Die unverdiente Erlösung

Predigt über Jesaja 43,1 zum 6. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Habt ihr euch schon einmal in die Lage eines zum Tode Ver­urteilten versetzt, der in der Gefängnis­zelle auf seine Hinrichtung wartet? Habt ihr vielleicht schon einmal Filme gesehen, in denen diese Situation beklemmend realistisch dargestellt wird? Wohl kaum eine Angst ist größer als diese Angst vor dem un­ausweich­lich nahen Tod. Und wohl kaum ein Warten ist so zermürbend wie das Warten auf die eigene Hin­richtung. Versetzen wir uns mal in die Lage eines solchen Todes­kandidaten. Und stellen wir uns dann vor, da käme jemand, schlösse unsere Zellentür auf und riefe uns fröhlich entgegen: „Du bist frei! Du kannst gehen, wohin du willst! Die Hinrichtung findet nicht statt.“ Lieber Christ, genau das ist deine Situation. Mit deiner Sünden­schuld hast du den Tod verdient; nach Gottes Gesetz bist du ein Todes­kandidat in der Zelle. Denn wer sich gegen den All­mächtigen auflehnt in Gedanken, Worten und Werken, der hat sein Recht auf Leben verwirkt. Du sitzt gleichsam in der Todeszelle und musst auf die Voll­streckung von Gottes Urteil warten. Aber da kommt Gottes Sohn Jesus Christus, dreht den Schlüssel im Schloss der Zellentür herum, macht sie weit auf und sagt: „Fürchte dich nicht! Ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen! Du bist mein!“ Diese vier kleinen Sätze geleiten uns in die Freiheit, wie sie auch schon vor Christi Kommen Gottes aus­erwähltes Volk des alten Bundes in die Freiheit geleitet haben, nämlich im Vorausblick auf den kommenden Erlöser. Die Zellentür steht offen, und diese vier kleinen Sätze schenken dir das Leben neu.

Der erste Satz lautet: „Fürchte dich nicht!“ Die Furcht ist das be­herrschende Gefühl in der Todeszelle gewesen. Nun haben wir im all­täglichen Leben ja viele Möglich­keiten, der Furcht aus­zuweichen – viel mehr Möglich­keiten, als ein Todes­kandidat sie in seiner Zelle hat. Aber jeder, der ehrlich mit sich selbst ist, weiß, dass die Angst da tief in seinem Inneren einen Stammplatz hat. Und wenn die Zer­streungen von Arbeit und Freizeit wegfallen, wenn wir uns mal wirklich nur mit unserem Innenleben be­schäftigen, dann können wir es schon mit der Angst zu tun bekommen: Im Herzen eines Sünders sieht es nicht gut aus. Der Begriff „sich fürchten“ gibt das treffend wieder: Man fürchtet sich selbst, man kriegt Angst vor sich selbst, wenn einem bewusst wird, wie es in den Untiefen des Herzens aussieht.

Aber nun ist Christus in unser Leben getreten, und aller Grund zur Furcht ist aufgehoben. „Fürchtet euch nicht!“, so hat der Auf­erstandene seine Jünger mehrfach begrüßt, und schon vorher hat er ihnen verheißen: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Joh. 16,33). Gott selbst spricht zu uns mit diesem Wort, und sein Wort hat die Kraft, unsere Furcht zu vertreiben. Dieses Wort führt uns zugleich heraus aus der be­ängstigen­den Be­schäftigung mit uns selbst und mit den Untiefen unseres Herzens, denn die Einsamkeit der Todeszelle hat nun ein Ende: Ein Gegenüber ist da; einer, der uns ruft, der uns seine Gemein­schaft schenkt. Und deswegen geht es in den folgenden drei kleinen Sätzen auch nicht mehr um uns und unsere Furcht, sondern es geht um unseren Erlöser, der in unser Leben getreten ist, um unser Gefängnis auf­zu­schließen.

