Protokoll eines Wunders und was dahinter steckt

Predigt über Lukas 7,11‑16 zum 16. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Martin Luther hat gesagt: „Die Schrift ist ein Kräutlein; je mehr du es reibst, desto mehr duftet es.“ Das kann man auch am heutigen Predigttext erleben. Doch ich greife vorweg. Während ich in der Predigt­vorbereitung das Kräutlein dieser Geschichte schon kräftig gerieben habe, habt ihr den Text gerade erst gehört. Ihr habt das Kräutlein gewissermaßen eben erst am Wegesrand wahr­genommen, und so betrachtet scheint es nichts anderes zu sein als das Protokoll eines Wunders – eines von vielen. Lasst es uns nun aber gemeinsam reiben und sehen, welche Duftnuancen es entwickelt!

Wir beginnen mit dem un­geriebenen Kräutlein, „pflücken“ es gewisser­maßen erst einmal, denn der eine Blick an den Wegesrand, die einmalige Text­verlesung ist allzu flüchtig. Wir haben es hier in der Tat zunächst mit einem einfachen Bericht zu tun, eben mit dem Protokoll eines Wunders. Lukas hat ohne jeden Kommentar be­schrieben, was geschehen war. Das ist nun allerdings so un­gewöhnlich, dass es schon für sich selbst interessant ist; heutzutage wäre es schlag­zeilen­reif: Am Stadttor von Nain treffen zwei Pro­zessionen auf­einander. Die eine Prozession bewegt sich aus der Stadt heraus, die andere auf die Stadt zu. Die erste Prozession ist ein Trauerzug. An der Spitze trägt man die Bahre, auf der die Leiche eines jungen Mannes liegt. Weinend folgt die Mutter, gestützt und umgeben von Mit­bewohnern der Stadt Nain; sie begleiten sie auf diesem schweren Gang. In dem anderen Zug ist Jesus die Haupt­person. Seine Jünger sind bei ihm, dazu viele Menschen aus Galiläa und von weiter her. Sie freuen sich, dass sie mit ihrem Herrn und Meister Jesus mitziehen dürfen, und warten gespannt auf große Dinge, die er sagen oder tun wird. Jetzt trifft Jesus mit der Totenbahre zusammen. Er fasst sie an; beide Pro­zessionen bleiben stehen. Jesus überblickt die Situation und tröstet die Mutter: „Weine nicht!“ Und dann sagt er zu dem Toten: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ Der junge Mann schlägt die Augen auf, richtet sich auf, sagt irgend­etwas. Alle sind Zeugen – alle sehen und hören, was niemand für möglich gehalten hätte: Der Tote lebt, Jesus hat ihn auferweckt. Der junge Mann steht von der Bahre auf; Jesus führt ihn zu seiner Mutter. Das Volk ist entsetzt bei dieser ge­spensti­schen Szene. Aber dann siegt die Freude über das Entsetzen: Lobgesänge werden angestimmt, Dankgebete werden gesprochen. Und, kaum ist das Wunder geschehen, beginnt man über Jesus zu reden und zu speku­lieren: „Ein großer Prophet ist unter uns auf­gestanden“, und: „Gott hat sein Volk heim­gesucht.“

Wenn wir das Kräutlein dieses Berichts nun zu reiben beginnen, merken wir zunächst einmal, dass hinter dem Bericht ein Schicksal steht. Wenn die Sache heute passiert wäre, dann würden sich die Tages­zeitungen auf den Bericht als solchen stürzen, bestimmte Illustrierte aber würden den Schwerpunkt auf das damit zusammen­hängende Schicksal legen. Gibt es für eine Mutter ein schwereres Schicksal, als ihren einzigen Sohn als letzten Angehörigen zu Grabe tragen zu müssen? Ihren Mann hatte sie schon vorher verloren; sie ist eine Witwe, berichtet Lukas. Es gibt auch heute noch Beispiele dafür, wie sehr Witwen an ihren bereits erwachsenen Söhnen hängen, wenn sie sonst niemanden mehr haben. Manche dieser Söhne wagen es dann nicht, den Haushalt zu verlassen und ein eigen­ständiges Leben zu führen – aus Angst, es könnte der Mutter das Herz brechen. Damals kam zu dieser engen inneren Bindung noch die wirtschaft­liche Abhängig­keit. Es gab ja keine Renten- und Lebens­versiche­rungen. Wenn eine alte Frau nicht mehr arbeits­fähig war und keine Angehörigen mehr hatte, dann blieb ihr nichts anderes übrig, als zu betteln. All diese Sorgen und Schmerzen werden die Frau belastet haben, als sie mit ihrem Trauerzug Jesus begegnete.

