Wahre Armut und wahrer Reichtum

Predigt über 2. Korinther 8,9 zum 1. Weihnachtsfeiertag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn ein Mensch aus einem armen Land in Deutschland Weihnachten feiern und dann zuhause von den Deutschen berichten würde, dann würde er bestimmt von dem sagenhaften Reichtum der Deutschen erzählen. Vielleicht würde er sagen: Viermal am Tag essen die sich satt, und wenn sie sich nicht satt essen, dann nur, weil sie nicht zu dick werden wollen. Sie schenken sich wertvolle Sachen, und jeder von ihnen hat mindestens vier Paar Schuhe. Auch wenn es in Deutschland sehr kalt ist, brauchen die Deutschen nicht zu frieren: Sie drehen in ihren Häusern einfach an einem Rädchen, und schon wird es gemütlich warm. Auch können sie ihre Häuser abends taghell erleuchten. Fast jeder hat ein Auto und kann auf der Autobahn schneller fahren, als der Wind weht.

Ich könnte fortfahren und noch lange ausmalen, wie märchenhaft reich wir Deutschen in den Augen des armen Ausländers sind – zumindest in materieller Hinsicht. Aber wie steht es mit unserm geistlichen Reichtum? Von solch geistlichem Reichtum schrieb der Apostel Paulus den Korinthern: „Ihr wisst die Gnade unsers Herrn Jesus Christus, dass, ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euret­willen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.“

Ich möchte von einem Mann berichten, der nicht nur in den Augen eines armen Welt­bürgers, sondern auch in unsern Augen als reich gegolten haben muss. Er hatte einen gutgehenden Betrieb, eine liebe Familie und eine robuste Gesundheit; er war leistungs­fähig und überall gut angesehen. Sein Sohn fragte ihn einmal: Papa, für wen häufst du eigentlich all diesen Reichtum an? Ich selbst jedenfalls möchte dein Geschäft später nicht übernehmen; ich sehe keinen Sinn darin. Der Mann wusste damals keine Antwort. Erst viel später, nach einem langen Leidensweg, verstand er die Frage seines Sohnes. Der reiche Mann wurde nämlich Alkoholiker und verlor dadurch nach­einander den familiären Frieden, seinen ganzen Besitz und schließlich seine Gesundheit. Erst als er ganz unten war, merkte er, wie arm er ist – ja, wie arm er eigentlich schon immer gewesen war, auch, als er noch viel Geld hatte; aber der Besitz hatte ihm früher den Blick dafür verstellt. Er war in Wahrheit arm an Lebenssinn; er war geistlich leer. Er erkannte: All die Reichtümer hatte er gar nicht besessen, sondern sie hatten ihn besessen. Und dann wurde er mit jener wunderbaren Erkenntnis beschenkt und wahrhaft reich gemacht, die nur Gott geben kann: Er lernte glauben. Er lernte, dass ein Menschen­leben nur in der Bindung an Gott sinnvoll ist. Wahrhaft reich ist ein Mensch nur als Gottes Kind, als Erbe des Himmel­reichs. Und das schenkt Gott allein durch Jesus Christus. Nachdem der Mann auf seine wahre Armut gestoßen war, machte Christus ihn reich und gab seinem Leben durch die Versöhnung mit dem himmlischen Vater erst den rechten Sinn. Heute ist dieser Mann ein reicher Mann, auch, wenn er noch einen Haufen Schulden hat. Und sein Reichtum strömt auf andere über: Vielen Menschen, besonders andern Alko­holikern, hat er den wahren Sinn ihres Lebens zeigen können und den wahren Reichtum durch Christus.

