Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Was wir da eben gelesen haben, ist der Bericht von einer Etappe der zweiten Missionsreise des Apostels Paulus. Nichts Besonderes, könnte man sagen – ein Bericht wie viele andere in der Apostelgeschichte. Paulus und seine Reisebegleiter reisen von Troas nach Philippi. Dort predigt Paulus am Sabbat einigen gottesfürchtigen Frauen und kann eine von ihnen für den Glauben an Jesus Christus gewinnen. Sieht man diesen Bericht aber eingebettet in den großen Erzählbogen, den die Apostelgeschichte spannt, dann ist mit ihm ein wichtiger Einschnitt gegeben, und zwar in doppelter Hinsicht.
Erstens geht der Berichterstatter ganz unvermittelt in die Wir-Form über.“Da fuhren wir aus von Troas“, heißt es. Dieses Wir taucht hier erstmals in der ganzen Apostelgeschichte auf. Wer verbirgt sich dahinter? Autor der Apostelgeschichte ist Lukas, der Verfasser des gleichnamigen Evangeliums. Die Apostelgeschichte ist gewissermaßen die Fortsetzung des Evangeliums. Lukas, ein griechischer Arzt und Intellektueller, hat bis hierher aufgrund genauer Nachforschungen berichtet. Nun gibt er durch die Wir-Form zu erkennen, dass er Paulus ab Troas auf dieser Missionsreise begleitet hat. Wahrscheinlich hat er dem gesundheitlich schwachen Apostel manche medizinische Hilfe zuteil werden lassen; jedenfalls grüßt Paulus im Kolosserbrief liebevoll von ihm. Der Wir-Bericht macht sich für uns als Leser der Apostelgeschichte insofern bemerkbar, als dass wir ab dieser Stelle sehr genaue und lückenlose Berichte über die Reiseroute und die Missionsaufenthalte des Paulus haben.
Der zweite Einschnitt, den dieser Text für die Apostelgeschichte bildet, ist wesentlicher: Zum ersten Mal wird hier berichtet, wie das Evangelium durch den Dienst des Paulus nach Europa kommt. Bis Troas war nichts Entscheidendes auf dieser Missionsreise geschehen. Allerdings hatte es gleich zu Anfang Krach zwischen Paulus und seinem früheren Reisegefährten Barnabas gegehen, sodass beide diesmal getrennte Wege zogen. Zwar konnte Paulus einige kürzlich entstandene Missionsgemeinden besuchen und stärken, aber eine Missionstätigkeit in den Provinzen Mysien und Bithynien, wie er sie ursprünglich geplant hatte, blieb ihm verwehrt. Nun saß Paulus in der Hafenstadt Troas im Westen von Kleinasien, nur noch durch das Ägäische Meer von Griechenland getrennt. Da bestätigte ihm ein visionärer Traum, was er wohl schon lange geahnt hatte: Er sollte das Evangelium nun auch nach Europa bringen. Ein makedonischer Mann erschien ihm in diesem Traum und forderte ihn auf, in die griechische Nordprovinz Makedonien zu kommen. Paulus erkannte in diesem Traum Gottes Weisung und bereitete ohne Zögern die Überfahrt vor. Schnell war ein Schiff gefunden, das sie an der Insel Samothrake vorhei bis zur Hafenstadt Neapolis mitnahm, dem Hafen der bedeutenden römischen Provinzhauptstadt Philippi. Zunächst versuchte Paulus hier, den Juden das Evangelium zu bringen, wie es für ihn Prinzip war. Es gab keine Synagoge in Philippi, aber an einem Bach vor der Stadt pflegten sich die Juden zum Gottesdienst zu versammeln. Dort hatte Paulus Gelegenheit, mit einigen Frauen der jüdischen Gemeinde zu sprechen, unter ihnen Lydia. Sie stammte aus der kleinasiatischen Stadt Thyatira in Lydien, wo es später auch einmal eine christliche Gemeinde geben sollte. Als Händlerin des sehr begehrten Textilfarbstoffs Purpur hatte Lydia es zu einigem Wohlstand gebracht; man kann annehmen, dass zu ihrem „Haus“, wie es hier bezeichnet wird, nicht nur Familienangehörige, sondern auch viele Bedienstete gehörten. Lydia war keine geborene Jüdin, sondern sie war zum Judentum übergetreten; die Bezeichnung „gottesfürchtig“ drückt das im Neuen Testament aus. Diese Frau hörte also Paulus von Jesus reden. Da öffnete ihr Gott das Herz, und so wurde sie der erste Mensch, den Paulus in Europa taufte. Ihre Hausangehörigen ließ sie gleich mit taufen, denn nun sollte ihr ganzes Haus christlich werden. Darauf lud sie Paulus und seine Reisegefährten ein, ihre Gäste zu sein.
Wir haben es hier also mit einer entscheidenden Etappe auf dem Siegeszug des Evangeliums zu tun und mit einem entscheidenden Abschnitt der Apostelgeschichte – einer Schrift, die mit jenem abenteuerlichen Auftrag Jesu an die Apostel beginnt: „Ihr werdet meine Zeugen sein zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde“, und die damit schließt, dass Paulus als Prediger des Evangeliums Rom erreicht, die Hauptstadt des römischen Weltreichs. Die Kirche wächst, das Evangelium breitet sich aus, und mit dem gehörten Bericht erleben wir, wie es durch Paulus erstmals nach Europa kommt.
Was empfinden wir heute, wenn wir so einen Bericht hören? Wie kommt uns dieser stürmische Siegeszug des Evangeliums mit zweitausend Jahren Abstand vor? Kann uns so ein Bericht heute irgendwie weiterhelfen?
