Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig

Predigt über Lukas 7,36‑50 zum 11. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Der Pharisäer Simon muss ein gewisses Interesse an Jesus gehabt haben und auch ein gewisses Wohlwollen, sonst hätte er ihn nicht zu einem Festessen eingeladen. So schnell lud man damals niemanden zum Essen ein. Nach römischer Sitte, die gerade modern war, nahm die Gesell­schaft das Festmahl im Liegen auf Polstern ein. Mitten in die tafelnde Männerrunde platzte nun die stadt­bekannte Sünderin hinein – wahr­schein­lich eine Prosti­tuierte. Sie hatte gehört, dass Jesus hier zu finden ist, und war nun von dem Wunsch beseelt, diesem Jesus Gutes zu tun. Sie wollte ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebte und verehrte. Sie hatte wohl erfahren, dass dieser Jesus sich um die Außenseiter kümmerte, mit denen sonst kein anständiger Mensch etwas zu tun haben wollte. Und sie wusste auch, dass dieser Jesus mit göttlicher Vollmacht Sünden vergibt – sogar Zöllnern und Huren. So trat sie nun an das Fußende der Liege, auf der Jesus lag, und wollte ihm als Zeichen ihrer Verehrung die Füße salben. Zu diesem Zweck hatte sie ein Glasgefäß voll kostbarer Salbe mit­gebracht. Aber da musste sie weinen – vor Reue über ihr sündhaftes Leben und vor Scham, weil sie als Sünderin nun ganz nahe bei dem heiligen, sündlosen Herrn ist. Ihre Tränen fielen auf Jesu Füße. Mit ihren langen Haaren trocknete sie sie wieder und begann dann mit der Salbung. Der Pharisäer dachte bei sich: Jesus ist zwar fremd in unserer Stadt und kennt sie nicht; aber wenn er wirklich ein Prophet wäre, dann müsste er doch erkennen, was das für eine Frau ist. Da zeigte Jesus in dem folgenden Gespräch, dass er die Menschen tatsächlich durch­schaute – nicht nur die Sünderin, sondern auch den Pharisäer. Was Jesus zu sagen hatte, kleidete er zunächst in das Gleichnis von den beiden Schuldnern. Beide können ihre Darlehen nicht zurück­zahlen, und beide bekommen sie erlassen – der eine fünfzig Silber­groschen, der andere fünf­hundert. Jeder wird nun dem zustimmen, was der Pharisäer auf Jesu Frage hin antwortete: Derjenige, dem der größere Betrag erlassen wurde, der wird sich mehr freuen und seinem Gläubiger dankbarer sein als der andere. Darauf erklärte Jesus den Sinn dieser Geschichte: Der Schuldner mit der großen Summe gleicht der Sünderin, die weiß, dass große Schuld auf ihr liegt und dass Jesus ihr viel zu vergeben hat. Der Schuldner mit der geringen Summe aber gleicht dem Pharisäer, der sich für einen anständigen und frommen Menschen hält. Ihm würde auf Anhieb wahr­schein­lich kaum etwas einfallen, was ihm Gott oder Jesus zu vergeben hätte. Ab­schließend stellte Jesus fest: Das Maß der vergebenen Sünden bestimmt das Maß der Liebe. Der Pharisäer hatte Jesus nicht einmal die bei orien­talischen Gastgebern üblichen Liebens­würdig­keiten wie die Fußwaschung und den Begrüßungs­kuss erwiesen; das ist so, wie wenn bei uns ein Gastgeber seinem Gast nicht den Mantel abnehmen und nicht die Hand geben würde. Die Sünderin aber hatte auf ihre Weise tiefe Liebe und Ehr­erbietung erwiesen.

Der Sinn der ganzen Geschichte ist in dem einem Satz Jesu zusammen­gefasst: „Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Die Umkehrung gilt ebenso: Wem viel vergeben wird, der liebt viel. Dieser Satz erweist sich am Kontrast zwischen dem Schuldner mit den fünfzig Silber­groschen und dem mit den fünfhundert Silber­groschen, ebenso am Kontrast zwischen der Sünderin und dem Pharisäer. (Übrigens ist es besonders der Evangelist Lukas, der uns Gleichnisse und Geschichten Jesu mit diesem Kontrast überliefert hat: Denken wir zum Beispiel an den Kontrast zwischen dem verlorenen Sohn und seinem braven Bruder; oder denken wir an den Kontrast zwischen dem selbst­gerechten Pharisäer und dem sünden­bewussten Zöllner im Tempel.)

