gnadenlohn für die, die an Christus glauben, die also zu ihrem Stand als Weizenkorn ja sagen. Die Ehre des Vaters, die ewige Seligkeit, ist die ausgereifte Frucht, die aus uns werden soll. Macht das nicht froh, und macht das nicht Mut – bei allem Ersterben in dieser Zeit? Macht das nicht Mut, Demut und Langmut? Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1986.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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