Zunächst einmal ist uns so ein Bericht ein Anlass zum Loben und Danken. Es ist ein Wunder Gottes, dass sich aus einer Handvoll schlichter Jünger das Evangelium und die Kirche Jesu Christi auf der ganzen Welt ausgebreitet haben. Wir dürfen dankbar sein, dass das Evangelium auf seinem Siegeszug auch nach Europa gekommen ist, dass es nach Rom gelangt ist, dass es dann Staatsreligion wurde und dass es dann schließlich auch zu unseren Vorfahren, den Germanen, kam. Wenn damals nicht Menschen mit großem Eifer und unter Einsatz ihres Lebens die Botschaft weitergetragen hätten, dann säßen wir heute noch im finsteren Heidentum. Gott hat seinen Boten zur rechten Zeit Weisung gegeben, wie wir es am Beispiel des Paulus und seines Traums mit dem Makedonier erkennen können. Und Gott hat Menschen für die Botschaft von Jesus Christus das Herz geöffnet, wie es am Beispiel der Lydia deutlich wird. Gott ist zu preisen dafür, dass die Kirche heute die Welt umspannt, und dafür, dass wir dazugehören dürfen.
Dann aber bringt uns so ein Bericht auch zum Fragen. Wir werden die heutige Situation der Kirche und des Evangeliums mit damals vergleichen. Damals breitete es sich aus wie ein frischer Hefeteig, damals überstürzten sich die Erfolgsmeldungen, wie wir in der Apostelgeschichte nachlesen können. Und heute? Heute können wir eher das Gegenteil beobachten. Zumindest in unserem Land häufen sich die Kirchenaustritte, und viele ältere Christen, die sich noch treu zur Kirche halten haben, sterben. Viele Eltern halten es nicht mehr für nötig, ihre Kinder taufen zu lassen. Entkirchlichte Mitbürger und andersgläubige Ausländer lassen sich kaum mehr zum Glauben an das Evangelium bewegen. Irgendwie ist also der Wurm drin, irgendetwas ist anders als damals, zur Zeit der Apostel, im goldenen Missionszeitalter.
Man kann es sich leicht machen und sagen: Wir leben in der Endzeit, wo der große Abfall vorausgesagt ist. Damals musste die Kirche ja wachsen, weil sie in ihren kleinen, unscheinbaren Anfängen sonst keine Chance gehabt hätte. Damals war sowieso eine besondere Zeit: Der Heilige Geist machte sich noch lautstark bemerkbar, und die Botschaft der Apostel wurde durch mächtige Wunder begleitet. Sicher ist an solchen Überlegungen etwas Wahres dran. Falsch wäre es jedoch, sich aufgrund solcher Überlegungen mit dem Schrumpfungsprozess der Kirche zufrieden zu geben und zu meinen, das sei so in Ordnung. Wir haben es heute in den Tageslesungen gehört und müssen es uns gesagt sein lassen: Gottes Wort kommt in unsere Welt, um zu wirken und Wachstum herbeizuführen. Gottes Wort ist wie Tau und Regen, der Pflanzen wachsen lässt und Frucht hervorbringt. Gottes Wort ist wie Same, der auf verschiedene Arten von Boden fällt, aber irgendwo auch vielfältig Frucht bringt. Gottes Wort, das hier von dieser Kanzel gepredigt wird und das hier in diesem Buch aufgeschrieben ist, ist kraftvoll und hat die Verheißung ungeahnter Wirkungen – nicht nur zur Zeit des Paulus, sondern auch heute noch. Gott will auch heute, dass sich das Evangelium ausbreitet und die Kirche wächst. Er will, dass wir Christen durch sein Wort im Glauben und in der Erkenntnis wachsen. Er will, dass Missionare hinausgehen, auch zu den entlegensten Völkern und Stämmen. Er will, dass unsere kleine Gemeinde hier groß wird, dass sie die Herausforderung der zigtausend Entkirchlichten und Neuheiden in ihrer Umgebung erkennt und annimmt.
Was können wir denn tun? Eine Antwort fällt nicht leicht. Falsch wäre es, sich nach eigenem Gutdünken in hektisches Planen und Missionieren zu stürzen, Programme und Prognosen aufzustellen oder großartige Werbestrategien zu entwerfen. An der Geschichte des Paulus sehen wir: Gott gibt seinen Boten zur rechten Zeit einen Wink, und Gott muss die Herzen der Hörer aufschließen, sonst gelingt garnichts. Falsch wäre es aber auch, die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen: Gott muss ja alles tun, also warten wir ab und überlassen wir ihm die Arbeit. An der Geschichte des Paulus sehen wir: Als er Gottes Wink erkannt hatte, legte er los, plante die Reise, prüfte die missionarischen Möglichkeiten, ging hin und predigte. Wir müssen also sensibel dafür werden, wo Gott uns in seinem Dienst haben will. Vielleicht gibt es etliche Menschen um uns herum, die uns, wie der Makedonier im Traum von Paulus, signalisieren: „Komm herüber und hilf uns!“ Wir müssen Gott bitten, dass er uns auch einen Wink gibt, dass er uns mit der Nase darauf stößt, wo wir für ihn tätig werden können. Und dann sollen wir auch losgehen und das Evangelium bezeugen mit Worten und Taten – ein jeder so, wie er es am besten kann. Wir dürfen dabei das Vertrauen haben: Gottes Wort hat die Verheißung, dass es wirkt und Frucht bringt. Und so, wie Gott sich unverdientermaßen über uns erbarmt und uns zu seinen Kindern gemacht hat, so will er sich über viele erbarmen. Er will es durch seine Boten tun, auch durch mich und durch dich. Amen.
PREDIGTKASTEN |