Die Himmelsleiter steht noch heute

Predigt über 1. Mose 28,10‑19 zum 14. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn die Geschichte mit der Himmels­leiter nicht so bekannt wäre, würden wir uns über diesen merk­würdigen Traum Jakobs ganz schön wundern. Zum einen sind wir es ja nicht gewohnt, dass Gott in Träumen erscheint. Wir träumen meist allerlei merkwürdige oder auch banale Dinge kunterbunt durchein­ander, aber zu kaum einem von uns redet Gott auf diese Weise. Zum andern können wir in der Bibel nur hier an dieser Stelle von einer Leiter oder Treppe lesen, die vom Erdboden, vom schlafenden Jakob aus, bis in den Himmel reicht. Ein nicht enden wollender Strom von Engeln steigt herab und hinauf, und oben steht Gott persönlich und redet. Sonst berichtet die Bibel, dass Engel fliegen oder einfach so erscheinen; nur hier bedienen sie sich einer Leiter.

Auch Jakob wunderte sich sehr über diesen Traum. Als er am Abend zuvor im Freien sein müdes Haupt auf einem harten Stein zur Ruhe gelegt hatte, wird er darin sicher nicht besonders erbauliche oder fromme Gedanken gehabt haben; er war ganz und gar nicht auf eine Gottes­erscheinung ein­gestellt. Zu Hause hatte es vorher einen Familien­krach gegeben, an dem Jakob selbst eine gehörige Portion Mitschuld trug. Auf Anraten seiner Mutter Rebekka hatte er sich nämlich durch einen gemeinen Betrug den Segen seines Vaters Isaak er­schlichen, den eigentlich sein älterer Bruder Esau bekommen sollte. Weil Esau nun auf Rache sann und Jakob umbringen wollte, war dieser geflohen. Eine weite Reise zu seinen Verwandten in Haran lag vor Jakob, wo er ein neues Zuhause zu finden hoffte. So werden Jakobs Gedanken an diesem Abend von einem schlechten Gewissen bestimmt gewesen sein, von der Trauer über das Zerwürfnis mit seinem Vater und seinem Bruder, von der Einsamkeit sowie auch von der Angst vor einer gefähr­lichen Reise und einer ungewissen Zukunft. Der Gott seiner Väter schien ihm ferner denn je. Der er­schlichene Segen Gottes, so schien es, hatte ihm nur Unglück gebracht.

Da sieht Jakob auf einmal im Traum diese merkwürdige Himmels­leiter. Oben steht eine Gestalt, die sich als Gott der Herr zu erkennen gibt – der Gott seiner Väter Abraham und Isaak, von dem man Jakob viele wunderbare Dinge erzählt hat, mit dem er selbst aber noch nie in Berührung gekommen ist. Dieser Gott ist nun aber keineswegs böse auf Jakob und verflucht ihn nicht wegen seiner Sünde, sondern er­staunlicher­weise segnet er ihn. Gott bekennt sich zu seinen Segens­verheißun­gen, die er Abraham und dessen Nachkommen zu­gesprochen hat und die über Isaak auf Jakob über­gegangen sind. Wenn es auch ein er­schlichener Segen ist, steht Gott dennoch dazu und bekräftigt ihn. Gott kann auf krummen Linien gerade schreiben; er kann bewirken, dass trotz mensch­licher Sünde (oder auch gerade durch sie) sein Heilsplan sich entfaltet. Er sagt zu Jakob: „Das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst aus­gebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Ge­schlechter auf Erden gesegnet werden.“ Das sind die großen, zukunfts­weisenden Ver­heißungen, die Gott bereits Abraham und Isaak gegeben hatte: Die Verheißung des Landes, die Verheißung des großen Volkes und die Verheißung des Segens für alle Völker. Sie sind an keine Bedingungen geknüpft; es sind einfach große Ver­sprechen, die allein in Gottes Liebe ihren Grund haben, nicht im Gehorsam der be­treffenden Menschen. Bedingte Ver­sprechen, die vom Gesetzes-Geborsam abhängen, hat Gott erst viel später gegeben, nämlich durch Mose am Berg Sinai. Hier, auf der Himmels­leiter, sagt Gott sogar zu einem hinter­listigen Betrüger wie Jakob ja – um des Ver­sprechens an die Vorväter und seiner Liebe willen.