Der zweite Satz lautet: „Ich habe dich erlöst.“ Jesus konnte es deshalb tun, weil er den Schlüssel zur Gefängnistür hat. In der Offenbarung des Johannes spricht er: „Ich habe die Schlüssel des Todes und der Hölle“ (Offb. 1,18). Nun war das Erlösungs­werk freilich in Wirklich­keit nicht so einfach wie das Auf­schließen einer Zellentür. Für „erlöst“ können wir auch „los­gekauft“ sagen, und dann merken wir, dass unsere Erlösung nicht mit einer leichten Drehung aus dem Handgelenk erledigt war, sondern dass sie den Gottessohn teuer zu stehen kam. Jesus Christus hat uns losgekauft, er hat unsere ganze Schuld bezahlt. Er hat uns losgekauft – aber nicht mit einem kleinen Scheck von seinem übervollen Bankkonto, auch „nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem un­schuldigen, bitteren Leiden und Sterben“, wie Luther es in seiner Erklärung zum zweiten Glaubens­artikel formu­lierte. Und das alles nur, um uns todes­würdige Verbrecher vor der Voll­streckung des Urteils zu bewahren. „Ich habe dich erlöst“ – ein kleiner Satz, hinter dem ein un­ermesslich großes Opfer steht, das Opfer am Kreuz von Golgatha. Und zugleich ein kleiner Satz mit einer un­ermesslich großen Wirkung: Nicht einem Verbrecher, nicht einem abtrünnigen Volk, sondern der ganzen gefallenen und im Tode gefangenen Menschheit steht die Tür zum Leben offen! Alles ist bezahlt, alle sind losgekauft und frei.

Ja, die Gittertüren stehen offen – aber noch sitzen die Gefangenen in ihren Zellen und können nicht fassen, was geschehen ist. Da ruft sie der Gottessohn beim Namen, heraus­zukommen und wieder ins Lebenzu treten.

So lautet der dritte Satz: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ Das ist in der Taufe geschehen. Daran wollen wir heute besonders denken, denn der heutige sechste Sonntag nach Trinitatis ist dem Tauf­gedächtnis gewidmet. Es gab früher die Sitte, und vereinzelt gibt es sie noch heute, dass der Pfarrer bei einer Taufe die Eltern fragt: „Welchen Namen hat das Kind?“ Dann nennt der Vater den Namen, und dann redet der Pfarrer das Kind namentlich an und tauft es. Wir wissen: Bei einer Taufe redet und handelt der Pfarrer nicht aus sich selbst heraus, sondern er handelt im Namen und Auftrag des Herrn Jesus Christus. So wird in dieser alten Taufsitte deutlich, dass der Herr Jesus Christus da einen Menschen beim Namen ruft und ihn durch Wasser und Wort zu Gottes Kind macht. Heute erinnert er uns Getaufte erneut daran mit diesem herrlichen kleinen Satz: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ Aber wozu ist nun die Taufe eigentlich gut, wo doch unsere Erlösung bereits am Kreuz von Golgatha erworben wurde? Der Satz „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“ beantwortet diese Frage: Zwar ist die Erlösung schon lange geschehen, aber in der Taufe tut Jesus namentlich und aus­drücklich kund, dass sie für dich geschehen ist. Die Zellentüren des Gefäng­nisses stehen alle weit offen, aber bei deiner Taufe stand Jesus vor deiner offenen Zellentür, hat dich bei deinem Namen gerufen und dir gesagt: „Du bist gemeint. Du bist frei. Für dich habe ich die Tür aufgemacht. Du brauchst nicht zu sterben.“ Um unsert­willen ruft er uns aus­drücklich mit Namen. Jesus hat nicht eine anonyme Masse von Menschen erlöst, sondern Menschen, die er einzeln mit Namen kennt, um die er sich einzeln sorgt und kümmert. Wenn ich in der Predigt allgemein sage: „Jesus hat die Menschen erlöst“, dann rinnt dieser Satz so im Fluss der Worte dahin und wird wahr­scheinlich gar nicht besonders wahr­genommen. Wenn ich aber sage: „Jesus hat dich erlöst“, und dann jeden einzelnen mit Namen aufrufe, dann würde jeder, dessen Name da genannt wird, aufhorchen. Siehst du, deshalb hat Jesus dich bei deinem Namen gerufen. Deshalb hat er dir seine Erlösung persönlich in der Taufe zugeeignet, obwohl er sie doch schon lange zuvor am Kreuz erworben hat.