Wenn wir unseren Blick nun auf Jesus richten, dann wird er uns angesichts dieses Schicksals zum Vorbild. Bericht und Schicksal hatten uns noch un­beteiligte Zuschauer sein lassen, aber mit dem Blick auf Jesus erkennen wir eine Verhaltens­weise, die wir uns selbst aneignen können. Jesus überblickt die Lage, und er bekommt Mitleid mit der Frau. Lukas schreibt: „Als der Herr sie sah, jammerte sie ihn.“ Ich weiß nicht, wie ihr reagiert, wenn ihr auf der Straße einen be­mitleidens­werten Menschen seht. Ich selbst muss ein­gestehen, dass ich mich dann meistens sehr hilflos fühle und mir einrede, dass ich wohl nichts für ihn tun kann. Jesus aber unterdrückt sein Mitleid nicht, sondern es treibt ihn zum Handeln. Er wendet sich zunächst an diejenige, die seine Hilfe am meisten nötig hat, also an die trauernde Mutter. Er tröstet sie mit den Worten: „Weine nicht!“ Er zeigt uns damit, dass bei einer Beerdigung nicht der Tote die Hauptperson ist, sondern der Angehörige, der tief erschüttert wurde und Trost braucht. Eine kirchliche Beerdigung ist deshalb ein Dienst des Trostes und der Ver­kündi­gung an Lebenden, nicht ein Dienst für den Toten. Dagegen kann man zuweilen beobachten, dass die Trauergäste mit ihren teuren Kränzen und Gestecken ziemlich hilflos herum­stehen. Man hat den Eindruck: Irgendwie wollen sie dem Ver­storbenen noch etwas Gutes tun, und irgendwie wollen sie natürlich auch den Angehörigen zeigen, dass sie da sind und mittrauern. Von Jesus können wir lernen, dass ein paar Worte ehrlich empfundenen Trostes und die Bereit­schaft, ein Stück Trauer­arbeit mit­zuleisten, mehr wert sind als die gold­geprägte Kranz­schleife und das perfekt sitzende schwarze Kleid.

Nun wäre Jesus aber nicht Jesus, sondern nur irgendein heiliger Mensch, und seine Worte „Weine nicht!“ wären gar nicht so ungeheuer tröstlich, wenn mit der Fest­stellung seines Vorbilds diese Geschichte bereits aus­geschöpft und der Duft des Kräutleins verflogen wäre. Man kann aber sagen: Nun geht sie erst richtig los! Jesus sagte ja nicht: „Weine nicht, du wirst schon über den Schmerz hinweg­kommen!“, sonder er sagte aus dem Grund „Weine nicht!“, weil er im nächsten Moment der Trauer dieser Frau jede Grundlage entzog. Er weckte den jungen Mann vom Tode auf, er brachte ihn zurück ins Leben. Das kann nur Jesus. Bericht, Schicksal und Vorbild müssen hinter dem großen Wunder verblassen, das ja dann auch gehöriges Aufsehen erregte. Man war von Jesus vieles gewohnt, Kranken­heilungen zum Beispiel und Speisungs­wunder. Aber dass durch sein Wort und Anrühren Tote auf­erstehen, das hatte noch niemand erlebt. Richtiges Entsetzen packte da das Volk. Nun spürte man, dass Gott hier seine Hand im Spiel hatte. Man raunte sich zu: „Es ist ein großer Prophet unter uns auf­gestanden“, und: „Gott hat sein Volk heim­gesucht.“ Es ist gut, wenn auch wir über dieses Wunder staunen können wie die Menschen damals. Hoffentlich sind wir durch das häufige Hören solcher Wunder‑ und Auf­erweckungs­geschichten sowie durch den großen zeitlichen Abstand nicht schon so ab­gestumpft, dass wir das Wundern verlernt haben. Unerhörtes ist hier geschehen! Das ist ja keine Geschichte aus dem Märchen­buch, sondern ein Tatsachen­bericht, für den sich Menschen verbürgt haben und bis in den eigenen Tod hinein Zeugen geworden sind. Es darf also auch uns etwas von dem Entsetzen packen, von dem heiligen Schauer, der die un­mittel­baren Zeugen damals blitzartig traf. Ein Toter richtet sich auf und redet! Jesus hat ihn auferweckt! Und er gibt ihn seiner Mutter.