Zu diesen großen drei Zukunfts­verheißungen – Land, Volk und Segen für alle Völker – kommt nun noch eine persönliche Verheißung an Jakob: „Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land.“ Der große Gott, der große Pläne für die Zukunft hat, lässt auch den kleinen Jakob in seiner gegen­wärtigen trostlosen Lage nicht im Stich. Er will ihm auf seinem Weg beistehen und alles zum Besten wenden. Wenn sich Jakob auch noch so verlassen vorkommt, so ist Gott doch bei ihm; die Himmels­leiter ist ein Zeichen dafür. Sie ist die Verbindung zwischen dem so fern scheinenden Gott und dem armseligen Menschen Jakob. Engel bringen das Wort und den Segen des lebendigen Gottes zu ihm herab und nehmen seine Sehnsüchte, Wünsche und Gebete zu Gott hinauf. Die Leiter sagt: Himmel und Erde, Menschen­alltag und Gottes weit­reichende Pläne sind nicht un­überbrück­bar getrennt, sondern Gott schenkt eine nicht abreißende Verbindung dazwischen. Jakob braucht sich nun nie mehr verlassen zu fühlen, denn was er einmal in dieser Nacht sieht, ist eine Wirklich­keit, die ihn unsichtbar sein ganzes Leben lang begleitet: „Ich bin mit dir“, sagt Gott durch die Leiter.

Als Jakob erwacht, wird ihm erst recht bewusst, was eigentlich geschehen ist. Noch nach­träglich kommt ihn Furcht an über die Begegnung mit dem lebendigen Gott – an einer Stelle und in einer Situation, wo er es nie für möglich gehalten hätte. Darum sagt Jakob: „Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! … Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels!“ Natürlich weiß Jakob um die All­gegenwart Gottes, besonders nach diesem Traum. Das Besondere an diesem Fleck Erde aber ist, dass der sonst verborgene Gott sich ihm hier gezeigt und mit ihm geredet hat. Der Himmel hat hier eine Loch bekommen, eine Tür und eine Pforte, und Jakob darf Gott in seiner ganzen liebevollen Erscheinung begegnen. Deshalb richtet Jakob hier ein Stein­denkmal auf und weiht es ein – sich und seinen Nachkommen zur Erinnerung an diesen denk­würdigen Traum. Die in der Nähe liegende Stadt Lus aber nennt er bei sich Bethel, „Haus Gottes“ – ein Name, den sie für später, für die Zeit der Erfüllung von Gottes Ver­heißungen, behält.

Liebe Brüder und Schwestern, was fangen wir nun mit dieser einzig­artigen Himmels­leiter an? Wir haben mehr mit ihr zu tun, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn der Segen, den Jakob in seinem Traum zu­gesprochen bekam, ist kein Privatsegen Gottes an ihn, sondern ein Erbsegen für viele Gene­rationen. Das wird an Gottes Anrede deutlich: Gott stellte sich als der Gott Abrahams und Isaaks vor, die er in gleicher Weise gesegnet hatte. Der Erbsegen wird aber auch an den Segens­verheißun­gen selbst deutlich: Das große Volk, das Jakob als Nach­kommen­schaft verheißen wurde, wird selbst Segens­träger sein. Und über dieses Gottesvolk Israel werden Jakob und seine Vorväter dann zum Segen für viele Völker kommender Gene­rationen. Da kommt Jesus Christus ins Bild. Jesus ist mensch­licherseits ein Nachkomme Ahrahams, Isaaks und Jakobs, ein Sohn des Volkes Israel. Durch seine Geburt, sein Predigen, sein Wirken, vor allem aber durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen ist Gottes Segen über die ganze Mensehheit offenbar geworden. Somit ist der Himmels­leiter-Segen bis hin zu unserer Generation gültig. Unser Leben hängt ja von Christus ab, sogar unser ewiges Leben. An Christus haben wir die Gewissheit, dass Gott auch uns trotz mancher Schwierig­keiten nicht im Stich lässt, sondern dass er uns mit seiner Gnade beisteht. Und so sind wir im geistlichen Sinne Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs; und auf diesem Wege dann auch Erben der Segens­verheißun­gen, die Gott ihnen einst gab.

