Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Manche Leute scheinen hoffnungslose Fälle für Gottes Reich zu sein. Da ist der obdachlose Alkoholiker in der Fußgängerzone: Du kannst ihn ermahnen und ihm Hilfe für ein neues Leben anbieten – für ein Geldstück wird er dir geduldig zuhören, aber mit dem nächsten Rausch ist alles vergessen. Oder da ist der aggressive Jugendliche, der bei Demonstrationen mit Steinen nach Polizisten wirft. Für Gottes gute Nachricht wird er nur Spott übrig haben. Oder da ist der rücksichtslose Geschäftsmann, der nie genug kriegen kann. Er fragt nicht nach Fairness und Legalität, für ihn zählen allein Geld und Luxus. Ja, hoffnungslose Fälle scheinen sie zu sein – vielleicht hast auch du schon einmal so über bestimmte Menschen gedacht. Das Zeugnis von Christus ist bei ihnen in den Wind geredet und erntet nur Spott.
Von so einem hoffnungslosen Fall handelt die bekannte Geschichte des Zachäus. Zachäus gehört zur dritten Gruppe der hoffnungslosen Fälle, also zur Gruppe der rücksichtslosen Geschäftsleute. Er war ein Zollpächter im jüdischen Grenzort Jericho. Die Römer kümmerten sich in der jüdischen Provinz nicht selbst um Warenzölle, sondern sie vergaben gegen eine feste jährliche Flatrate Zoll-Lizenzen an Juden. Die Zollpächter oder „Oberzöllner“, die dann meistens mehrere Zolleinnehmer für sich arbeiten ließen, brauchten nur rücksichtslos hohe Zölle festzusetzen, um einen hohen Anteil für sich einbehalten zu können. Zachäus hatte es auf diese Weise zu großem Reichtum gebracht. Seinem Namen Zachäus (das bedeutet „Gerechter“) machte er in den Augen seiner jüdischen Volksgenossen allerdings überhaupt keine Ehre – wie gesagt, er galt als hoffnungsloser Fall. Man war sich einig: Ein Mensch, der so rücksichtslos die eigenen Landsleute ausbeutet, kann unmöglich Gottes Wohlgefallen finden. Außerdem lebte er in ständiger Unreinheit, weil er immer mit Heiden zu tun hatte. Und dann arbeitete er auch noch für die verhasste Besatzungsmacht der Römer.
Zachäus wusste, dass man so über ihn dachte. Darum versuchte er, so wenig wie möglich bei seinen Mitbürgern anzuecken. So auch an dem Tag, als es hieß: Jesus kommt nach Jericho! Er muss gleich da sein! Eben hat er am Stadttor einen Blinden geheilt! Zachäus wollte diesen Jesus gern mal sehen – diesen Mann, von dem man so viele unglaubliche Geschichten erzählte. Zachäus war neugierig – aber nicht nur er allein, sondern auch die anderen Bewohner Jerichos. Als er aus seinem Haus trat, säumte bereits eine große Menschenmenge die Straße. Zachäus war klein und konnte nicht über die Köpfe hinwegsehen, selbst auf Zehenspitzen nicht. Durchdrängeln wollte er sich auch nicht, das hätte nur Ärger gegeben. So lief er ein Stück voraus und kletterte auf einen Maulbeerfeigenbaum. Weil dieser Baum weit ausladende Zweige und dichtes Laub hatte, war er dort in der Lage, alles unbemerkt zu beobachten. Niemand konnte ihn beschimpfen oder ihm feindselige Blicke zuwerfen – ihm, dem hoffnungslosen Fall.