Weil wir in der Bibel immer wieder auf diesen Kontrast aufmerksam gemacht werden – viele vergebene Sünden, viel Liebe; wenig vergebene Sünden, wenig Liebe – , kommen wir nicht umhin zu fragen, auf welcher Seite wir selbst denn stehen. Wenn der heutige Predigttext für uns nicht nur eine unter­haltsame Geschichte sein, sondern uns Gottes Botschaft vermitteln soll, dann dürfen wir der Frage nicht ausweichen: Ist uns selbst denn nun viel oder wenig vergeben? Und: Lieben wir viel oder wenig? Ich unterbreche jetzt die Predigt für eine Minute, damit jeder für sich über diese Frage nachdenken kann.

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Nun erwartet ihr hoffentlich nicht von mir, dass ich eine allgemein­gültige Antwort gebe. Ich möchte jetzt eigentlich nur einige Hinweise geben, um dieser Frage weiter nachzugehen und um vielleicht auch die Antwort, die der eine oder andere für sich gefunden hat, noch einmal zu überdenken.

Wie sieht es also bei uns mit den Sünden aus? Ist uns viel oder wenig vergeben? Ich kenne viele Christen, die müssten dem äußerlichen Anschein nach antworten: „Wenig.“ Sie sind in eine christliche Familie hinein­geboren und mit einer engen Verbindung zur Kirche auf­gewachsen. Die Zehn Gebote sind ihnen vertraut, und ein ent­sprechendes Verhalten ist ihnen anerzogen worden. So kommen grobe Sünden in unsern Kreisen kaum vor. Keiner von uns hat wohl je einen Menschen ermordet, eine Bank ausgeraubt oder Prosti­tution betrieben. Auch mit den Staats­gesetzen wird wohl kaum einer ernsthaft in Konflikt geraten sein. Einige meinen nun, dass dieses im Großen und Ganzen anständige Verhalten von Gott honoriert werden muss. Sicher, Sünder sind wir alle und müssen von der Gnade Gottes leben; aber im Leben solcher Menschen sehen die Sünden nur wie kleine Schönheits­fehler aus. Diese Menschen würden wohl von sich sagen, dass ihnen wenig vergeben ist. Allzuoft bestätigt sich bei diesen in die Kirche und in ein anständiges Leben gewisser­maßen hinein­geborenen Menschen der Satz: „Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Ihre Verbindung zu Gott ist mehr von einem gewissen Pflicht­gefühl geprägt als von brennender Liebe: die Pflicht, den Gottes­dienst zu besuchen; die Sitte des Tisch­gebetes und der Kirchen­beitrag als erwartetes Scherflein. Bei Menschen, die erst im Laufe ihres Lebens zum Glauben gekommen sind, kann man das oft anders erleben. Sie haben vielfach ein sünden­volles Leben hinter sich mit Ver­schwendungs­sucht oder Ehebruch, teilweise sogar mit Krimi­nalität und Drogen. Wenn sie einmal die Vergebung Christi geschmeckt haben, dann dienen sie ihrem Herrn mit großer Hingabe. Sie kommen gern zum Gottes­dienst; und wenn sie beten, dann tun sie es nicht, weil es mal wieder fällig ist, sondern weil sie das Bedürfnis haben, mit ihrem Herrn zu reden. Auch sprechen sie viel offener und fröhlicher über ihren Gott.

Heißt das nun für uns, die wir von Kindheit an Christen sind: Es ist unser Schicksal, mit wenig vergebenen Sünden und wenig Liebe zu leben? Nein! Denn wenn wir es uns nur recht vor Augen führen, müssten wir erkennen: Auch uns ist eigentlich viel vergeben. Vor Gott gelten ja andere Maßstäbe als bei uns. Bei ihm ist einer, der seinen Segensgaben gegenüber gleich­gültig ist, aber sonst ein anständiges Leben führt, nicht besser als ein Mörder, ein Räuber oder eine Prosti­tuierte. Und bei ihm ist es die schlimmste Sünde, sich auf seine eigene Kraft und seinen eigenen Verstand oder auf andere Menschen mehr zu verlassen als auf ihn. Wie oft sind wir – ja auch wir, die wir nach außen hin so anständig scheinen! – an dieser Sünde schuldig geworden? Aber Gott hat sie uns vergeben. Ja, Gott hat uns viel vergehen. Wenn wir das erkennen, sollten wir dann nicht auch viel lieben?