Falsch wäre es jedoch, wenn wir beim Wundern stehen­bleiben würden. Wir hätten dann lediglich dieses unbestimmte Gefühl von Großartig­keit in der Magen­gegend, und das Wunder würde in die Nähe einer Zirkus­attraktion rücken – mit dem einzigen Unter­schied, dass es irgendwie mit Gott zu tun hat. An dem Punkt war das Volk damals stehen­geblieben, denn die Menschen dachten: So eine Art Prophet muss das sein; irgendwie wirkt Gott durch ihn. Beides ist keineswegs falsch. Aber wir können heute mehr von Jesus wissen, als dass er ein Prophet war und in göttlicher Kraft kam. Wir wissen, dass er Gottes ein­geborener Sohn ist und dass er selbst den Tod erlitten sowie auch überwunden hat, damit durch ihn alle Welt Vergebung der Sünden und ewiges Leben finde. Dieses Wunder ist also nur ein kleiner Vor­geschmack dessen, was Jesus auf Erden bewirken wollte. Er zeigte den Augenzeugen und denen, die von der Sache erfuhren, dass er der Herr über Leben und Tod ist. Deshalb nennt das Neue Testament solche Begeben­heiten häufiger „Zeichen“ als „Wunder“. Erst wenn wir die Geschichte als Zeichen erkennen, spüren etwas von dem wahrhaft himmlischen Duft dieses Kräutleins. Ein Zeichen ist mehr als ein Wunder: Es ist nicht in erster Linie eine erstaun­liche Sensation, sondern so etwas wie ein Zeiger oder Hinweis­pfeil, der auf die Person Jesu hindeutet und auf das Heil, das er uns und aller Welt bringt. Wenn wir noch einmal die einzelnen Stufen der Betrachtung durchgehen – Bericht, Schicksal, Vorbild, Wunder und Zeichen – , dann spitzt sie sich zu wie ein Pfeils und deutet auf die Hauptperson und auf die Haupt­botschaft, die wir mitnehmen können: Jesus ist Herr über Tod und Leben, und er setzt diese seine Macht zum Trost und zur Freude für die Menschen ein.

Zum Zeichen gehört, dass Jesus sein wunderbares Handeln mit Gesten und Worten begleitete. Er rührte die Bahre für alle sichtbar an. Und dann sagte er, für alle vernehmbar: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ Was für ein absurder Befehl! Welcher Tote könnte schon solchem Befehl gehorchen? Warum hat Jesus das also gesagt? Er hätte doch auch ohne Gesten und Worte dieses Wunder vollbringen können. Aber er tut es eben deshalb, weil dieses Wunder ein Zeichen ist. Er zeigt damit nämlich: Mein Wort macht lebendig; mein Wort ist göttliches Schöpfer­wort. Wie Gott einst noch nicht vorhandenen Dingen befahl: „Es werde!“, und es wurde, so rief Jesus durch sein Wort das Tote zurück ins Leben.

Dasselbe Wunder geschieht noch heute. Jesus ruft uns durch sein Wort ins geistliche Leben, zum Glauben, zur Buße. Und es geschieht – nicht, weil wir seinem Befehl von uns aus gehorchen könnten, sondern weil sein Wort durch den Geist in uns dieses Wunder wirkt. Dieses Wunder rettet uns heute vom Tode, ebenso wie es einst den Jüngling rettete, und schenkt uns Leben – sogar ewiges Leben. Vielleicht denkt mancher in seinem Herzen enttäuscht: Heute tut Jesus ja nicht mehr solche Wunder; unsere Kranken erfahren keine Wunder­heilungen, und unsere Ver­storbenen bleiben tot. Aber es geschieht noch Größeres unter uns – wenn es auch Zeichen sind, die wir nur mit den Augen des Glaubens erkennen können: Menschen werden wieder­geboren zum ewigen Leben, Menschen leben von der durch Jesus geschenkten Sünden­vergebung, Menschen sterben in der Hoffnung der Auf­erstehung. Du selbst darfst das Wunder von Nain erleben, und noch Größeres, am eigenen Leibe: Wenn dir Jesus durch den Pfarrer die Hände zur Vergebung auflegt, dann ist es so, als wenn Jesus deine Totenbahre anrührt, auf der du in Sünden tot liegst. Und wenn Jesus durch den Pfarrer zu dir spricht: „Dir sind deine Sünden vergeben“, dann ist das so, wie wenn Jesus dich durch sein mächtiges Schöpfer­wort zu neuem Leben erweckt. „Wenn er spricht, so geschieht's; wenn er gebietet, so steht's da“ (Psalm 33,9). Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1983.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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