Wenn wir Zachäus nun aber schon so bezeichnen, weil er offensichtlich als kleiner großer Sünder dasteht, dann müssen wir auch feststellen: Es gab noch mehr hoffnungslose Fälle in Jericho. Sie stiegen nicht auf Bäume und versteckten sich, sondern sie standen auf der Straße, und zwar in der ersten Reihe. Niemand hätte es gewagt, sie offen hoffnungslose Fälle zu nennen; auch hielten sie sich selbst für gerecht und fromm. Und doch: In Gottes Augen standen sie nicht besser da als Zachäus. Auch sie hatte die Neugier auf die Straße getrieben, damit sie diesen Wunder-Jesus sähen. Und auch sie beuteten ihre Mitmenschen aus und verunreinigten sich: Sie versündigten sich, indem sie ihren Volksgenossen viel Liebe schuldig blieben und hochmütig waren. Für die Pharisäer unter ihnen galt nur der erhobene Zeigefinger etwas und die Buchstabengesetzlichkeit. Am strengen Maßstab der Bergpredigt gemessen waren sie genauso hoffnungslose Fälle wie Zachäus. Wie hatte Jesus in der Bergpredigt gesagt? „Es sei denn eure Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Matth. 5,20). Keiner der Menschen von Jericho stand vor Gott besser da als Zachäus; sie alle waren hoffnungslos, was ihr Bestreben anlangte, vor Gott gerecht zu sein. Wohl denen unter ihnen, die das wenigstens einsahen und Hilfe von Gott erhofften.
Lieber Christ, auch du tust gut daran, dich als hoffnungslosen Fall einzuschätzen, wenn es darum geht, ob du gut genug für das Himmelreich bist. Auch du tust gut daran einzusehen, dass du im Grunde deines Herzens ein Zachäus bist: Ein Mensch, der den Armen dieser Welt vieles vorenthält. Ein Mensch, der seinen Mitmenschen viel Liebe schuldig bleibt. Ein Mensch, der Gott viel Ehre schuldig bleibt – mit gedankenlos geplapperten Vaterunsers oder mit sehr knapp oder gar nicht gehaltenen täglichen Andachten. Ein Mensch, der schon so lange Christ ist und immer noch so wenig Glaubenserkenntnis hat. Ein Mensch, der den offensichtlichen hoffnungslosen Fällen lieber aus dem Weg geht. Ja, wenn du allein auf das siehst, was du bist und wie du lebst, kannst du dich eigentlich nur vor Gott und den Mitmenschen verstecken – wie Zachäus im Maulbeerfeigenbaum.
Aber nun geht die Geschichte in Jericho erst richtig los: Nun kommt Jesus. Jesus ist für die hoffnungslosen Fälle da. Seine Devise lautet: „Der Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Das sollen nun alle erfahren – alle, die da in Jericho stehen und gaffen, und ebenso alle, die diese schöne Geschichte hören oder lesen. Und so geht Jesus schnurstracks auf den einen hoffnungslosen Fall zu, der allgemein als solcher anerkannt ist: auf den ausbeuterischen Zollpächter Zachäus, der da im Geäst sitzt und eben noch ein unbemerkter Zaungast war. Er steht nun plötzlich im Mittelpunkt des Geschehens. Jesus blickt hinauf zu ihm, und hunderte von Augenpaaren folgen seinen Blicken. Jesus blickt Zachäus an, gütig und liebevoll – so, wie er den reichen Jüngling angeblickt hat und Petrus nach der dreimaligen Verleugnung. Unter diesen Blicken wird ein hoffnungsloser Fall zu einem von Gott geliebten Menschen. Was mit diesen Blicken beginnt, das ist kein Menschenwerk und keine Selbstgerechtigkeit, sondern das ist das Werk der Liebe Gottes, die in Jesus Fleisch wurde.