Wir tun gut daran, auf diesen Ruf zu achten und uns an unsere Taufe zu erinnern. Leider gibt es viele Menschen, die trotz Taufe, trotz der per­sönlichen Anrede Jesu nicht aus ihrer Todeszelle heraus­kommen wollen. Jesus hat sie erlöst, ihre Zellentür steht sperrangel­weit offen. Jesus hat sie in der Taufe mit Namen gerufen, ihnen persönlich sein Heil zugeeignet. Trotzdem verlassen sie ihr Gefängnis nicht, sind un­entschlos­sen oder sogar ablehnend ihrem Erlöser gegenüber. Ob das wohl an dem vierten kleinen Satz liegt, den Jesus sagt?

Der vierte Satz lautet: „Du bist mein!“ Deutlicher gesagt: „Mir gehörst du!“ Ja, soll das etwa die Freiheit sein? Das hört sich ja so an, als wollte Jesus uns zu seinem Sklaven machen! Wir sollen ihm gehören, sein Eigentum sein! Ja, genauso ist es auch: Jesus möchte der Herr sein, wir sollen sein Eigentum sein, und das passt vielen Menschen am Christentum nicht. Selbst manche Christen haben mit dieser Vorstellung Schwierig­keiten. Jesus als Freund, Jesus als all­gegenwärti­ger Kummer­kasten, Jesus als Nothelfer, Jesus als Erfolgs­bringer – das lassen sich viele gern gefallen. Aber Jesus als Herr, und wir als sein Eigentum, wie Sklaven? Wie sollen wir ihn da noch lieben? Wie sollen wir denn da noch Vertrauen zu ihm haben? Was soll denn das für eine Freiheit sein, in die wir nun treten können?

Aber es ist Freiheit. Es mag paradox klingen, aber die größte Freiheit, die es gibt, ist diejenige, ein Sklave Jesu Christi zu sein. Einer, der ihm ganz und gar mit Haut und Haaren gehören, mit seinem ganzen Leben. Das liegt daran, dass wir als Gottes Geschöpfe zur Gemein­schaft mit ihm und zu seiner Ehre geschaffen sind. Wir erfüllen unseren Lebenssinn, wenn wir ent­sprechend dieser Bestimmung leben. Wenn wir uns so verhalten, wie es Gottes Geboten entspricht. Wenn wir das tun, was ihn ehrt und was ihm Freude macht. Wenn wir liebevoll und wahrhaftig leben, voller Gott­vertrauen. Wir verhalten uns dann so, wie es sich für Menschen gehört, die zu Gottes Haushalt gehören. Freiheit heißt, so zu leben, wie wir von Gott gemeint sind. Dass nur der selbst­bestimmte Mensch frei ist, der das Leben nach seinen eigenen Regeln und Wünschen gestaltet, ist ein weit ver­breiteter Irrtum der Neuzeit. Er hat darin seine Ursache, dass der Mensch in der Gefängnis­zelle den falschen Blickwinkel hat: Seine Freiheit sind die paar Quadrat­meter der Zelle, und der Rest der Welt liegt hinter Gittern. In Wirklich­keit aber ist es umgekehrt: Jesus steht in der Freiheit und ruft uns aus unserer Gefangen­schaft zu sich. Da, bei ihm, in seiner Nähe, als sein Eigentum, da ist die Freiheit, da ist das Leben.

Lassen wir uns also nicht den Blick verfäl­schen! Jesus hat unsere Todeszelle aufgetan und sagt: „Fürchte dich nicht! Ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen! Du bist mein!“ Folgen wir seinem Ruf, gehen wir hinaus in die Freiheit, dienen wir ihm, und finden wir so die Erfüllung unseres Lebens. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1983.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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