Ja, Christus macht arme Menschen reich. Unser Bibelvers zeigt auch, wie er das gemacht hat: „Ihr wisset die Gnade unsers Herrn Jesus Christus, dass, ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euret­willen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.“ Der ewige Gottessohn, der Herrscher des Himmels und Herr über Raum und Zeit, verzichtete auf den Gebrauch seiner über­geordneten Stellung und wurde freiwillig arm – uns armen Menschen zugute. Ja, er machte sich sogar dreifach arm, das zeigt uns das Weihnachts­geschehen: Erstens wurde er ein Mensch. Er, durch den alles geschaffen ist, wurde selbst ein Teil der Schöpfung, ein winziges Rädchen im Getriebe. Er unterwarf sich den Be­schränkun­gen von Raum und Zeit, unterwarf sich mensch­lichen Gefühlen, unterwarf sich Schmerzen und der Sterblich­keit. Zweitens wurd er ein Kind. Er, der über alle Menschen Macht hat, verstummte freiwillig und lieferte sich den Händen einer jungen Mutter aus. Ja, er gab sich in die größte menschliche Abhängig­keit – die Abhängig­keit eines neu geborenen Babys. Drittens wurde der Gottessohn auch materiell arm. Er setzte sich der Kälte eines zugigen Viehstalls aus, ruhte auf piekendem Heu und Stroh, wurde der Sohn eines un­bedeutenden und schlecht angesehenen Handwerkers aus Galiläa – unter Umständen, die den Mitmenschen sehr fragwürdig erschienen sein mussten. Und so, wie sein Leben begann – äußerlich arm in jeder Hinsicht – , so ging es weiter: Kein festes Zuhause und keine gesicherte Versorgung, stattdessen Verachtung, Anfeindung, Kälte und schließlich der Verbrecher­tod. Tiefer kann wohl niemand absteigen: von dem höchsten himmlischen Thron hinab in eine erbärmliche menschliche Existenz. Die Theologen nennen es die „Er­niedrigung Christi“, und Paulus schrieb: „Ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euret­willen.“

„Um euret­willen“ – ja, um unsert­willen. Wir sind gemeint, die äußerlich so reichen Menschen, die doch innerlich ganz arm und kaputt wären, wenn Christus uns nicht reich gemacht und uns mit dem Vater versöhnt hätte. Und diese innere Armut, aus der er uns errettet hat, die haben wir genauso verschuldet wie der Alkoholiker seinen wirtschaft­lichen Ruin. Wir haben Gottes Güte, Gottes Segen und Gottes Gemein­schaft sozusagen versoffen, haben sie durch unsere Sünde leicht­fertig ver­schleudert. „Um euret­willen“ – ja, um solcher Menschen willen, die es eigentlich nicht wert sind, hat Christus sich arm gemacht. Nur so gewinnen wir den geistlichen Reichtum zurück, den wir zuvor mit Füßen traten. Der ewig reiche und allmächtige Gottessohn wurde aus Liebe arm, um uns, den durch eigene Schuld Verarmten, ihren Reichtum zurück­zugewinnen. Martin Luther hat das den „fröhlichen Wechsel“ genannt. Einem solchen Gott und Herrn muss man sich doch einfach an­vertrauen! In wessen Hand könnte man sich geborgener fühlen, oder wo sonst könnte man Heil und Seligkeit finden?

Ich könnte jetzt Amen sagen und die Predigt be­schließen, denn mit diesem „fröhlichen Wechsel“ ist das Wesentliche gesagt, was in der Kirche zu sagen wäre. Wer durch das arme Kind in der Krippe und den er­niedrigten Christus am Kreuz reich gemacht wurde, der braucht nicht viel anderes mehr; er kann mit diesem großen göttlichen Reichtum auf die irdischen Reichtümer verzichten, wie wir es am Vorbild des Apostels Paulus sehen. Aber ich möchte nun doch noch einen Schlussteil anfügen, der zwar nicht mehr so wesentlich ist, der aber zum vollen Verständnis dieses Wortes aus dem 1. Ko­rinther­brief nötig ist. War unser Blickfeld bisher ganz von diesem einen Vers erfüllt, so wollen wir nun gleichsam ein paar Schritte zurück­treten und uns das Umfeld betrachten, in dem dieser Vers steht. Die Paulus-Briefe sind ja nicht eine Aneinander­reihung frommer Sprüche, sondern es sind wirkliche Briefe an Menschen aus Fleisch und Blut, die mit ihren besonderen Freuden und Nöten Christen waren und in ihre besondere Situation hinein Briefe mit aposto­lischem Zuspruch bekamen.