Und was geschieht dann? Jesus sagt zu Zachäus: „Steig eilend hernieder; denn ich muss heute in deinem Hause einkehren.“ Mit diesem Wort öffnet Jesus zwei Türen. Die eine Tür ist die Haustür des Zachäus. Schnell steigt der Oberzöllner vom Baum, führt Jesus zu seinem Haus und lädt ihn ein. Er fühlt sich glücklich und geehrt durch diesen besonderen Gast. Frau Zachäus kocht ein gutes Essen, Und die Zachäus-Kinder begrüßen den ehrenwerten Rabbi. Man isst, man sitzt zusammen, man redet. Auch draußen vor der Tür wird geredet, aber nichts Gutes: „Bei einem Sünder ist er eingekehrt“, tuschelt man. Ausgerechnet mit diesem hoffnungslosen Fall gibt sich Jesus ab! Manche angesehenen Bürger hatten gehofft, Jesus würde ihnen die Ehre geben. Die Armen! Sie wissen nicht, dass sie genauso hoffnungslose Fälle sind und Jesu Besuch genauso wenig verdient haben. Jesus aber sitzt bei Zachäus, um allen zeigen: Hier gehöre ich hin! Sicher wird er dem Zachäus gesagt haben, dass Gott ihm seine Sünden vergibt. Und damit hat er nach der Haustür die zweite Tür geöffnet: Die Herzenstür des Zachäus. Zachäus ist überwältigt von der Liebe seines Gastes und von der Liebe Gottes. Darum legt er ein Versprechen ab: „Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wieder.“ Zachäus ist bereit wiedergutzumachen, so gut er kann. Er ist bereit, zu lieben und zu opfern, wo es oftmals am meisten schmerzt: am Geldbeutel. Er ist bereit, sich zu bessern, und zeigt dies öffentlich an. Ja, Jesus hat ihm nicht nur die Haustür, sondern auch die Herzenstür geöffnet, um zu ihm zu kommen und ihn, den hoffnungslosen Fall, für Gott zurückzugewinnen. Ganz besonders als leiblicher Nachkomme Abrahams ist Zachäus ja ein Mitglied von Gottes auserwähltem Volk. Der Segen, den Jesus in das Haus und in das Herz von Zachäus bringt, strahlt sogleich aus auf Frau Zachäus und die Kinder. So kann Jesus sagen: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn.“
Nur weil Jesus sich der hoffnungslosen Fälle annimmt, sitzen wir heute hier. Nur weil Jesus hoffnungslose Sünder wie dich und mich sucht, haben wir ein Chance. Es ist sogar weit mehr als nur eine Chance, was Jesus uns bietet: Er will uns beschenken, er will uns verändern, und darum lädt er sich bei uns ein, wie er sich bei Zachäus eingeladen hat: „Ich muss heute in deinem Hause einkehren.“ Ihn wieder auszuladen, das wäre eine tödliche Beleidigung – wirklich tödlich, denn ohne diesen Jesus gehen wir hoffnungslos zugrunde. Jesus lädt sich bei uns ein – welche Türen öffnen sich ihm bei uns? Die Haustür hat sich sicher schon längst geöffnet: Die Bibel ist in unserer Wohnung vorhanden. An den Wänden hängen fromme Bilder und Sprüche. Beim Mittagessen wird gebetet, und sonntags wird zur Kirche gegangen. Ja, die Haustür steht Jesus offen; äußerlich ist er ganz unbestritten unser Gast. Und ich hoffe, wir sind ebenso frohe Gastgeber wie Zachäus, der „eilend“ herniederstieg und Jesus „mit Freuden“ aufnahm. Wie aber steht es mit unserer Herzenstür? Findet da die Liebe Gottes Einlass? Leben wir aus der Vergebung unserer Sünden? Sind wir aus Freude über die Vergebung bereit, die Hälfte unseres Lebens wegzuschenken, wenn Jesus das möchte? Sind wir bereit, unsere Sünden so offen einzugestehen und wiedergutzumachen, wie Zachäus es tat? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen: An unserer Herzenstür muss Jesus immer wieder klopfen und rütteln, denn wir machen sie immer wieder zu. Wie schnell geschieht es, dass wir Jesu Liebe nicht herein‑ und die Nächstenliebe nicht herauslassen! Ja, an dieser Tür muss täglich gearbeitet werden, „in täglicher Reue und Buße“, wie es im Kleinen Katechismus heißt. Lass nur Jesus an deiner Herzenstür arbeiten! Er klopft und rüttelt – auch mit dieser Geschichte und mit dieser Predigt.
Welche Früchte der Buße könnten sich dann bei uns einstellen? Die Liebe wird dich schon lehren, was du zu tun hast. Aber eine Anregung möchte ich doch weitergeben. Zu Anfang sprach ich von den sogenannten hoffnungslosen Fällen unserer Zeit. Wir haben gesehen, dass diese Bezeichnung durch menschliche Überheblichkeit zustande kommt. Vor Gottes Gesetz sind alle Menschen hoffnungslose Fälle, aber vor Jesu Liebe gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Darum sieh die scheinbar hoffnungslosen Fälle unserer Zeit mit den Augen Jesu an! Sieh sie mit Liebe an – dann werden sich schon die rechten Glaubensfrüchte bei dir einstellen – so wie damals bei Zachäus. Amen.
PREDIGTKASTEN |