Wie machen wir das aber: Gott viel lieben? Die Liebe ist zunächst natürlich eine Einstellung des Herzens. Aber aus der Heiligen Schrift lernen wir, dass das nicht alles ist. Liebe zeigt sich immer auch in Taten, wenn sie es ehrlich und ernst meint. Jemand, der sagt, er liebe Gott, aber Gott die meiste Zeit seines Lebens einen guten Mann sein lässt, der ist ein Heuchler.

Wie sich Liebe im Verhalten ausdrücken kann, lehrt das Beispiel der Sünderin in unserer Geschichte. Sie hat Jesus auf ihre Weise gezeigt, wie sehr sie ihn liebte und verehrte. Sie hat seine Füße mit Tränen genetzt, sie mit ihren Haaren getrocknet und dann mit kostbarer Salbe gesalbt. Auf ihre Weise – das heißt: wie es ihrem Wesen entsprach. Sie hat Jesus mit Körper­sprache gesagt, dass sie ihn liebt. Viele Worte lagen ihr nicht (in der ganzen Geschichte sagt sie kein einziges Wort), aber mit ihrem Körper konnte sie sich ausdrücken. Es mag uns befremden, aber auch das müssen wir in dieser Geschichte zur Kenntnis nehmen: Die Frau zeigte Jesus körperlich – mit Tränen, Haaren und zärtlicher Salbung – , wie gern sie ihn hatte. Wir müssen uns von der Vorstellung frei machen, dass Körperlich­keit und Körper­kontakt irgendwie unmoralisch und sündhaft sind. Nur das Motiv beziehungs­weise das böse Herz bringt den Körper zum Sündigen. Wenn aber wie hier unter Reuetränen der Glaube an Jesus so sichtbar zum Ausdruck kommt, wird aus dem Körper, der bisher der Hurerei gedient hat, ein Tempel des Heiligen Geistes. Der Leib und die Zärtlich­keit dieser Frau stehen nun nicht mehr im Dienst der Sünde, sondern im Dienst der Liebe zu Jesus.

Etwas Ent­sprechendes können wir übrigens auch am Zoll­einnehmer Zachäus erkennen. Er war allerdings kein Mann der Körper­sprache, sondern ein Mann des Geldes. Aber er hat auf dieser Ebene ebenfalls seine Reue und seinen Glauben zum Ausdruck gebracht: Er zahlte auf Heller und Pfennig alles unfair Erworbene zurück und beschenkte die Armen reichlich. Ebensowenig wie Körperlich­keit ist das Geld an sich schmutzig. Wenn Zachäus das Geld auch vorher zu schmutzigen Geschäften missbraucht hatte, so drückte er doch nun, wo Jesus in sein Leben getreten war, mit ihm die Liebe zu ihm aus.

Wenn wir unserer­seits Jesus mit Taten lieben wollen, dann sollten wir uns fragen, wie wir denn Liebe ausdrücken können und welche natürlichen Gaben wir von Gott empfangen haben. Diese Gaben sollen wir dann freudig in den Dienst an ihm und an seiner Kirche stellen – aus Liebe zu ihm. Wer eine schöne Stimme hat, der kann für ihn singen und reden. Wer gut mit Kindern umgehen kann, der kann im Kinder­gottesdienst von ihm erzählen. Wer hand­werkliches Geschick hat, der kann sich an Kirche und Gemeinde­haus betätigen. Wer kontakt­freudig ist, der kann Außen­stehende einladen. Wer künstle­risch begabt ist, der kann sich bei der Aus­schmückung der Kirche und bei der Schau­kasten­gestaltung betätigen. Wer ein Instrument spielt, der kann dies zur Ehre Gottes im Gottes­dienst einbringen. Diese Liste könnte noch viel länger werden. Da sind die fleißigen Beter, die treuen Helfer, die freund­lichen Gastgeber, die fach­kundigen Berater, die großzügigen Spender…

Ich bin gewiss: Keinem von uns wird es an Gelegen­heiten mangeln, seine Liebe zu Christus in der Kirche und anderswo aus­zudrücken und auszuleben. Wenn wir nun erkannt haben, dass er uns viel vergeben hat, was hindert uns daran, es auch reichlich zu tun? Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1983.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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