Treten wir also einige Schritte zurück und stellen wir fest, dass Paulus den Korinthern hier eine Geld-Predigt hält. Er forderte sie zu reichlichem und freudigem Spenden für die Jerusalemer Gemeinde auf, die sich gerade in einer materiellen Notlage befand. Es mag befremden, dass Paulus hier brieflich über Geld predigt. Manche Leute sind ja der Ansicht, über Geld sollte man nicht reden, besonders nicht in der Kirche, und schon gar nicht öffentlich. Es macht ja zugegebenermaßen einen schlechten Eindruck, wenn ein Pfarrer oder eine Gemeinde geldgierig erscheinen. Paulus aber sieht die Sache un­verkrampft. Er geht davon aus, dass Christus durch den Heiligen Geist den ganzen Menschen heiligt, auch sein Portmonee. Und wenn ein Christ sein Portmonee zum Opfer öffnet, dann ist das genauso ein gutes Werk, wie wenn er den Mund zum Loben und Zeugnis-Geben öffnet, oder wie wenn er seine Hand zu einem Dienst der Nächstenliebe öffnet. Sicher darf nicht eins gegen das andere ausgespielt werden, aber Geld ist nun mal ebenso eine Gabe Gottes wie Singen oder Predigen-Können: Ein Christ wird sie zu Gottes Ehre einsetzen – nicht, damit er sich auf diese Weise von Gott Schätze erkauft, sondern weil Gott ihn durch Christus reich gemacht hat. Darum ist auch unser Vers mit dem Wörtchen „denn“ in die Geldpredigt ein­gebunden: „Denn ihr wisset die Gnade unsers Herrn Jesus Christus, dass, ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euret­willen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.“ Was Christus getan hat, wird hier als Grund unsers christ­lichen Handelns angegeben. Dabei wird uns Christus zugleich zum Vorbild: Wie er freiwillig auf Reichtum ver­zichtete, um Arme reich zu machen, so sollen auch wir als seine Nachfolger handeln, und zwar auch auf materieller Ebene. Im Philipper­brief hat Paulus das ganz klar aus­gedrückt: „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war, welcher…“ – und dann folgt mit anderen Worten eine Be­schreibung, wie Christus auf seinen göttlichen Reichtum verzichtete und um unsret­willen arm wurde (Phil. 2,5).

Das Fazit daraus zu ziehen dürfte uns nicht schwer fallen. Stellt euch noch einmal den Menschen aus einem armen Land vor, von dem ich zu Anfang sprach. Und nun bedenkt, dass es Milliarden solcher Menschen gibt, im Vergleich zu denen wir in märchen­haftem Reichtum leben. Wie werden nun Leute handeln, die in ihrer geistlichen Armut von Christus un­verdienter­maßen reich gemacht wurden? Was bedeutet es angesichts dieser Menschen, nach dem Vorbild Christi zu handeln, der um unsrer selbst­verschul­deten Armut willen auf Reichtum ver­zichtete? Es bedeutet sicher nicht, auf den eigenen materiellen Besitz stolz zu sein, weil man ihn sich angeblich selbst sauer erarbeitet hat. Es bedeutet auch nicht, die Armen dieser Welt mit ihren Problemen allein zu lassen, weil sie die angeblich selber verschuldet haben. Es bedeutet vielmehr, vom Reichtum abzugeben, wirklich zu opfern, fröhlich zu opfern. Für die meisten von uns ist es wahr­scheinlich kein wirkliches Opfer, einen Geldschein in die Kollekte für „Brot für die Welt“ zu werfen. Schon eher wäre es Opfer, monatlich einen festen Betrag oder einen festen Prozentsatz aller Einkünfte den Armen zur Verfügung zu stellen. In Amerika lernte ich Menschen kennen, die einen Fastentag in der Woche einhalten und dafür ein Siebtel ihres Lebens­mittel­geldes den Hungernden spenden. Sicher muss man das nicht so machen, aber ich halte es für eine gut überlegte Art des Opferns. Paulus selbst hat im 1. Ko­rinther­brief vor­geschlagen, man solle ein Jahr lang jeden Sonntag etwas für Jerusalem beiseite legen, damit bei der Abrechnung der Kollekte nicht nur die spärlichen Reste, die dann jeder gerade zusammen­kratzen kann, ein­gesammelt werden. Aber der Phantasie der Liebe sind keine Grenzen gesetzt. Leitmotiv ist in jedem Fall weder Angeberei mit der eigenen Groß­zügigkeit noch Gewissens­beruhigung, sondern einzig und allein dies: „Ihr wisset die Gnade unsers Herrn Jesus Christus, dass, ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euret­willen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1983.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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