So lernen wir von dieser Geschichte, dass die Himmels­leiter als Zeichen von Gottes Segen noch heute steht. Wir sehen sie zwar nicht im Traum wie Jakob, aber Gottes Wort stellt sie uns heute und immer wieder vor Augen. Ist das nicht eine ganz tröstliche und wunderbare Sache? Du magst dich zuweilen fühlen wie Jakob. Vielleicht hast du dich mit anderen Menschen überworfen wie Jakob – mit Menschen, die du eigentlich liebst. Vielleicht drückt dich wie ihn das schlechte Gewissen, und du erkennst, dass du egoistisch und hinter­listig gehandelt hast. Vielleicht nimmt dich Angst gefangen, so wie Jakob, als er von den Mordplänen seines Bruders erfuhr. Vielleicht bist du einsam wie Jakob auf seiner Wander­schaft. Wie auch immer du dich fühlst: Denke an die Himmels­leiter. Gott ist nicht fern, sondern er steht in enger Gemein­schaft mit dir, das zeigen die auf‑ und ab­steigenden Engel. Mehr noch, Gott selbst ist in Jesus die Leiter herab­gestiegen zu uns Menschen, und wieder hinauf. Der Heilige Geist hält die Verbindung bis heute aufrecht. Er kommt immer wieder mit Gottes Wort und Sakrament zu uns herab; er steigt immer wieder mit unseren Gebeten zu Gott hinauf. Himmel und Erde sind nicht un­überbrück­bar entfernt, sondern im Leben eines jeden von uns befindet sich die unterste Sprosse einer Himmels­leiter, die uns mit Gott verbindet.

Der himmlische Vater sagt uns heute seinen Segen zu – wie damals Jakob; noch heute spricht er vom großen Zukunftssegen. Während Gott seinen Segen für das Volk Israel auf Erden bereits erfüllt hat, steht seine himmlische Erfüllung für uns noch aus. Das himmlische Kanaan wartet auf uns, wo wir in ewiger Freude leben werden. Sind wir hier auf Erden als Christen auch ein kleines Häuflein (so kommt es uns jedenfalls manchmal vor), werden wir dort mit den Engeln und mit allen Heiligen zu der unzählbar großen Schar des neuen Gottes­volkes gehören.

Und wenn dir diese Worte und Ver­heißungen Gottes zu groß sind, als dass du sie recht fassen kannst, dann höre auch, dass Gott dir heute, in deiner jetzigen all­täglichen Situation, Segen zuspricht. Christus versprach ja, alle Tage bis an der Welt Ende bei uns zu sein und dafür zu sorgen, dass uns alle Dinge – wirklich alle! – zum Besten dienen. Wie Jakob können wir uns zusprechen lassen: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich ins Land Kanaan bringen. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“

Die Himmels­leiter steht noch heute; es gibt sie unser ganzes Leben lang – auch wenn wir nichts davon sehen. Und doch gibt es auch heute noch Orte, wo wir sie mit Glaubens­augen besonders gut erkennen können. Überall da, wo Gottes Wort gepredigt und gehört wird, kann man die Himmels­leiter sehen – da, wo gepredigt wird, dass Gott durch seinen ein­geborenen Sohn den Menschen im Heiligen Geist ganz nahe ist. Und da, wo Christus heute noch die Leiter hera­bsteigt, um mit seinem Leib und Blut im Abendmahl gegenwärtig zu sein. Und da, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind und er mitten unter ihnen ist. Und da, wo ein Mensch die Bibel liest und betet. Überall da, wo das geschieht, ist die Himmels­leiter erkennbar; überall da ist auch heute noch Gottes Haus, denn da macht der all­gegenwärti­ge Gott seine gnädige Gemein­schaft mit uns erfahrbar. Das kann manchmal an Orten sein, wo wir es nicht meinen, wie es bei Jakob der Fall war. Aber auch in unserem Kirch­gebäude ist so ein Bethel. Ja, hier können wir mit Glaubens­augen die Himmels­leiter schauen, die noch heute steht, und ausrufen: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels!“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1983.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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